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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

beschäftigungslos, müßig in der leeren Gaststube saß, dem Eintretenden entgegen; schwer war es aber zu unterscheiden, ob sein Willkommen ein freudiger oder unmuthiger war, so schienen sich beide Empfindungen in seinen Zügen zu mischen: „haben Sie heute bei der Gnädigen nicht ankommen können?“

„Bei der Gnädigen?“ fragte Reichardt lachend.

„Gerade so!“ erwiderte der Andere, sein Gesicht unwillig verziehend, „ich habe mir Ihre Sache genau überlegt, und ich will Ihnen sagen, daß ich Sie jetzt vollkommen verstehe. Sie sind in das Frauenzimmer verliebt, und vielleicht um so mehr, weil sie jetzt einen alten Mann hat; deshalb gedenken Sie wahrscheinlich mit den Leuten zu gehen und lassen Ihr ordentliches Geschäft und Ihre guten Aussichten im Stiche.“

Reichardt konnte sich einer leichten Betroffenheit über die Auslegung, welche sein bisheriger Plan bei der Ausführung gefunden hätte, nicht erwehren, die aber schnell vor dem Glücke, das seine Seele füllte, verschwand. „Wissen Sie. daß es sehr unrecht ist, Meißner, einem Menschen dergleichen Dinge unterzulegen?“ sagte er, in sichtlicher Laune sich einen Stuhl herbeiziehend, „denken Sie nur, in welches Licht Sie mich damit stellen müssen.“

Der Kupferschmied warf einen halben Blick in sein Gesicht.

„Die Wahrheit wird meistens unrecht genannt,“ brummte er, „und Sie werden sie freilich jetzt nicht zugestehen!“

„Meißner, ich gehe ja aber gar nicht und bleibe, wo ich bin!“

Der Andere hob rasch den Kopf und sah dem Sprechenden scharf in die lachenden Augen. „Wollen Sie mich jetzt zum Narren machen oder haben Sie das heute Nachmittag gethan!“ rief er nach einer Pause.

„Keins von Beiden,“ erwiderte Reichardt mit dem vollen Ausdrucke des Glücks, „es ist nur eben ein Unterschied zwischen Nachmittag und jetzt. Es ist noch Alles geblieben, wie es war, Meißner, und doch hat sich auch wieder so viel geändert!“

„Ei, so geben Sie Räthsel auf, wem Sie wollen, mir aber müssen Sie beichten!“ rief der Kupferschmied aufspringend und faßte den Freund bei beiden Schultern; „kein Pardon!“ fuhr er fort, als der Andere abwehrend beide Arme gegen ihn ausstreckte, „denken Sie etwa, man quält sich Ihrethalber umsonst mit sich selbst herum und verdirbt sich den ganzen Tag?“

„Still jetzt, Meißner,“ entgegnete Reichardt ernster werdend und erhob sich, „Sie sollen Alles erfahren, sobald ich reden darf, und so fragen Sie jetzt nicht weiter. Vorläufig kommen Sie mit mir, damit wir ein ordentliches Abendbrod nehmen und eine Flasche Wein trinken; dann aber gehen wir zum alten Black.“

„Ab und zur Ruhe gewiesen, ich konnte mir es schon denken,“ brummte der Andere, die Arme sinken lassend; „aber auch gut! es dient wenigstens als Probe für eine uneigennützige Freundschaft!“

Mit einem kräftigen Kopfnicken eilte er davon, um seine gewöhnliche Umkleidung vorzunehmen.

Als Reichardt spät am Abend nach seinem Boardinghause zurückkehrte, ließ er sich noch Feder, Tinte und Papier nach seinem Zimmer bringen und schrieb an Mathildens Mann, daß seine Verhältnisse es jetzt nicht gestatteten, das ihm gemachte Anerbieten anzunehmen. An seine ehemalige Gefährtin selbst aber legte er einige Zeilen herzlichen Abschieds und freundlicher Wünsche für ihre fernere Zukunft bei, zugleich die Hoffnung aussprechend, ihr auf ihren beiderseitigen Lebenswegen einmal wieder zu begegnen. Er ging noch selbst nach dem Schalter der nahen Postoffice, um der Besorgung des Briefs am nächsten Morgen sicher zu sein. In seine Wohnung zurückgekehrt, begann er hier langsam auf und ab zu schreiten, bis er nach einer Weile, sich die Stirn reibend, mitten im Zimmer stehen blieb. Die Erregung, welche die letzten Ereignisse in ihm hervorgerufen, war vorüber, und fast wollten jetzt, wo er den letzten Schritt gethan, der ihn in seinem bisherigen Wirkungskreise festhielt, leise Zweifel in ihm aufsteigen, ob er nicht zu voreilig gehandelt. Was ihn wie in einem Zauber gefangen gehalten, während er es durchlebt, begann jetzt eine völlig verschiedene Färbung anzunehmen, und je genauer er das Geschehene betrachtete, je weniger vermochte er eine aufsteigende bängliche Ungewißheit von sich zu weisen. Hatte er doch nicht ein einziges Wort von Margaret, das ihn zu größern Hoffnungen als bisher berechtigte; von Mr. Frost’s Meinung seinen Gefühlen gegenüber kannte er nichts, als die sonderbare Miene, welche jener bei Harriet’s Mittheilung gezeigt hatte und die sich zuletzt nach allen Richtungen hin deuten ließ; und wenn er sich auch mit seinen Gedanken an Harriet klammerte, die ihn sicher nicht aus seinem Schweigen getrieben und ihm Hoffnungen gemacht haben würde, wenn nicht ein bestimmter Grund zu den letzteren vorhanden gewesen wäre, so hatte er doch schon selbst erfahren, wie leicht sich das Mädchen von einer Idee zum bestimmten Handeln fortreißen ließ, ohne die wirklich bestehenden Verhältnisse zu berücksichtigen. Langsam entkleidete er sich und suchte sein Bett, um sich von Neuem die Bilder des Tages vor die Seele zu rufen. Da trat ihm plötzlich Frost’s Aeußerung: „Ganz deutsch!“ in die Erinnerung und daneben Harriet’s spöttelnde Frage, ob er erst die allseitig genügendsten Versicherungen verlange, ehe er sich entschließe, nach einem Glücke zu greifen; – „ist es nicht Feigheit?“ klang es dann in seinen Ohren. Nein, er war nicht feig, er wäre kräftig und entschlossen in jedem andern Falle gewesen: und mochte es auch „deutsch“ sein, zu zagen, wo es galt, in eigener Sache keck nach dem Höchsten zu greifen, so würde er das jetzt wohl von sich werfen, wenn nur Margaret –! Ehe er den Gedanken indessen geendet, stand das in Thränen lächelnde Gesicht, wie es sich nach ihm gehoben, vor seinem innern Blicke, sah er in diese Augen, deren Ausdruck ihm einen Himmel in die Brust geworfen – er grübelte nicht weiter, aber tief in die Seele das vor ihn tretende Bild aufnehmend, war es seine letzte bewußte Vorstellung, ehe er entschlief. –

Es war ein eigenthümliches Gefühl, das sich Reichardt’s bemächtigte, als er am andern Morgen das Cassenzimmer betrat und von Bell’s bisherigem Arbeitsplatze Besitz nahm. Bei seinem Erwachen war ihm die neue Wendung seines Schicksals fast wie ein Traum erschienen, in dem seine am Abend zuvor durchkämpften Zweifel wie ein dunkler Punkt standen. Aber sich kräftig aus seiner Gefühlswelt aufraffend, hatte er sich den Stand der Dinge klar vor Augen gestellt, hatte erkannt, daß, möchten sich auch die ihn umgebenden Verhältnisse für oder gegen seine Hoffnungen gestalten, er ohne bestimmte Ursache nicht von Neuem zurücktreten könne, und vorläufig Allem, was sich aus den gestrigen Vorfällen entwickeln werde, ruhig entgegensehen müsse – und mit der gewonnenen Klarheit war auch seine ganze Seele durchwärmend, das Bewußtsein seiner neuen Stellung und der sich jetzt vor ihm eröffnenden Zukunft in ihm wach geworden. Demohngeachtet traten ihm bei seinem Eintritt in die Office alle Empfindungen, mit welchen er dieselbe gestern verlassen, wieder lebendig entgegen, und er konnte sich einer leichten Beklommenheit nicht erwehren, wenn er an das erste Begegnen mit dem allen Frost, dem er jedenfalls eine Erklärung schuldig war, dachte. Er war längst mit den ihm obliegenden Pflichten vertraut, aber er mochte demohngeachtet noch keine Hand an die von Bell abgeschlossenen Bücher legen, ehe nicht das erwartete Zusammentreffen vorüber war, und so blätterte er die vor ihm liegenden Papiere durch, ohne doch mit einem Gedanken bei der vorgenommenen Beschäftigung zu sein, aber jeden Tritt, der in dem vordern Zimmer laut wurde, belauschend.

Fast eine halbe Stunde mochte er in diesem Zustande verbracht haben, als er die Eingangsthür zur Office klappen und gleich darauf eine Stimme laut werden hörte, und „das ist er!“ murmelte er vor sich hin, seine ganze Fassung möglichst zusammenraffend.

Reichardt hatte sich erhoben, als Frost sichtbar wurde. Der erste Blick in das Gesicht des Eintretenden aber zeigte ihm, daß dieser von irgend einem geschäftlichen Gedanken ganz in Anspruch genommen sein mußte, und fast schien es, als wolle er ohne Aufenthalt nach dem hintern Zimmer gehen. Kurz vor der Thür des letztern erst hielt er, wie sich besinnend, seinen Schritt an und wandte sich langsam dem jungen Manne zu. „Ich war gestern leider verhindert, Ihren Entschluß entgegenzunehmen,“ sagte er, während sich ein seltsames halbes Lächeln um seinen Mund legte, „ich sehe aber, wir sind mit einander in Ordnung, und so wird es sich ja bald zeigen, wie weit das neue Arrangement unsern beiderseitigen Erwartungen entspricht. Notiren Sie sich vorläufig von heute ab denselben Gehalt, welchen Bell bisher bezogen.“ Er hielt inne und blickte, wie einen besonderen Gedanken verfolgend, in das Gesicht des Deutschen. „Johnson war heute schon bei mir,“ begann er nach kurzem Schweigen von Neuem. „und verlangt als

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 533. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_533.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)