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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Ein Winter-Asyl für geistige Handwerker-Ausbildung.


Der Neuzeit war es vorbehalten, in Verfolg rationeller volkswirthschaftlicher Anschauungen die Gewerbe von den Zunft-, Innungs- und Gildegesetzen zu befreien, welche selbst im Schooße des Handwerks nur von den Schwachen als Stütze, von den Kräftigen aber als gleichgültige Schranke, in vielen Fällen als Fesseln angesehen wurden und welche aufzuheben das allgemeine Interesse sowohl, als die zeitgemäße Entwickelung der Gewerbthätigkeit, auf Grund des Bedürfnisses, längst verlangten. Eine große Anzahl deutscher Regierungen hat bereits das Gewerbe, freilich mehr oder weniger beschränkt, freigegeben. Fast alle aber haben, ähnlich wie bei der Ausübung einer auf strenges, wissenschaftliches Studium sich stützender Praxis, z. B. der der Aerzte und Juristen, den Betrieb des Bauhandwerks, unter welchem vornehmlich das der Maurer und Zimmerer zu verstehen ist, von einer zu bestehenden Prüfung abhängig gemacht.

Durch die Einführung dieser Prüfungen wurden die jungen Baugewerke genöthigt, insofern sie das Meisterrecht ausüben wollten, neben der Erlangung praktischer Fertigkeiten auch auf die wissenschaftliche und künstlerische Seite ihres Faches ihr Augenmerk zu lenken. Damit ihnen dies möglich werde, errichtete man, neben Industrie-, Gewerbe-, Handwerker-, Sonntags- und Feiertags- Schulen für das vorbereitende und allgemeine Bedürfnis; sogenannte Baugewerkenschulen.

Solcher Schulen giebt es in Deutschland viele und besonders in denjenigen Theilen unsers großen Vaterlandes, in welchen man vor der zunehmenden Volksbildung nicht erschrak, sondern sie als ausschließliche Bedingung des Volkswohlseins eifrig förderte. Diese Schulen sind größtentheils Regierungsanstalten und kosten dem Staate, da das Schulgeld gering gestellt werden muß, und Klostergüter etc. zur Dotirung dieser jungen Anstalten nicht mehr disponibel sind, nicht unbedeutendes Geld. Die Frequenz ist gewöhnlich nicht in die Augen fallend; sie erstreckt sich durchschnittlich auf 50 Schüler in den Wintermonaten.

Die Beschreibung einer solchen Schule würde kaum von allgemeinem Interesse sein. Wir wollen keine dieser gewöhnlichen Baugewerkschulen beschreiben, wie sie Baiern seit 30, Sachsen seit 20, die sächsischen Herzogthümer, Hannover etc. seit 15 und 10 Jahren aufzuweisen haben. Wir wollen auf eine außergewöhnliche derartige Anstalt aufmerksam machen, die jährlich von über fünfhundert Schülern besucht wird, die nicht durch die Absicht einer Regierung, sondern durch die Einsicht und Energie eines Mannes entstand und die, eine verhältnißmäßig geringe Staatsunterstützung abgerechnet, durch sich selbst besteht.

Es sind dies ziemlich viel Leute: fünfhundert junge rüstige Arbeiter, die den Sommer über, mitunter bei kargem Lohn und harter Arbeit, Hammer und Kelle, Axt, Säge und Hobel, Feile und Pinsel handhabten, die auf schwindelndem Gerüste, in Sonnenhitze und Regen Stein, Holz und Eisen zu Behausungen für Haus- und Landwirthschaft, für Industrie, Handel und Wissenschaft zusammenfügten und die Ende October jedes Jahres „nach Handwerks Gebrauch und Gewohnheit“ ihre Schritte nach der kleinen braunschweigischen Stadt Holzminden lenken, um da „des Zirkels Kunst und Gerechtigkeit“ kennen zu lernen.

Daß dieser Ort, den der freundliche Leser auf mancher Karte von Deutschland und in mancher Schulgeographie umsonst suchen dürfte, an einem Flusse und in einer holzreichen Gegend liegt, läßt sich aus dem Namen schließen. Dieser Schluß ist auch richtig. Holzminden, ein Städtchen von ungefähr 4000 Einwohnern, liegt an der Weser und zwar an der sogenannten Oberweser, deren Ufer mit ihren Bergen von Kalk und buntem Sandstein, den tief eingeschnittenen Thälern und dem entzückenden Laubschmucke mächtiger Buchen- und Eichenwaldungen dem Naturfreunde eine bisher viel zu wenig benutzte Fülle der lohnendsten Partien bietet.

Von der Stadt selbst läßt sich nicht viel sagen. Außer einigen Beamten und Kaufleuten, die im Gegensatze zum allgemeinen Plattdeutsch ein ziemlich schriftgemäßes Hochdeutsch sprechen und sich von der eigentlichen Masse der Bewohner in einer für den Süddeutschen auffälligen Weise fernhalten, giebt es einige Gewerbtreibende, die aber, wie der zahlreich vertretene Ackerbürger, in Feldbau und Viehzucht ihren Haupterwerbszweig erblicken. Das blaue Oberhemd und die Gamasche, der Schinken, die Schlackwurst und der „Schluck“, das kummtlose Geschirr der Pferde, die Einrichtung der Häuser mit ihrer „Dele“ – die Ein- und Durchfahrt, Hausflur, Dresch- und Futtertenne, Wagenschuppen, der Salon und Tummelplatz der Kinder und der kleineren Hausthiere zugleich ist – der fast stereotype Ausdruck in den Gesichtern, das starre Festhalten an dem Althergebrachten – Alles zeigt an, daß man bei Aufsuchung von Immermann’s westphälischem Dorfschulzen auf der rechten Spur ist.

Außer einem ziemlich lebhaften Betrieb von Sandsteinbrüchen besitzt Holzminden keine nennenswerthe Industrie. Dagegen hat es neben der „Baugewerkschule“ ein Gymnasium, dessen hohes Alter von einigem Interesse ist.

Nach diesem anspruchslosen Städtchen „walzen“ im Spätherbste Maurer-, Zimmer-, Tischler-, Schlosser-, Maschinen- und Mühlenbauer-, Dachdecker- und Stubenmaler-Gesellen vor Allem aus dem nördlichen Theile von Deutschland, als: Braunschweig, Preußen, Mecklenburg, Hannover, den Hansestädten, Schleswig und Holstein, dann aus Dänemark und Schweden, weiter aus den sächsischen Herzogthümern, Oesterreich, der Schweiz, ja selbst aus Amerika, Rußland und der Türkei.

Die Meisten verdienen sich mit ihrer Hände Arbeit erst das Geld, mit Hülfe dessen es ihnen möglich werden soll, sich geistig auszubilden. Ihre Hände tragen sehr oft beim Eintritte in die Schule noch die Schwielen, die Zeichen handkräftiger Thätigkeit, so daß ihnen das Halten und Regieren der Feder und des Stifts nicht eben leicht wird. Ungeachtet dessen und des ungewohnten Sitzens im engen Raume und bei Gaslicht während der langen Winterabende – ungewohnt für sie, die den Sommer über in der freien Luft und im Sonnenglanze sich bewegten – wird dann gearbeitet, nicht blos einige Stunden, sondern den ganzen Tag und die halbe, oft den größten Theil der Nacht. Der Unterricht beginnt früh 61/2 Uhr und dauert mit wenig Unterbrechung bis Abends 91/2 Uhr. Während dieser Zeit gilt es auch, fleißig zu sein, denn der mitgebrachten Kenntnisse sind oft wenige, die Zeit ist kurz und das zu bebauende Feld groß. Beispiele, daß dem übertriebenen Fleiße aus Gesundheitsrücksichten Einhalt gethan werden mußte, kommen oft vor.

Was bewegt aber diese große Anzahl Jünglinge, ihre Groschen, Grote und Schillinge im Sommer und den verführerischen Genüssen der Seestädte gegenüber zu sparen, im Herbste die Aussicht auf weiteren Verdienst, ihre Bekannten und alle gewohnten Verhältnisse zu verlassen, sich in Holzminden fünf Monate lang unter Zeichnungen und Büchern zu vergraben und sich dabei anzustrengen, mehr als bei Aufhebung eines mächtigen Steinblocks oder eines Stammes Holz? –

Sie wollen vorwärts auf der Bahn geistiger Ausbildung; sie haben mit richtigem Gefühle die Nothwendigkeit herausgefunden, daß man die Zeit nicht mehr befriedigen könne durch Wiederkäuung althergebrachter Formen, und daß es nicht mehr blos darauf ankomme, daß, sondern wie man arbeite, und daß endlich immer noch die Capitale, welche die Motten und der Rost nicht fressen, die am besten zinsentragenden sind. Mag auch bei Vielen die stricte Nothwendigkeit, die Berechtigung zu einer besseren Lebensstellung, zum Meisterwerden, auf diese Weise zu erwerben, dem Streben hauptsächlich zu Grunde liegen – immer erscheint die Baugewerkschule zu Holzminden in ihrer außerordentlichen Ausdehnung und in dem sich durchgehends äußernden Streben ihrer Schüler als ein interessantes Moment der Zeit, das den Zeitgenossen vorgeführt zu werden verdient.

Wie entstand diese Schule, die so, wie sie jetzt ist, einzig in Deutschland dasteht? –

Nach Einführung der Gilden-Ordnung vom 13. November 1821 im Herzogthume Braunschweig war die Ausübung des Meisterrechts bei den Bauhandwerkern von einer unter Zuziehung des Districts-Baumeisters zu bestehenden Prüfung abhängig gemacht. Um den Gesellen die Erlangung der hierbei beanspruchten Bildung zu ermöglichen, ertheilte der damalige Kammer-Bauconducteur, jetzige Kreisbaumeister Friedrich Ludwig Haarmann in Holzminden, einzelnen Gesellen unentgeltlichen Privatunterricht im Zeichnen und in den Anfangsgründen der Mathematik. Dieser Unterricht dehnte sich bald so aus, daß im Winter 1830 sieben Schüler

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 715. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_715.jpg&oldid=- (Version vom 9.11.2022)