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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Ein Beamtenleben.

Von Dr. J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)


„Höre mir zu, Adalbert,“ sagte die Directorin. „Du hast Recht, Du mußt wissen, was ich gethan habe, nur ich muß es Dir mittheilen. Aber nicht, um mich besser zu machen, als ich bin. Ich will nicht Dein Mitleid erregen. Was weiter geschehen muß, weiß ich. Ich will aber auch in Deinen Augen nicht schlechter sein, als ich bin. So höre. Wir haben noch Schulden, Du weißt es, wie ich. Gott ist mein Zeuge, nur Du weißt es ebenfalls, daß ich redlich gearbeitet, daß ich gespart habe, wo ich konnte, daß ich selbst entbehrt habe, wie Alle, auch Du, um aus der alten Schuldenlast herauszukommen, um nicht in neue hineinzugerathen. Wir konnten es dennoch nicht erreichen. Es war einmal ein Unglück, was Verhältnisse und Widrigkeiten über uns gebracht hatten. Wir hatten freilich in Deiner Beförderung zum Präsidenten die Aussicht, es von uns abzuschütteln. Unter den Schulden sind auch Haushaltungsschulden. Namentlich war die Forderung des Fleischers auf nahe an hundert Thaler angewachsen. Er hatte mich schon mehrmals gemahnt. Ich hatte ihn zu vertrösten gewußt. Er hatte von Neuem geborgt. Vor drei Wocken brachte er mir wieder die Rechnung, er verlangte auf der Stelle sein Geld und erklärte, mir von nun an gar nichts mehr borgen zu wollen, bis er vollständig befriedigt sei. Er wollte nicht länger warten, sich nicht länger zum Narren halten lassen und drohete, den sämmtlichen Fleischern der Stadt und Umgegend mitzutheilen, daß er von uns sein Geld nicht bekommen könne, er wollte sie auffordern, daß sie uns gleichfalls nichts mehr borgten. Noch den nämlichen Tag wollte er seine gerichtliche Klage gegen Dich einlegen: er ist ein roher, heftiger, zäher Mensch. Ich hatte kein Geld, um ihn zu befriedigen, und meine Bitten, noch einmal zu warten, nur noch drei Wochen, bis zu dem Tage der nächsten Gehaltszahlung, waren vergeblich. Er setzte mir eine Stunde Frist, und ich wußte Niemanden, von dem ich das Geld erhalten könne. Du warst gerade unwohl, Du hattest schon eine Zeit lang gekränkelt; ich hatte ein Nervenfieber befürchtet, und der Arzt, dem ich meine Befürchtung mittheilte, hatte mit bedenklichem Gesichte mir anempfohlen, Dich besonders vor jeder Aufregung zu bewahren. So konnte ich auch Dir nichts sagen, und unsere Ehre stand auf dem Spiele, unsere Existenz, Deine Ehre, Deine Zukunft.

„Gerate damals war der Präsidentenposten vacant geworden, der Dir jetzt übertragen ist; führte der Mann seine Drohung aus, so warst Du öffentlich in einer Weise compromittirt, daß von Deiner Beförderung nicht mehr die Rede sein konnte. Ich verlor den Kopf. Da hatte der Gerichtsbote die Postsachen hierher gebracht. Du lagst unwohl zu Bette, und ich mußte sie Dir dahin bringen. Du öffnetest und durchliefst sie, und hierauf mußte ich sie denn in Dein Arbeitszimmer zurücktragen, von wo sie später der Gerichtsdiener wieder abholen sollte. Es waren mehrere Geldbriefe darunter. Ich hatte Blicke hineingeworfen. Einer enthielt hundert Thaler in Cassenanweisungen, zugleich die Bemerkung, daß das Geld zwar erst in sechs Wochen eingezahlt werden müsse, daß es dem Absender aber bequem sei, es schon jetzt einzuschicken. Ich sah eine Rettung in meiner Noth. In drei Wochen war Gehaltzahlung, gerade morgen wird sie sein. Du warst bis dahin wieder ganz hergestellt; ich konnte Dir dann Alles mittheilen, das Geld wieder in den Brief legen. Der Fleischer hatte mich vor drei Viertelstunden verlassen und in einer Viertelstunde, in wenigen Minuten war er wieder da. Was dann? Ich war wie betäubt und nahm den Brief und das Geld zu mir. Ich fühlte nicht einmal Angst, als ich es that; ich hatte nur die eine Angst vor dem Fleischer. Als ich den rohen Menschen bezahlen konnte, fühlte ich mich leicht und von einer schrecklichen Last befreit, erst nachher kam die andere Angst, über das, was ich gethan hatte; sie kam jetzt furchtbar. Ich sah klar, Alles, wovon ich vorher keine Ahnung gehabt hatte, denn ich hatte ein Verbrechen begangen, und ein Verbrechen, das auf Dich zurückfallen mußte. Ich hatte unsere, Deine Ehre und Existenz retten wollen und hatte sie vollständig preisgegeben, der geringste Zufall konnte, mußte sie unrettbar vernichten. Ich betete zu Gott, daß er diesen Fall, die Gefahr, das Unglück abwenden möge; ich betete stündlich, unablässig. Zuletzt konnte ich es nicht mehr. Nur Du konntest die Gefahr abwenden, aber nur, wenn ich Dir mein Vergehen entdeckte. Konnte ich das? Ich mußte es! Einmal mußte ich es gewiß, und dennoch konnte ich es nicht, um Deinet- um meinetwillen nicht. Das war meine neue entsetzliche Angst; sie nahm mir von Neuem die Besinnung, den Willen. Jeden Tag wollte ich dennoch, keinen Tag konnte ich; zuletzt hatte ich es bis auf heute verschoben, auf Deinen Geburtstag. Da hoffte ich für Dich, in der Freude werde der Schlag Dich weniger hart treffen, für mich, Du werdest mir leichter Deine Verzeihung schenken. Da erbrachst Du den zweiten Brief, ich sah es Dir an, was er enthielt. Ich wollte an Deine Brust fallen und Dir Alles sagen. Da waren die Kinder dabei, da stürztest Du fort, ehe mein Entschluß klar werden konnte; ich dachte in meiner Angst, der Brief könne doch etwas Anderes enthalten; da warf sich endlich mit ihrem Jammer, mit ihrem zerrissenen Herzen die arme Emilie an meine Brust. Ich wollte nachher noch einmal zu Dir, als ich hörte, daß der Präsident gekommen sei. Aber nun war es zu spät, und meine Kraft war ganz gebrochen. – Du weißt jetzt Alles.“

Die unglückliche Frau war während ihrer Mitteilung immer klarer und ruhiger geworden. Jener Entschluß, mit dem sie begonnen hatte, war zugleich klarer und fester in ihr gereift und er hatte ihr die Kraft verliehen.

„Erzähle Du mir jetzt, Adalbert,“ fügte sie ihrer Mittheilung hinzu, „und laß uns dann mit Ruhe und Besonnenheit das Weitere überlegen.“

Den Director hatte die Klarheit und Festigkeit der Frau nicht in gleicher Weise erheben können. Ihre Erzählung hatte ihm von Neuem seine Vernichtung gezeigt. Eine unbedeutende Schuld, eine leichtsinnige That, ein einziger unglücklicher Augenblick hatte ihm auf einmal und für immer das endlich erreichte Ziel seines Strebens und Lebens wieder aus der Hand gewunden, warf ihn zurück in eine dunkle, gar schmachvolle Existenz, ihn, den Mann der Ehre, des Stolzes, des Ehrgeizes. Ihn, den völlig Unschuldigen! Konnte er der Schuldigen, der allein Schuldigen, verzeihen? Sie war seine Gattin, sein treues Weib, die Mutter seiner Kinder und hatte so lange und so viel mit ihm und für ihn und für die Kinder gearbeitet, gemüht, entbehrt, gelitten! Sie liebte ihn, er liebte sie, sie liebten sich über Alles. Aber nur wenn er einen andern Schuldigen bringen konnte, war er gerettet, blieb ihm seine Carriere, eine glänzende Zukunft. So hatte der Präsident ihm gesagt, so war es.

„Ich soll Dir erzählen?“ sagte er. „Ich kann es mit wenigen Worten. Der Absender des Geldes hatte vierzehn Tage vergeblich auf eine Quittung gewartet. Er beschwerte sich beim Obergerichte. Ich wurde heute davon benachrichtigt und untersuchte, wohin das Geld könnte gekommen sein. Ich war für mich darüber in’s Klare gekommen, als der Präsikent zu dem nämlichen Zwecke eintraf und zu einem ähnlichen Resultate gelangte, wie ich, daß das Geld hier in meinem Hause geblieben sein müsse; nur hielt er mich für den Nehmer. So steht einfach die Sache.“

Er hatte nicht ohne Bitterkeit sprechen können. Die Direktorin hatte ihm mit Ruhe zugehört.

„Und was hat der Präsitent Dir weiter gesagt?“ fragte sie.

„Ich muß meinen Abschied nehmen, wenn ich nicht –“ !

„Wenn Du nicht?“

Er konnte doch den Satz nicht vollenden, auf ihre Frage nicht antworten. Aber sie wußte, was er ihr nur sagen konnte. Sie hatte es von vornherein nicht anders erwartet. Darauf war ja ihr Entschluß gebaut, der fester und fester in ihr geworden war, den sie ihm nur nicht mittheilen durfte.

„Hast Du dem Präsidenten schon Deine letzte Erklärung abgegeben?“ fragte sie den Gatten.

„Nein.“

„Du mußtest mich erst sprechen?“

„So war es.“

„Und jetzt – Adalbert, erfüllst Du mir eine Bitte?“

„Welche?“

„Nicht eher einen Entschluß zu fassen und nicht eher ihn dem Präsidenten mitzutheilen, als bis Du mit mir darüber gesprochen hast.“


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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_815.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2021)