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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


Aber Amanda war leichtfüßig die Stufen hinan und in’s Haus gesprungen. Scybylski folgte ihr eilig, um sie zurückzuhalten, allein ebenso rasch sprang sie in des Vaters Schlafzimmer.

Man hatte einen Tisch mit Schreibgeräth, Actenbündeln und großen Büchern bedeckt und an das Bett des Kranken gerückt. Der Gerichtsrath und Kreisrichter saßen an diesem Tisch. Günther hatte sich in den Kissen emporgerichtet und war eben im Begriff, einen beschriebenen und untersiegelten Bogen zu unterzeichnen. Offenbar setzte Amanda’s Ankunft die Anwesenden in große Verlegenheit.

„Ich störe,“ sagte Jene. „Nur eine Frage, wie Dir’s geht, und einen Händedruck, lieber Vater, dann eil’ ich wieder fort.“

„Thue das, mein Kind!“ sagte Günther. „Ich fühle mich wohl und habe noch wichtige Geschäfte zu besprechen. Geh doch auf eine halbe Stunde zu Reinhold’s Mutter!“

„Wie Du befiehlst, Vater,“ erwiderte sie und empfahl sich.

Reinhold war nach einer Filiale gefahren, seine Mutter also allein zu Hause. Die kalte Höflichkeit, mit welcher Amanda empfangen wurde, war diese längst gewohnt. Auch sie zwang sich umsonst zu wärmerem Gefühl für die Mutter ihres Bräutigams, und oft konnte sie bei aller Ehrerbietung nicht widerstehen, den Spitzen der stolzen Frau auch ihrerseits leise Ironie entgegenzusetzen.

Anfangs floß das Gespräch ruhig dahin. Als aber Frau Reinhold mit vornehmer Herablassung ihr Bedauern ausdrückte, noch keine Zeit zum Besuch des kranken Rendanten gefunden zu haben, schilderte Amanda mit absichtlicher Lebendigkeit die allgemeine Theilnahme, deren sie sich zu erfreuen hätten.

Fürst und Fürstin, viele benachbarte Gutsherren, der Bürgermeister und die angesehensten Bürger der Stadt hätten den Vater wiederholt besucht. Die Herren vom Gericht machten kein Hehl daraus, wie schwer sie ihren Rendanten vermissen. Diesen Nachmittag erst hätten sie sich in seiner eignen Stube zu einer ohne Zweifel wichtigen Sitzung eingefunden. Das Mädchen schilderte mit breitem Behagen die geheimnißvolle Zusammenkunft, welche nun schon stundenlang dauere und selbst von der Tochter nicht unterbrochen werden dürfe. In kindischer Eitelkeit that sie sich darauf etwas zu Gute, der aufhorchenden Greisin zu erzählen, wie sie den Vater bei der Unterschrift eines dickbogigen Documents betroffen hätte.

„Das muß ohne Zweifel ein wichtiges Document gewesen sein,“ sagte die alte Dame. „Und der Vater hieß Dich wieder gehen?“ Sie versank in Nachdenken.

Amanda benutzte die Pause, sich zu empfehlen.

„Du sollst nicht allein Grund zum Stolz haben!“ dachte Amanda auf dem Wege nach Hause. „Die geheime Session hat gewirkt!“

Den Vater traf sie allein und in ungewöhnlich weicher Stimmung. Er hielt beide Hände seines Kindes und küßte sie.

„Vergieb mir, Amanda,“ sagte er leise.

„Ich Dir vergeben? Seit ich denke, hast Du ja nur Gutes an mir gethan.“

„Auch die Eltern haben ihren Kindern Manches abzubitten!“

„Was ist Dir, Vater? Du weinst?“

„Ich bin ein schwacher, alter Mann. Sind meine Haare in den letzten Tagen nicht völlig grau geworden?“

„Herzliebster Vater, rede nicht so! Du ängstigst mich. Fühlst Du Dich nicht wohl?“

Der Rendant athmete tief auf und nickte mit dem Kopf. „Unaussprechlich wohl.“

Nach einer Weile nahm er wieder des Mädchens Hand.

„Amanda! versprich mir etwas!“

„Alles, was Du willst!“

„Wenn ich sterben sollte, setze mir ein einfaches Kreuz auf mein Grab. Keinen Stein! keine prahlerische Inschrift! Nur ein Kreuz mit meinem schlichten Namen!“

Unaufhaltsam rollten jetzt die Thränen über Amanda’s Wangen. „Sprich nicht von Deinem Grab!“ rief sie. „Du wirst gesund werden und noch lange mein guter, lieber Vater bleiben!“

„Du hast Recht, mein Kind. Ich darf Gott nicht versuchen. Ich will Dich nicht verlassen! … So, und jetzt richte mir die Kissen in die Höhe. Ich bin müde und will endlich einmal wieder schlafen.“


5


Die Mutter Reinhold’s konnte heute keinen Schlummer finden. Die Erzählung Amanda’s von der geheimnisvollen Berathung beim Rendanten hatte eine peinliche Begierde in ihr erweckt, diesen Schleier zu lüften. Von Natur mißtrauisch machte sie sich tausend Gedanken über den dunkeln Fall. Sie kannte des Rendanten Geschäftskreis und mußte gar wohl, daß seine Thätigkeit nicht von solchem Umfang, von so ernster Wichtigkeit war, daß seine Person und Hülfe nicht entbehrt werden könnte. Ihn selber also, seine Privatverhältnisse mußte diese geheime Sitzung berühren. War’s ein Testament, was er unterschrieb? … Der karge Schlaf, welchen sie endlich fand, kühlte ihre Neugierde nicht. Sie war am Morgen fest entschlossen, hinter das Geheimniß zu kommen, denn eine dunkle Ahnung ließ sie hoffen, das eitle Mädchen bitter enttäuschen zu können. Sie rief sich Amanda’s Erzählung in’s Gedächtniß und sann darüber nach, von welchem der Betheiligten sie die Lösung des Räthsels erlangen könnte.

„Scybylski muß mir Aufklärung schaffen,“ sagte sie zuletzt. „Ein gutmüthiger Mensch, weich wie Wachs, schwach und arglos wie ein Kind. Auch hat er allen Grund, der Rendantenfamilie zu grollen, denn die ganze Stadt erzählt sich, daß er von der hochfahrenden Jungfer einen Korb erhielt!“

Frau Reinhold frühstückte allein. Es war Sonntag, und der Pastor bereitete sich zur Predigt vor. Als das Geläut der Glocken begann, hüllte sie sich in ihren Pelzmantel und trat an’s Fenster. Sie blickte hinab auf die festlich gekleideten Kirchgänger. Amanda ging vorüber und grüßte freundlich herauf. „Wie geputzt sie wieder ist!“ murrte Frau Reinhold. Jetzt schritt der Gerichtsrath vorbei. „Sucht der auch einmal den Weg zur Kirche? Vergangene Weihnachten war er zum letzten Male in der Predigt. Dem Herrn ist wohl ein Unglück passirt? Noth lehrt beten, selbst die Herrn Juristen! Dort kommt Scybylski geschlichen!“ Sie eilte rasch in’s Freie hinab. „Guten Morgen, Herr Scybylski!“

Der Actuarius fuhr beim Gruß der Frau Superintendentin scheu zusammen und erwiderte ihn verlegen.

„Der hat etwas auf dem Herzen!“ dachte sie. „Werden Sie uns nach der Predigt nicht besuchen? Sie machen sich so selten! Mein Sohn fragte gestern nach Ihnen. Vielleicht hat er Ihnen etwas mitzutheilen. Also pochen Sie bei uns an!“

Frau Reinhold hatte noch niemals so viel Worte an den Actuarius verschwendet. Aber der Letztere achtete heute darauf nicht.

„Ich werde von Ihrer Erlaubniß Gebrauch machen.“

„Ich rechne darauf!“ sagte die Frau Superintendentin mit gnädigem Kopfnicken und rauschte am Schreiber vorbei. „Meinen Sohn werd’ ich fern zu halten wissen,“ dachte sie. „Vielleicht, daß ich doch ein Fädchen finde, woran sich ein Plan gegen Theodor’s heillose Liebschaft knüpfen läßt.“

Ihr Sohn aber stand hoch auf der Kanzel, leuchtenden Auges, und predigte christliche Liebe und Milde. „Wer sich frei fühlt von Schuld, der werfe den ersten Stein auf sie!“

Die Stirn der Superintendentin blieb bei dem gewichtigen Wort glatt und glänzend wie Alabaster. Sie fühlte keinen Stachel. Sie war ja die Schuldlose! Ihren Eltern war sie gehorsam, ihrem Gatten treu, ihrem Sohn eine gute Mutter gewesen. Sie arbeitet und betet; an jedem Sonnabend empfangen die Armen der Gemeinde Almosen aus ihrer Hand. Keine Leidenschaft kennt sie, als den Stolz auf die Weihe ihrer Familie, und das ist ein gerechter, heiliger Stolz! Und wenn Christus mit liebeseligem Antlitz zwischen ihr und einer Verbrecherin stünde, sie würde den Arm gegen diese erheben und sagen: „Ich darf es, Herr; still ist mein Gewissen und stark meine Hand!“

Anders waren die Gedanken Scybylski’s. Die Wissenschaft von der Schuld dessen, den er vor allen Menschen hoch hielt, lastete auf seinem Gemüth, wie der Schatten nachbarlicher Felsen einen Seespiegel verdüstert. Alle mildernden Umstände, welche Veruntreuung begleiten können, rief er sich in’s Gedächtniß. Er versetzte sich in die Lage eines bedrängten Vaters, eines Vaters, der Amanda zur Tochter hat. Mit fiebernder Phantasie drängte er den besseren Glauben an sich als verblendete Eitelkeit zurück und überredete sich, daß er in ähnlicher Lage ähnlich handeln würde.

Und doch hatte Er das erste Schuldig gesprochen, den Stein gegen den Verbrecher erhoben! Der Widerspruch der verzeihenden Liebe mit den nothwendigen Gesetzen des Lebens, schneidender als je, zerriß sein Herz. Verbannt schien ihm jede Versöhnung aus der Wirklichkeit, und als die Gemeinde den Gottesdienst mit Gesang für einen Verstorbenen schloß, bewegten ihn die Anfangsworte „Nur im Grab ist Frieden“ zu Thränen. Er wünschte sich diesen ersten und letzten Frieden.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_020.jpg&oldid=- (Version vom 4.4.2018)