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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Deutsche Herzen, deutscher Pöbel.

Erzählung von J. D. H. Temme.

Im verflossenen Sommer besuchte mich der Verwandte eines Freundes aus Deutschland. Es war ein sehr ernster Mann, im Anfang der dreißiger Jahre. Er war nicht immer so ernst gewesen. Ein Tag, eine Stunde kann die Stimmung eines Menschen für sein ganzes Leben begründen. Er erzählte mir Folgendes:

Ich war ein lustiger Student. Wir fuhren von der Universitätsstadt nach der benachbarten grösseren Stadt zum Theater. Eines Tages im Sommer war ich mit einem Freunde hingefahren; wir hatten uns verspätet, so daß wir, um nicht zu viel zu versäumen, sofort nach unserer Ankunft, ohne weiter Jemanden zu sprechen, uns zu dem Schauspielhaus begeben mußten.

Es wurde ein Lustspiel gegeben; das Haus war voll, wie gewöhnlich. Nur in einzelnen, gerade den vornehmsten Logen war es leer, die höchste Adels- und Beamten-Aristokratie fehlte. Das Fehlen der Stammgäste gerade und der höchsten Classen fiel uns auf. Wir fanden indeß keinen Bekannten, den wir nach der Ursache hätten fragen können. In unserer Nachbarschaft wurde darüber gesprochen, aber nur Weniges, das uns keinen Aufschluß gab.

„Wo ist denn heute die Generalin mit ihren Töchtern, Herr Lieutenant?“

„Wie? Sie wissen nicht, Herr Assessor? Die wohnen einem interessanteren Schauspiele bei.“

„Ah, dort sind sie!“

„Allerdings. Auch die Präsidentin ist da und die schöne Comteß Gleichen.“

Sie sprachen noch von Mehreren, die zu dem „interessanteren Schauspiele“ gegangen seien. Was für ein Schauspiel es war, sagten sie nicht; Jeder setzte voraus, daß der Andere es kenne, und Jeder kannte es.

Das Theater war spät zu Ende. Mein Freund und ich kehrten zu unserem Gasthofe zurück und hofften dort zu erfahren, was alle Welt in der Stadt zu wissen schien. Der Gasthof lag vor dem Thore der Stadt, und um ihn schneller zu erreichen, hatten wir Seitenstraßen eingeschlagen, die zu den abgelegensten der Stadt gehörten, schon bei Tage wenig besucht und in der weit vorgerückten Abendstunde fast leer waren. Wir hatten mehrere zurückgelegt, und anfangs war uns noch hin und wieder Jemand begegnet, seit einer Weile aber schon war der Laut unserer eigenen Schritte der einzige Ton, den wir vernahmen, und gesehen hatten wir in den dunklen Gassen schon lange nichts mehr. Wir hatten oft, auch zur Nachtzeit, diese Straßen und Gassen durchwandert. Es wohnten nur geringe Handwerker und Arbeiter da, Leute, die vom frühen Morgen an den ganzen Tag hindurch ihre schwere, saure Arbeit haben und am Morgen früh zu dieser Arbeit wieder bei der Hand sein müssen; da legen sie sich denn auch früh am Abend zur Ruhe. Aber hin- und wieder hatte man doch Leben gesehen und gehört. Die Stille des heutigen Abends glich einer unheimlichen Todtenstille.

Auf einmal mußten wir unwillkürlich unsere Schritte anhalten. Eine Seitenstraße durchschnitt die Straße, in der wir gingen. Ein Schritt kam daraus hervor, ein schneller, leichter, flüchtiger Schritt. An der Kreuzung der Straße brannte eine Laterne, eine matte, hochhängende Oellampe. Aber wie schwach sie brannte, sie zeigte eine hohe, dunkle Frauengestalt, die an uns vorüberschritt.

„Teufel, eine schöne Gestalt!“ flüsterte ich meinem Freunde zu. „Und wie leicht und schwebend der Gang! Und wie war die Haltung!“

„Du bist ein Narr,“ sagte mir mein Freund zurück. „Komm nur.“

Er kannte mich. Wie gern ist ein lustiger Student auch ein leichtsinniger! Und was liebt und sucht der Leichtsinn mehr, als leichtsinnige Abenteuer?

„Ich muß ihr nach,“ versicherte ich meinen Freund.

Er wollte mich zurückhalten.

„Sie geht dem schlechtesten Winkel zu, der verrufensten und gefährlichsten Gegend der Stadt.“

„Meinetwegen.“

„Es muß schon elf Uhr vorbei sein.“

„Meinethalben mag es schon Mitternacht sein.“

Mein Freund kannte mich ganz, er wußte auch, daß ich das, was ich in meinem Leichtsinn mir einmal vorgenommen hatte, ausführen müsse. „Nimm das!“ sagte er nur noch.

Er reichte mir einen Dolch zu, den er in der damaligen nicht ganz gefahrlosen Zeit immer bei sich zu führen pflegte. Er war ein solider, vorsichtiger junger Mann. Wir trennten uns. Er ging weiter die Straße hinunter, ich schlug die Querstraße rechts ein und folgte der Frau. Sie war mit ihrem schnellen, leichten Schritt an uns vorübergegangen; sie hatte nicht nach uns hingeblickt, um so weniger hatte ich in der schwachen Beleuchtung der Laterne ihr Gesicht sehen können. Ich hatte sie bald eingeholt[WS 1]; sie war schneller gegangen, als sie meinen Schritt hinter sich gehört hatte.

Ich war an ihrer Seite. Ihre Gestalt hatte sich mir, je näher ich ihr kam, in schärferen und in schöneren Umrissen gezeigt; sie war groß, schlank, voll. Sie mußte jung sein, wenn auch der

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Original: einholt
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 369. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_369.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)