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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

die Jugend eines Kindes heiter und eben zu machen. Das Bild, welches Herzen von demselben entwirft, ist ein wahres, künstlerisches Meisterwerk und eines der gelungensten in dem an originellen Gestalten reichen Buche. Es ist ein Typus, dem man jetzt nicht mehr begegnen kann; noch die volle Tradition der legitimen Aristokratie mit ihrer äußeren Verfeinerung und ihrem bodenlosen inneren Egoismus, vereint mit großer geistiger Begabung, die aber von der Philosophie des vorigen Jahrhunderts nur den Skepticismus, die Ironie und die Menschenverachtung aufgefaßt hatte. In der Einsamkeit, die der fromm gewordene Epikuräer um sich schuf und in der er sich selbst mit halb eingebildeten Leiden, eine sanfte, geduldige Frau mit Launen und eine Dienerschaft mit Despotismus quälte, wuchs der lebhafte Knabe heran; in den dürftigsten Beziehungen zu der Außenwelt; halb verhätschelt, halb tyrannisirt; frühzeitig darauf hingewiesen, seine eigenen Hülfsquellen zu entwickeln, um dem düsteren Einerlei seines häuslichen Lebens zu entgehen. In dieser frühen, durch die Noth entwickelten Thätigkeit nahm wahrscheinlich Herzen’s Charakter diese schöpferische Energie an, die ihn auszeichnete und die ihm über manche schwere Augenblicke seines Lebens hinweggeholfen hat. Die ersten Flammen revolutionärer Begeisterung entzündeten sich in der Seele des vierzehnjährigen Knaben, als die mißlungene Freiheitsbewegung von 1825 mit dem Tode von fünf der edelsten, gebildetsten Männer Rußlands auf dem Schaffot endete, und seine erste politische That war ein Schwur, den Tod jener Märtyrer zu rächen, den er, zusammen mit dem kaum gefundenen ersten Jugendfreunde, auf einer Anhöhe bei Moskau vor dem Abendroth leistete.

Seine Studien an der Universität von Moskan wurden unterbrochen durch eine neunmonatige Untersuchungshaft wegen Theilnahme an der Bildung einer geheimen Gesellschaft, die nie stattgefunden hatte, und geendet mit einem mehrjährigen Exil in Perm, Wiätka und Wladimir, welches der Haft folgte. Noch während des Exils verheirathete er sich, lebte dann, als ihm die Rückkehr gestattet war, in Moskau, im Kreis seiner Familie und seiner Freunde und zog bald die Aufmerksamkeit des Publicums auf sich, durch eine Reihe von Artikeln und Schriften, die er veröffentlichte, theilweise abstrakten Inhalts, theils Novellen und ein Roman: „Wer ist schuld?“ der eine so glänzende Begabung des Autors nach dieser Seite hin bewies, daß man mit Recht bedauern muß, daß seine spätere Lebensrichtung ihn nie auf dieses Gebiet zurückkehren ließ.

Nach dem Tode seines Vaters begab er sich 1847 mit seiner Familie in das Ausland, hielt sich in Paris auf und erlebte dort die Ereignisse von 1848 mit. Dann ging er nach Italien, wo ihn die oben erwähnten harten Schicksalsschläge trafen, und seit 52 lebt er mit seinen drei übrig gebliebenen Kindern in England. Wer diese kurze Skizze seines früheren Lebens auszufüllen wünscht, den verweisen wir auf die Memoiren selbst, die in deutscher, französischer und, zum Theil wenigstens, in englischer Uebersetzung erschienen sind und dem Leser außer dem reichen, bewegten, lebendig colorirten Lebensbild auch die mannigfaltigsten allgemeinen Beziehungen mit Blicke in wunderbare, fremdartige Zustände gewähren. Wir aber wenden uns noch einmal zurück zu der Betrachtung von Herzen’s literarischer und politischer Thätigkeit, als dem, was seine Bedeutung für weitere Kreise und für die Nachwelt ausmacht, wenn gleich denen, welche das Vergnügen haben, seinen edlen, liebenswürdigen Privatcharakter näher zu kennen, auch die Details, die seine Persönlichkeit betreffen, sehr interessant sein müssen.

Außer seinen früheren Arbeiten in Rußland, welche, den Roman und die Novellen ausgenommen, bis jetzt nicht in Übersetzungen existiren, erschienen (schon in Europa) das oben erwähnte „Vom anderen Ufer“ ferner „Briefe aus Frankreich und Italien“, welche die interessantesten Schilderungen aus den bewegten Zeiten von 48 und 49 enthalten; dann mehrere kleine Sachen, unter Andern ein Brief von Michelet; und die Entwicklung der revolutionären Ideen in Rußland“, eine Schrift von ungemeinem Interesse, mit einer geistreichen Skizzirung der wüsten Anarchie der russischen autokratischen Zustände mit einem höchst belehrenden Anhang über die russische Gemeinde.

Die ganze Reihe dieser letzteren Sachen gab Herzen’s Thätigkeit eine eigenthümliche Bedeutung, die nämlich, dem westlichen Europa zum ersten Male durch einen Russen einen tieferen Einblick in das russische Leben zu gewähren. Eine Reihe talentvoller Leute erschien durch ihn vor unseren Augen, von denen wir bis jetzt nichts gehört hatten; wir sahen die Anfänge einer vielversprechenden Literatur, die nur durch den Druck von oben zurückgehalten wurde; wir sahen den verzweifelten Kampf junger, strebender Menschen, die nirgend ein Feld für ihre Thätigkeit finden konnten und theils tragisch untergingen, theils in jene trostlose Gleichgültigkeit verfielen, welche in den literarischen Produkten der ersten russischen Schriftsteller zu einem Typus von Gestalten der Nicolaus’schen Periode geworden ist. Wir erfuhren ferner von der Existenz politischer Parteien, die ganz entschiedene Tendenzen befolgten: die autokratische, die, wie überall, nichts wollte, als die Erhaltung ihrer Macht; die slavophilische, welche als sie ultra-nationale die Herstellung der alt-russischen Formen, das Nalionalgefühl, die Reaction gegen die Reform Peter des Großen beabsichtigte; und endlich die Partei der freien Entwicklung, zu der Herzen und seine Freunde gehörten, die, vertraut mit der westeuropäischen Bildung, demselben Gedankenstrome folgten, der auch den Westen fortriß.

Zu diesen höchst interessanten und damals ganz neuen Mittheilungen gesellten sich andere über das eigentliche Wesen der russischen Autokratie und über das Volk, die nicht minder interessant waren, und es ist der Ort hier, noch einmal zu erwähnen, daß Herzen zur Zeit, als noch die Hand des Kaisers Nicolaus über Rußland lag, es mit voller Zuversicht aussprach, daß die slavische Welt sehnsüchtig ihrer eigentlichen Entwicklung harre und daß, sobald einmal die eisenen Bande, die nur eine starke Hand wie die von Nicolaus zu schnüren vermochte, zerreißen würden, sich dort bald ein reiches und eigenthümliches Leben zeigen werde. Man schüttelte damals allgemein ungläubig den Kopf über solche Behauptungen, und nur Wenige fingen an aufmerksam aus diesen Propheten aus dem Osten zu horchen. Ja man machte ihm sogar einen Vorwurf daraus, daß er, während er die große Lebensfähigkeit und die junge Kraft Rußlands verkündete, an der des westlichen Europas zweifelte; Einige wollten darin den Zug jener eroberungssüchtigen Tendenz sehen, die man anfing den Slaven zuzuschreiben und aus der, wie man behauptete, bereits eine lebendige Propaganda hervorgegangen sei.

Daß dieser letztere Vorwurf für die Slaven überhaupt sich bisher als völlig absurd und unbegründet gezeigt hat, bedarf kaum der Erwähnung. Die Völker des westlichen Europas haben es noch zu beweisen, daß auch der Zweifel an ihrer Fähigkeit zur politischen Wiedergeburt ungegründet war. Daß aber Herzen in Beziehung auf Rußland Recht gehabt, hat sich schneller, als er es vielleicht selbst dachte, gezeigt. Schon der Krimkrieg deckte unleugbar die innere Schwäche der autokratischen Macht auf; der Tod von Nicolaus zeigte es sogleich, daß Rußland nicht minder als der Westen am Vorabend ereignißvoller Zeiten stand. Unter dem sanften Scepter des Kaisers Alexander II. aber brach rasch der lang zurückgehaltene Trieb der Entwicklung sich Bahn. Die Literatur nahm einen gewaltigen Aufschwung, das verhaltene Wort wagte sich kühn hervor; die liberale Partei nicht allein, auch das Volk forderte laut die Aufhebung der schimpflichen Leibeigenschaft, und nun, wenn auch nicht mit der Vollständigkeit, mit der Herzen und seine Freunde es verlangten, ist das Wort doch einmal ausgesprochen und kann nicht mehr zurückgenommen werden; der russische Bauer ist frei und zwar mit dem Besitz der Erde, also kein Proletarier, und er wird diese Freiheit durchzusetzen und zu behaupten wissen unter jeder Bedingung. Wie wahr auch im Uebrigen Herzen prophezeit, beweist die große Bewegung, die jetzt durch ganz Rußland zieht.

Alle jene eben erwähnten Schriften Herzens, die theils in Deutsch, theils in Französisch erschienen und deren Wirkung unmittelbar mehr dem Westen galt als Rußland, waren vor Gründung seiner Presse geschrieben. Von dieser Zeit an schrieb er wieder fast ausschließlich russisch und wendete sich ganz seinen vaterländischen Interessen zu. Sein Unternehmen gelang über alle Erwartung. Das Erscheinen dieser ohne Censur gedruckten Sachen erregte in Rußland einen Sturm des Entzückens, und alle Bemühungen der Polizei vermochten nicht die Einführung der verbotenen Waare zu hindern. Dem „Nordstern“ folgte die Veröffentlichung mehrerer bedeutender Manuscripte, welche Herzen aus Rußland geschickt bekam, unter denen besonders die Memoiren der Kaiserin Katharina II. durch Uebersetzungen sich allgemein verbreitet haben. Eine besondere Wichtigkeit aber erlangte ein politisches wöchentliches Journal, „die Glocke“, das im Jahre 1856 zuerst erschien. Dieses Blatt wurde ein öffentliches Tribunal, vor welchem die Klagen der Unterdrückten laut werden und die schuldigen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 760. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_760.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2022)