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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

ihnen vorzugsweise dicht und üppig. Ueberall, sowohl im St. Jürgener Lande, als auch in dem ganzen Thale der Hamme hin, erkannte ich die gewundenen Streifen ehemaliger Flußarme an den höheren Stauden und Blumen und dem frischeren Grün, womit sie gegen die übrigen festen, ertränkten und grauer aussehenden Wiesen abstachen.

Wenn wir in diese überwachsenen Arme hineinfuhren, so sank der Rand des schwimmenden Blumenteppichs unter dem Kiele unseres Schiffs in’s Wasser. Wenn wir mit unseren Rudern hinstießen, konnten wir das Ganze in schaukelnde Bewegung setzen und am Ende mit einiger Mühe durchstoßen, und so auf das Wasser darunter gelangen, das oft noch 6 oder 7 Fuß tief war. In der Mitte der heißen Jahreszeit trocknen zuweilen, wie die ganze Landesbewässerung, so auch diese Flußarme aus, und dann liegt der Blumenteppich auf dem Grunde und kann abgemäht werden. Oder das Wasser nimmt unter ihnen doch so weit ab, daß die Mäher darüber wegschreiten können, ohne beim Durchbrechen Gefährliches befürchten zu dürfen. – Manche Dobben sind auch schon von Haus aus so dick und dicht, daß sie einen Arbeiter wohl tragen.

Die zierlichen Kibitze und die munteren Meerschwalben hatten jetzt noch ihre Jungen im Neste, und überall, wo wir in den Winkeln des Landes stöberten, umflogen uns diese hübschen, um ihre Brut so mütterlich besorgten Thiere in Schaaren. Sie verfolgten unser Schiffchen weit hinaus mit ängstlichem Geschrei, schwebten uns zu Köpfen und indem sie sich herabschwenkten, schweiften sie mit großer Kühnheit dicht über unsern Mühen weg. Sie schrieen dabei aus vollem Halse, und daß es ihnen einige Ueberwindung kostete, Muth zu fassen, konnte man wohl bemerken. Denn ehe sie den Schuß gegen den ihnen so gefährlich erscheinenden Gegenstand wagten, sammelten sie sich ein wenig, hielten in der Luft einen Augenblick an, nahmen einen Anlauf und kamen dann wie Pfeile gegen uns herab, als wollten sie uns fortscheuchen.

Unter solchen Beschäftigungen und Beobachtungen, und indem wir bei mehreren hübschen Bauernhöfen, die auf ihren Warfen mitten im Wasser lagen, vorüberfuhren, kam endlich der Hauptort des St. Jürgener Landes, die kleine Insel, auf welcher die Kirche und die Gräber dieser Wasserleute lagen, in Sicht. Es war ein ganz eigenthümliches Stückchen Land, das über der allgemeinen Ueberschwemmung und über dem Grasmeere etwa 15 Fuß hoch hervorragte und auf dem neben der Kirche noch für die Wohnung des Pastors und die seines Küsters Platz war. Ich habe selten eine absonderlichere kleinere Ansiedlung besucht. Für einen Maler wäre sie ein sehr dankbares Thema gewesen.

Auch jetzt noch in der Höhe der Sommerhitze war dieser sonderbare kleine Ort nur zu Schiff zu erreichen. Die Kirchleute und die Schulkinder kamen selbst jetzt herangerudert. Im Winter steckt das kleine kirchliche Etablissement rings umher im Eise. Dann kommen die Frommen und Lernbegierigen auf Schlittschuhen und Schlitten heran.

Aber zuweilen, wenn die Stürme brausen und der Eisgang wüthet, ist das Kirchlein völlig unzugänglich, und der Pastor von seiner Heerde gänzlich abgeschnitten. Dann trifft es sich wohl, daß drei Wochen hinter einander kein Gottesdienst gehalten werden kann, aus Mangel an Besuchern. Dann ruft das Glöcklein vergebens in die Wasseröde hinaus. Die Frommen hören’s, aber sie vermögen nicht durchzudringen. Der Küster steht auf der Wacht, späht in die Wüste hinaus und berichtet dem Pastor, ob er Schiffe entdecke oder nicht. Zuweilen haben sie schon das heilige Osterfest selbst mit Stillschweigen überhüpfen müssen. Man erzählte mir solche Dinge sonst wohl von Island und Grönland.

Der Rand dieser sonderbaren St. Georgs-Insel, an dem wir aus dem Schiffe hinaufstiegen, ist steil abgearbeitet und mit einem rohen Palissadenwerk aus unbehauenen Eichenästen verbarricadirt. Diese Aeste sind unten am Fuße der Insel in den Boden gerammt, mit ihren oberen Enden, die in allen Richtungen und Krümmungen auseinander gehen, ragen sie über die Oberfläche der Insel hervor, so daß man sich mitten drin stehend von einem sehr wunderlichen Zaunwerk umgeben sieht. Mit ähnlichen Befestigungen, Pfahlwerken und Weidengeflechten, wie sie eben Jeder zu Stande bringen kann, umgiebt sich hier zu Lande jedes Haus und Warf, um sich gegen die Angriffe des Eises zu schützen. Dazu werden denn auch wohl noch einige große Steinblöcke von den benachbarten Haiden herübergeschafft, um das Pfahlwerk damit noch ferner zu beschweren und zu befestigen. Sie nennen eine solche Umschanzung hier „die Fessel-Roden“ (Fessel-Ruthen).

Außerdem wurzelten auch auf dem Rande unserer Insel rings umher mächtige und sehr malerische Eichen, unter deren Schatten das Kirchlein, das Küster- und Pastorenhaus ruhten. Daneben auch die zahlreichen bemoosten Monumente des Friedhofs der Gemeinde. Nichtsdestoweniger ist schon oft das Eis durch „Fesselroden“ und Bäume und Gräben dahin gestürmt und hat die Häuser selbst und die Insel beschädigt. Einige der alten Eichen trugen in ihren dürren Aesten und hohlen Stämmen die Spuren von solchen Erschütterungen zur Schau.

Nur das alte, kleine, dickmaurige Kirchlein hatte aller dieser Unbill getrotzt und lag noch so da, wie man es in katholischen Zeiten, als hier ein großer und berühmter Wallfahrtsort war, gebaut hatte. Die alte Glocke des Kirchthurms hatte auf ihrem Kranze noch „Mönchsschrift“. So nennen die jetzigen Protestanten hier die Schriftzüge aus den katholischen Jahrhunderten.

Sanft, still, geräuschlos und dabei doch stetig und ohne Schaukelungen glitt unsere kleine Barke von der Wallfahrtsinsel des heiligen Georg noch durch manches curiose Wasserdorf in dem Labyrinthe der Wasserwege dieses wunderlichen Landes fort, bis wir endlich unser Ziel, die hohen Bäume von Wakhusen, in Sicht bekamen.

Es ist selbst für einen Kundigen nicht ganz leicht, sich in diesem Labyrinthe zurecht zu finden. Wegweiser und Meilenzeiger giebt es natürlich nicht. Da man immer niedrig zwischen Wasserrosen, schönen Nymphäen, „rothen Heinrichs“, „Katzenschwänzen“ und „Hennen und Küken“ steckt, so kann man auch nicht weit spähen. Ein Wasserweg sieht aus wie der andere, und da die Schiffe keine Spuren hinterlassen, so kann man auch nicht, wie bei den Irrwegen in den Haiden, erkennen, ob der Weg. auf dem man sich eben befindet, eine viel befahrene Hauptstraße ist, oder nicht.

Manche Canäle sind gar keine Fahrstraßen oder „Fleeten“, sondern blos sogenannte „Scheden“ (Scheiden), d. h. Grenzgräben zwischen zwei Dorfschaften oder Grundbesitzern; und doch sind diese „Scheden“ oft eben so breit, tief und gemächlich wie die Fleeten. Zuweilen war ein Canal ehemals eine freie Fahrstraße, wurde aber später aus irgend einem Grunde als solche aufgegeben und führt nun in die Irre, in Sumpf, Geschilf und verwachsenes Land hinaus. Mitunter ist das Ende einer solchen Straße durch „Dobben“ und Verschiebungen in den, schwimmenden Erdreiche verstopft und zugelandet.

Wir nahmen irrthümlich einen Canal der letzten Art auf, der anfänglich ganz breit und schifffahrtsmäßig aussah und auch direct auf die Bäume von Wakhusen hinführte. Nach einer Stunde Fahrt aber wurde er schmäler, verwachsener, zweigte sich aus und führte uns in dichtes Geschilf und Dobben, und zuletzt strandete unser Schiffchen auf dem „hohen Lande“ der überschwemmten Wiesen. Wir schoben, zogen und stießen es hinüber, kamen noch einmal wieder in ein Stückchen Schifffahrt, das aber auch nicht weiter führte, und auf dem wir nun gefangen saßen, wie Enten im Eise. Rings um uns her war ein Chaos von Wasser und Land, in den, man weder schiffen noch wandeln konnte. Der Boden, wenn wir ihn berührten, bebte, und mit unsern Ruderstangen konnten wir unter die vorstehenden Ränder des Canalufers seitwärts weit im Wasser, auf dem die Dobben schwammen, hinunterfühlen. Wir steckten schon mitten in dem verführerischen, zerrissenen und durchlöcherten schwimmenden Lande von Wakhusen. Guter Rath war theuer.

Glücklicherweise fanden wir ein Stück von einen, Balkengerüste, das, ich weiß nicht wozu, gedient haben mochte, in der Nähe unseres Canals stehen. Dies bestieg unser Schiffer, um das Terrain zu sondiren, und er entdeckte in nicht großer Ferne „hohes Land“, eine Art Landzunge, die auch ganz bis nach Wakhusen hinzuführen schien. Diese Wasserleute haben einen merkwürdigen Blick für die Abschätzung des Niveaus des Terrains. Von „Hochland“ sprechen sie eben so viel wie die Gebirgsbewohner. Aber auch da schon wenden sie diesen Ausdruck an, wo ein Stück ein paar Zoll über dem Nachbarlande hervorragt. „Dies ist Hochland!“ sagen sie mit Nachdruck und großen Augen, als wenn es ganz was Kostbares wäre, von einem Strich, auf dem Du noch einen Fuß Wasser findest. Aber freilich haben sie ganz Recht. Denn für das Tiefland daneben, das zwei Fuß niedriger liegt, ist die Hoffnung, daß es noch im Laufe des Sommers aus dem Wasser gerettet werden könne, um 100 Procent schwächer.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 668. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_668.jpg&oldid=- (Version vom 27.10.2022)