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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Verkehr mit Frau, Kindern und Freunden, gänzlich abgeschieden von aller menschlichen Gesellschaft und Mittheilung mußte er seine Unterhaltung auf sich selbst, auf die Erinnerungen der Vergangenheit, auf die Empfindung seiner gegenwärtigen Leiden und Entbehrungen, auf die Hoffnungen und Besorgnisse der Zukunft beschränken. In den ersten Wochen seiner Haft schien es ihm kaum zweifelhaft, daß man ihn wie Palm erschießen würde, um durch seinen Tod ebenfalls ein Schreckbild für die noch deutsch gesinnten Deutschen aufzustellen. Da er keine Handlung oder Gesinnung sich vorwerfen konnte, wodurch er ein solches Schicksal verdient hätte, so glaubte er, dasselbe als eine Fügung Gottes ansehen zu dürfen, der ihn würdige, zum Besten des deutschen Volkes, dem sein Leben in Wort und That gewidmet gewesen, auch noch durch seinen Tod mitzuwirken. Diese Ansicht gab ihm den Muth, dem Tod ohne Grauen in’s Auge zu sehen und sich darauf gefaßt zu machen, den letzten Gang als deutscher Mann mit Ehren zu thun. Die Sorge für seine Gattin und seine fünf noch unversorgten Kinder stellte er der Vorsehung anheim, wobei er jedoch die Gefühle des Herzens nicht ganz bemeistern konnte.

Im neunten Monate seiner Gefangenschaft wurde dieselbe von dem Gouverneur, Divisionsgeneral Grafen Michaud, sehr gemildert, wahrscheinlich weil der Richter, der die Untersuchung gegen Becker inzwischen geführt hatte, seine Unschuld versicherte. Dennoch fühlte er bei der mageren Kost seine Kräfte abnehmen und sich in der feuchtkalten Casematte von rheumatischen Fieberanfällen ergriffen, welche die Hülfe des Arztes erforderten. Als ihm am 26. August 1812 der Gefangenwärter seine Mittagssuppe brachte und er vom Bette aufgestanden war, ihm die schwere Fallthüre des Kerkers emporheben zu helfen, so riß der daran befestigte Strick entzwei. Er war zu schwach, die Thüre aufrecht zu erhalten, sie fiel nach seiner Seite zurück, schmetterte ihn nieder, mit dem Kopf wider die Mauer, zerschlug ihm das rechte Schlüsselbein und quetschte den Oberarm. Der Arzt erklärte, daß die Heilung sich verzögern werde, wenn er nicht in ein gesundes Zimmer gebracht würde. In der dumpfen Kerkerluft könne sich zu seinem schon vorhandenen Fieber ein Wundfieber gesellen und ihm leicht gefährlich werden. Er durfte daher ein von ihm selbst gewähltes Zimmer in der Wohnung des Commandanten beziehen, fand dort unter menschenfreundlichen Personen Achtung und Theilnahme und genas von seiner Verletzung bis auf periodische Schmerzen, die er noch lange empfand. Während seines Krankenlagers hatte ihm der Gouverneur auch bewilligt, daß ihn seine Söhne besuchen durften. Sie kamen an, als er, den Arm noch in der Binde, unter den Linden vor der Commandantenwohnung auf einer Bank saß. Die Freude des Wiedersehens überwältigte die Herzen. Sie ergoß sich in Thränen, ehe sie Worte finden konnte.

Der siebzehnte Monat seiner Gefangenschaft ging schon zu Ende, und noch zeigte sich ihm keine Aussicht zu seiner Befreiung, obschon er selbst, seine Familie, seine Freunde und Gönner dieserhalb alle möglichen Mittel angewendet hatten. Da traf die Nachricht in Gotha ein, daß Napoleon durch diese Stadt kommen werde, um von Erfurt aus den neuen Feldzug zu eröffnen. So schmerzliche Gefühle nun auch sein Name in der unglücklichen Gattin und ihren Kindern aufregen mochte, so belebte sie doch die schwache Hoffnung, daß sie vom Kaiser unmittelbar Gerechtigkeit erlangen würden. Als man ihnen daher am 25. April gegen Abend meldete, der Kaiser werde in einer halben Stunde eintreffen, so eilten sie nach dem Gasthof zum Mohren, wo er absteigen sollte. Dort erfuhren sie aber, daß er nicht aussteigen, sondern nur die Pferde beim Chausseehause nächst der Stadt wechseln werde. Sie beflügelten daher ihre Schritte auf dem Wege zu dem bestimmten Orte, wo sich eine Menge Menschen versammelt hatte, um den Mann des Jahrhunderts zu sehen. Jetzt kam der kaiserliche Wagen, und der Herzog August von Sachsen-Gotha, der wenige Minuten vorher auf dem Platze angelangt war, nahte sich dem Schlage, um den Kaiser zu begrüßen. Da fürchtete die Schwerbekümmerte, es möchte ihr der günstige Augenblick entzogen werden. Sie riß sich plötzlich vom Arm ihres zweiten Sohnes mit den Worten los: „Nein, ich warte nicht länger!“ schob den vor ihr stehenden Gensd’armen auf die Seite, stand mit einem Sprunge vor dem Wagen und überreichte hastig dem Kaiser ihr Schreiben. Aber in dem Augenblicke verließen sie auch ihre Kräfte, sie sank laut jammernd zu Boden. Es war ein herzzerreißender Anblick, die verzweifelnde Frau im Staube vor dem Herrscher zu sehen, den sie als den Urheber ihres Unglücks hassen mußte. Der Kaiser entfaltete das Schreiben, während er sich zum Wagen herauslegte und den Herzog fragte, wer die Frau sei. Ehe dieser noch eine Antwort ertheilte, sah der Kaiser in das Papier und sagte: „Ich weiß es, was es ist.“ Er bat dann den Herzog, der Frau die baldige Rückkehr ihres Mannes zu verkündigen. Der Herzog hob sie freudig gerührt auf und wünschte ihr zur Befreiung ihres Mannes Glück. In dem Augenblicke erschallte auch schon ein allgemeines „Hurrah!“ wie es vielleicht in Deutschland niemals in Gegenwart des Kaisers gerufen worden. Der Kaiser legte sich noch einmal zum Wagen heraus und sagte zu der tiefgerührten Frau: „Ihr Mann wird zurückkehren; aber sagen Sie ihm, daß er sich künftig klüger benimmt und sich nicht mehr in die Angelegenheiten der großen Mächte mischt,“ Worte, die deutlich zeigten, wie sehr gehässige Verleumdung Beckern angeschwärzt haben mußte. Hierauf rollte der Wagen davon.

Den 5. Mai um die Mitternachtsstunde trat Becker wieder in sein Haus ein. Er sagt darüber in seiner ergreifend geschriebenen, zeitgeschichtlich merkwürdigen Schrift „Becker’s Leiden und Freuden in siebzehnmonatlicher Gefangenschaft (1814)“: „Liebende und geliebte Gatten, Eltern und Kinder, welche je von den Ihrigen so lange, und mit solcher Gefahr der Trennung auf immer, entfernt waren, nur solche vermögen sich die Scenen des Wiedersehens und die Gefühle des Herzens, das sich kaum von der Wirklichkeit der erfüllten Sehnsucht überzeugen kann, in der ganzen Fülle der Entzückung vorzustellen. Die Sprache ist zu arm, sie Andern mitzutheilen.“

Becker’s Befreiung war seine Auferstehung zu neuem Leben und Wirken. Nach dem über den Welttyrannen ergangenen Gottes- und Völkergericht erneuerte er den 1. Januar 1814 die Nationalzeitung der Deutschen und machte in ihr das hehre Gericht der Offenkundigkeit noch mehr geltend, als früher. So berichtete er das Gute und Böse, was sich hören und sehen ließ, was aller Welt zum Spiegel, zur Warnung oder zur Nachahmung bekannt werden sollte; so war er ein Wächter der öffentlichen Wohlfahrt, ein Anwalt der Volksnoth; so sorgte er für echte, innere Verbesserung des deutschen Volkslebens. Auch der deutschen Kunstgeschichte leistete er wesentliche Dienste durch Herausgabe des Werkes: „Hans Sachs im Gewande seiner Zeit (1821)“ und der „Holzschnitte alter, deutscher Meister,“ deren werthvolle Originalplattensammlung sich jetzt im königlichen Museum zu Berlin befindet. So war er thätig, bis er am 28. März 1822, Abends 6 Uhr, nach vierwöchentlichen Leiden, wenige Tage vor Vollendung seines siebenzigsten Jahres sanft mit der untergehenden Sonne von der Erde schied. Sein Geist aber lebt und wirkt auf ihr fort unter Denen, die für die höchsten Güter der Menschheit, für Religion, Wahrheit, Freiheit und Recht ernst und freimüthig wirken, die, wenn es gilt, für sie standhaft dulden und dem Tod unverzagt in’s Auge schauen. Sein „Anzeiger der Deutschen“ endete erst mit dem Jahre 1850, und viele unserer Leser werden sich des Blattes noch erinnern können.

Adolph Bube.


Stille Leute.


Mir gegenüber wohnt seit einigen Jahren ein gar seltsames Ehepaar. Es sind dies Leute so still und ruhig, daß selbst der eigensinnigste Hauswirth über solche Miethsbewohner nichts zu bemerken haben würde – sie sind beide taub. Nicht etwa erst in spätern Lebensjahren taub geworden, nein, sie sind’s von Geburt an. Nie ist ein Wort, ein Ton in ihre Ohren eingedrungen. – Lautlos bewegt sich Alles um sie her. – Seltsames Stillleben!

Ich war früher nie mit Taubstummen zusammengekommen, und meine Ansichten über solche Menschen waren höchst verworren. Ich hielt sie für jähzornig, mißtrauisch, jeder höhern Regung unzugänglich. Jetzt war mir Gelegenheit gegeben, diese Unglücklichen genau beobachten zu können. Ich mußte meine stillen Nachbarsleute näher kennen lernen. – Der Mann arbeitete als Tischler in einer großen Werkstatt und besorgte nebenbei auf eigne Hand in sein Fach einschlagende

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 599. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_599.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)