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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Appetit befriedigt ist, meldet sich die Sehnsucht nach den Gespielinnen wieder: die Ziege versucht es den Rückweg anzutreten. Ja, ja! hinunter ging’s leicht, die stählernen Sehnen und Flechsen und der harte Huf haben den Sprung in die Tiefe recht gut ausgehalten; aber wie jetzt hinauf, über die schroffe Felswand, die wie ein unübersteigbarer Wall die senkrechte Flanke ihr entgegenstellt? Ein klägliches, immer ängstlicher und bänglicher klingendes Blöken fleht um Hülfe in der Noth und dringt endlich zu den scharfen Ohren des Geißers. Es ist wirklich fabelhaft, wie leicht der Schall von den dünnen Luftwellen der Höhe dahergetragen wird, und häufig kann man da oben die Senner bequem auf Entfernungen mit einander reden hören, bei welchen in der Ebene, selbst beim lautesten Rufen, kaum ein verworrenes Getöse zum Ohre des Horchers gelangen würde. Der Bube hat den Nothruf vernommen, und mag der Abhang ein noch so schroffer, die Stelle noch so unzugänglich sein, auf der das „verstiegene“ Thier sich befindet – nichts wird ihn abhalten, seinem Schützlinge zu Hülfe zu kommen. Jetzt kann er seine Naturgymnastik zur Geltung bringen. An Felszacken, Gesträuch und selbst bloßen, aus den Mauerritzen hervorwachsenden Grasbüscheln sich festhaltend, klettert er die Felswand hinunter, auf Rändern und Absätzen sich balancirend, wo kaum seine Zehen den nöthigen Raum zum Aufsetzen finden, hinunter zum verstiegenen Thier, das er auf seinen Schultern wieder den Abhang hinauf schleppt. Sind die Schwierigkeiten gar zu groß, so schlingt er, wie dies unser Bild zeigt, und wo es sich gerade thun läßt, ein Seil um eine spitzige Felszacke, läßt sich daran zu der Ziege hinunter, befestigt das ängstlich blökende Thier an den Strick und zieht es so mit unsäglicher Mühe wieder auf sichern Grund.

Die schroffe Felswand, der schwindelnd tiefe Abgrund boten aber bei dem wagehalsigen Unternehmen nicht die einzigen Gefahren.

Hoch über den Felszinken, im blauen, durchsichtigen Aether hatte das scharfe Auge des Geißbuben gar wohl den kleinen, erst kaum merkbaren, dann allmählich größer werdenden schwarzen Punkt bemerkt, der erst unbeweglich an derselben Stelle gebannt zu sein schien und dann erst mit dem Größerwerden in weiten Kreisen umher zu schweben begann. Der Geißbube war der Einzige nicht, der den Hülferuf der verstiegenen Ziege vernommen. Der mächtige Goldadler droben in seinem luftigen Revier hat ihn auch gehört, und sein feuerfarbenes Auge hat gar wohl die Ziege, auf dem schmalen Felsbande hängend, erblickt. Einen Moment später, und er wäre mit dem durchdringenden, gellen Ruf „Plüf, Ppülüff“ senkrecht wie ein fallender Meteorstein niedergeschossen auf sein hülfloses Opfer, und ein paar Schläge seiner mächtigen Schwingen hätten genügt, das arme Thierchen hinunter zu schleudern in den Abgrund, wo dann seine zerschmetterten Glieder die bequeme Beute des Königs der Lüfte geworden, oder die Ziege hätte, schon durch das brausende Flügelrauschen des gewaltigen Vogels erschreckt und betäubt, in sinnloser Angst von selbst den todbringenden Sprung in die Tiefe gethan. Jetzt, wo der Bube ihm zuvorgekommen ist und das Thier gefaßt hat, wird der Adler vielleicht zwar das Manöver wohl noch versuchen, aber das hilft ihm nichts bei dem eifern zähen Willen des hartnäckigen Gesellen, denn eher würde er sich von den gewaltigen Fängen des riesigen Raubvogels zerfleischen lassen, als seinen Schützling preisgeben. Der Adler scheint aber zu wissen, mit wem er es zu thun hat, und fliegt nach einigen nutzlosen Versuchen, ohne einen wirklichen Angriff zu wagen, mit einem ärgerlichen Aufkreischen davon.

Auf den Goldadler und den Lämmergeier muß der Geißbube überhaupt gar sehr aufpassen. Beides sind die bösen rebellischen Elemente in seinem Reiche, und ohne die rechtzeitige Dazwischenkunft seines tüchtigen Bergstockes würden diese Hyänen der Luft gar manches unerfahrene Zicklein als gute Beute davon führen. Fast noch gefährlicher und mit weit mehr List auftretend ist Meister Reineke dem jungen, zarten Ziegenvolke. Da oben, in den undurchdringlichen Kluft- und Felslabyrinthen, steckt gar manche Burg Malepart, wo Nobel Geißbub nicht hinzudringen vermag und sich also damit begnügen muß, zu steter Abwehr heimtückischer Angriffe bereit zu sein, während er hinwieder gar oft die Brut der vorhin erwähnten gefiederten Räuber für die Sünden der Vater büßen läßt, und keine Mühe und Gefahr scheut, derselben in kaum zugänglichem Horste den Garaus zu machen. Aber auch mit den Alten nimmt’s der kecke Bursche unbedenklich auf, wenn eine seiner geliebten Geißen bedroht ist. Erst im Jahre 1859 hat der vierzehnjährige Johann Guler auf einer Schafalp im Canton Graubünden einen mächtigen Goldadler, der sich auf ein Lamm niederstürzte und darob in den Zweigen der Legföhren sich so verstrickte, daß er von seinen Flügeln keinen rechten Gebrauch machen konnte, mit seinem eisernen Bergstocke todtgeschlagen.

Bei schönem Wetter ist das Leben des Geißbuben wirklich ein frohes und poesiereiches. An Unterhaltung kann es ihm kaum fehlen. Von seinem Felsenthrone aus kann er bequem sein weites Reich überschauen, und wohl mag ihn da oft mit wohlthuenden Schauern das Gefühl der Souveränetät, der absolutesten Unabhängigkeit durchrieseln, drum hat er auch seinen schlechten Filzdeckel so trotzig auf’s krause Haupt gestülpt. In seinem Reviere hausen die geschäftigen Murmelthiere und unterhalten ihn mit ihren possierlichen Spielen und ihrem vorsorglichen Einsammeln der Wintervorräthe; der Mauerläufer oder Fluhspecht mit feinem bunten Gefieder, flink an den glatten Felswänden auf und nieder laufend, giebt ihm Lectionen im Klettern, und die schöne Schneehenne mit ihren zierlichen Küchlein wandert aufmerksam, den schlanken Hals in die Höhe gestreckt und sorglos umherlauschend, zwischen dem Steingerölle umher; das Haselhuhn rauscht in den Legföhren und in den Alpenrosenbüschen; mit tausend Stimmen spricht die erhabene Natur zu ihm, und diese Stimmen sind um so vernehmlicher, weil neben ihnen keine anderen laut werden. Naht der Abend, da senden von den jenseitigen Gebirgsstöcken die Lawinen ihm ihre fast unaufhörlichen Grüße zu, bald sieht er die wirbelnde, qualmende Schneemasse wie ein riesiges Silberband den Abhang hinunter sausen, bald vernimmt sein Ohr nur das grollende Gebrüll des unsichtbaren Ungeheuers. Um ihn blühen in brennend rothem Glanze die Alpenrosen, und Abends beim Scheiden des Tagesgestirns, da erglühen all die gewaltigen Gebirgsstöcke und Firnen, die ihn den Tag über so ernsthaft düster angeschaut, in jenem märchenhaften Feuerglanze, den zu beschreiben noch keine Feder den richtigen Ausdruck gefunden hat. Dann treibt er seine Heerde, den schlechten Filzdeckel mit den röthesten Rosen geschmückt, wieder zu Thal und freut sich schon auf den kommenden Morgen, der ihn wieder hinauf in seine lieben Berge rufen wird.

Freilich ist’s nicht alle Tage so: bei regnerischem Wetter, wo die Gebirgsstöcke ihre grauen Nebelkappen aufgesetzt haben, die Tropfen eisig kalt die Wangen des armen Hirten peitschen, und nur ein alter Zwillichsack seine Schultern vor Nässe schützt, da mag es oft auch gar melancholisch um ihn bestellt sein, da droben in den unwirthbaren Schluchten, wo kaum eine trockene Höhle oder eine aus Geröll und Rasen kunstlos aufgeführte Hütte ihm vor den Unbilden der Witterung Schutz gewähren. Auch der Gewittersturm, wenn er mit seiner von den Bewohnern der Ebene nie geträumten Wuth und Raserei um die Gebirgszacken tobt und tost, der strömende Regen jede Rinne in einen gewaltigen donnernden Wildbach verwandelt, und die Rüfe oder der Schlammstrom, wie ein verderbenschwangeres Ungeheuer brüllend und Alles vor sich niederwerfend, den Berg hinuntertobt, mag ihm gar manche Nothstunde bereiten. Mit seiner Kost ist es gar ärmlich bestellt, und seine Tafel ist nichts weniger denn eine königliche. Brod, so hart wie Stein – denn drunten im Gebirgsdorfe wird kein frisches gebacken, und dasselbe muß oft viele Stunden weit hergetragen werden – und ebenso trockener Käse bilden seine einzigen Subsistenzmittel. Einen frischen und gesunden Trunk, freilich, den liefern ihm stets seine Ziegen. Er zieht zu dem Ende nur eines der Thiere herbei, legt sich unter dasselbe auf den Rücken und melkt sich in den Mund. Da hat er buchstäblich sein Bedürfniß aus der ersten Quelle.

Eben so spärlich, wie seine Kost, ist auch der Lohn, den der Geißbub für seine sommerlange Mühe bezieht; wenn’s hoch geht, erhält er einen halben Franken für je eine Ziege. Und dennoch fühlt sich der genügsame Bursche nichts weniger als unglücklich oder zurückgesetzt in seiner Lebensstellung. Er hat eben gar frühe schon mit der Entbehrung Bekanntschaft gemacht, während er gar Manches, das der Culturmensch zu dem Unentbehrlichen zählt, nicht einmal dem Namen nach kennt. So arm es sonst mit der Bildung des Geißbuben bestellt sein mag, so ist doch das einsame Leben droben auf den sonnigen Höhen ein trefflicher Lehrmeister für seine Phantasie. Ist einmal sein Zutrauen gewonnen, so weiß er ganz schauerlich hübsche Geschichten von Berggeistern, weißen Gemsen und verwunschenen Alpen zu erzählen. Es ist das bei seinem ganzen Thun und Treiben und seinem einsamen Verweilen in der erhabenen, öden, an räthselhaften Tönen und Stimmen so reichen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 743. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_743.jpg&oldid=- (Version vom 27.11.2022)