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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

„Nicht wahr? So habe ich mich auch schon gefragt!“ versetzte sie. „Warum fürchtet sich aber der Vogel auf dem Baume vor der Klapperschlange, die ihn doch scheinbar niemals erreichen kann? Aber ich will Ihnen sagen, daß ich mich noch drei Mal so stark gegen sonst fühle, seit Sie hier sind – ich könnte Ihnen auch dafür keinen eigentlichen Grund anführen, und doch ist es so. – „Well, Sir!“ lachte Harriet plötzlich, „unsere Bekanntschaft gehört sicher zu den ganz besonderen. Nach nicht einmal zwölfstündiger Bekanntschaft nimmt sich der Herr Freiheiten heraus, die Harriet Burton noch niemals geduldet, und in der nächsten Stunde, in welcher sie ihn sieht, schließt sie ihm das Geheimste ihres Herzens auf, als habe das kaum anders sein können.“

(Fortsetzung folgt.)

Blätter und Blüthen.

Karl August als Vorspanner. Weimar war zu Ende des vorigen Jahrhunderts einer der schmutzigsten Orte; in den Gassen der Stadt, in denen der Lottenbach floß, waren sogenannte Schrittsteine angebracht, mit Hülfe deren man von einer Seite der Gasse zur andern gelangen konnte, wenn man trockene Füße behalten wollte. An eine Straßenordnung, wie wir sie jetzt haben, war nicht zu denken, in den Gassen wuchs Gras, und Haufen von aus den Häusern geworfenem Unrath lagen herum. Früh lud der Kuhhirt durch das Horn zum Austreiben der Kühe ein, dann kam der Schweine- und Gänsehirt, am Abend wurde das Vieh wieder eingetrieben. Bis zu den Thoren der Stadt waren die Straßen leidlich gepflastert, aber in den Vorstädten watete man bis an die Knöchel im Kothe.

Um jene Zeit war das heilige römische Reich noch nicht zerfallen, und Erfurt gehörte noch zu dem Kurfürstenthum Mainz; in Erfurt residirte Dalberg als Coadjutor, und viele Erfurter rühmen heute noch jene goldene Zeit.

Die Chaussee reichte bis gen Nohra, dem ersten kurmainzer Dorf, von da begann Feldweg, und im Sommer bei heftigen Gewittern oder Regengüssen war derselbe schwer, im Winter aber beinahe unfahrbar. Wir hatten damals hier in Weimar einen schon bejahrten Fuhrmann, Namens Stachelrath, dieser besorgte das Botenfuhrwerk und war zu gleicher Zeit Gemüsehändler. Jede Woche fuhr er zweimal nach Erfurt und brachte dann Gemüse, so viel wie er laden konnte, herüber nach Weimar. Er stand sich dabei sehr gut, denn zu jener Zeit wurde Weimar noch nicht von allen Seiten mit demselben versorgt. Vorzüglich war die Strecke Wegs vom Linderbacher Spittel, der links an der jetzigen preußischen Grenze an der Straße liegt, im Herbst und im Frühjahr, sowie auch die übrigen Jahreszeiten bei heftigen Gewittern oder Regengüssen, beinahe nicht passirbar; mancher Fuhrmann dachte mit Schrecken lange daran, wenn er zufällig zu einer solchen Zeit diesen Weg hatte passiren müssen.

Einstmals, es war an einem sehr schwülen Sommertage, an welchem der Himmel mit drohenden Gewitterwolken bedeckt war, fuhr unser Stachelrath mit seinem Sohne, einem Knaben von 9 bis 10 Jahren, mit schwerbeladenem Wagen zum Schmidtstädter Thore heraus, um noch diesen Abend nach Weimar zurückzukehren. Doch kaum hatte er die Stadt im Rücken, als sich ein so heftiges Gewitter entlud, daß nach kurzer Zeit die Räder immer tiefer in den schon ohnedies moorigen Boden einschnitten und endlich trotz allem Schreien und Prügeln die Pferde den Wagen nicht von der Steile brachten. Der Alte überlegte mit seinem Jungen, was da zu thun sei, doch da war guter Rath theuer, denn es wetterte unaufhörlich fort.

Als sie nun Beide, ohne zu einem Entschluß zu kommen, dastanden, kam desselben Wegs eine offene Droschke, aus welcher ein Herr in einen Mantel gewickelt, der Kutscher und ein Diener saß. „Wer ist der Kerl, der da stecken geblieben ist?“ fragte derselbe.

„Durchlaucht,“ erwiderte der Diener, „das ist unser alter Stachelrath, der Botenfuhrmann und Grünwaarenhändler.“ – „So, na da spanne einmal Deine Pferde ab (es waren deren vier Allstedter Rappen), hänge ihm vor und bringe ihn auf’s Trockene; die Droschke könnt Ihr so lange hinten anbinden, da komme ich auch gleich mit fort.“ Der Kutscher und Diener befolgten augenblicklich den Befehl, und in einigen Minuten wurde der Wagen von den muthigen Pferden in Bewegung gesetzt und bis zum Spittel geschleppt, wo der Boden fest war. Es war Karl August, Herzog von Sachsen-Weimar. Auf dem Platze angekommen, sagte er zu Stachelrath: „Nimm Dich in Acht, daß Du nicht wieder stecken bleibst, denn Du könntest vielleicht nicht so schnell Vorspann bekommen als jetzt. Adieu.“

„Durchlaucht,“ rief Stachelrath, „die Vorspann bleibe ich schuldig.“

In Nohra, dem letzten Dorfe vor Weimar, wechselte Karl August die Pferde, die hier bereit standen, und der Kutscher ließ dieselben ein wenig Heu fressen und verschnauben. Während dieser Zeit kam Stachelrath auch angefahren und wollte dem Kutscher ein Trinkgeld geben, dieser erwiderte: „Laß’ nur gut sein, der Alte hat schon Alles besorgt.“

Am nächsten Sonntag Morgen kleidete sich Stachelrath in seinen Sonntagsstaat, der in schönen, gelbledernen kurzen Beinkleidern mit silbernen Knöpfen und Schnallen garnirt, hellblauen Strümpfen und Schuhen mit schweren, silbernen Schnallen, rother Weste mit lüneburger Zweigroschenstücken und Sammtjacke mit dergleichen Viergroschenstücken statt der Knöpfe, und einem Hut, der der Form halber Schröpflampe genannt wurde, bestand. So ging er nach dem Fürstenhause, das Schloß war damals noch nicht fertig gebaut, und meldete sich in der Garderobe bei dem dienstthuenden Kammerdiener.

„Was willst Du, Stachelrath?“ redete ihn derselbe an.

„Was ich will? Ich will Durchlaucht meine Vorspann bezahlen, er hat mir am Freitag vorgehängt.“

„Kerl, bist Du toll?“ erwiderte der Kammerdiener.

„Ne, ne! ich bin nicht tolle, er hat mir vorgehängt.“

Der Kammerdiener meldet Stachelrath, und Karl August läßt ihn eintreten.

„Was bringst Du, Stachelrath?“ fragte ihn der Herzog.

„Durchlaucht, Vorspann will ich bezahlen und mich schön bedanken,“ erwiderte derselbe.

„Nun, nun, schon gut, Stachelrath, wenn ’s wieder so trifft, so hänge ich Dir wieder vor.“

„Nun, Durchlaucht, wenn Sie mit Gewalt nichts nehmen wollen, da bringe ich Ihnen wenigstens ein Paar recht schöne Erfurter Rettige mit,“ und dabei zog er etliche große Rettige aus der Tasche, die der gute Herr, welcher gern etwas Pikantes aß, auch dankbar annahm.

Mämpel.

Die Marseillaise von einem Deutschen componirt. Die Revolutionshymne, unter dem Namen „Marseillaise“ bekannt, unter deren Klängen die Säulen des französischen Königthum zusammenbrachen, wie die Mauern Jericho’s vor den Posaunen Josua’s, alttestamentlichen Andenkens, ist nicht, wir bisher angenommen wurde, von dem französischen Dichter Delisle, sondern von einem ehrlichen Deutschen, dem kurfürstlich pfälzischen Hofcapellmeister Holtzmann, componirt worden. Es ist dies derselbe Holtzmann, von welchem Mozart in Briefen aus Mannheim an seinen Vater Rühmliches schreibt, und von welchem während Mozart’s Anwesenheit in Paris eine geistliche Cantate aufgeführt wurde.

Als dieser kurpfälzische Kapellmeister die Melodie zur Marseillaise componirte, lag es allerdings nicht in seiner Absicht, eine so weltstürmerische Fanfare zu schaffen, eben so wenig mag er geahnt haben, daß das Kind seiner Muse so ganz von dem Weg seiner Bestimmung abweichen und der Führer einer gottesleugnerischen, republikanischen Armee werden würde, denn – wer wird dies vermuthen? – die Melodie, an die sich so viele blutige Erinnerungen knüpfen, ist ursprünglich die Musik zu einem Credo aus einer Messe, die ungefähr zwanzig Jahre vor der französischen Revolution componirt wurde.

Das Manuscript, aus welchem ich die Entdeckung machte, ist mit der Jahrzahl 1776, versehen. Während meinen Aufenthalten in Meersburg, der ehemaligen Residenz der Fürst-Bischöfe von Constanz, wo ich als Organist und Musikdirektor an der Stadtkirche angestellt war, musterte ich fleißig die ziemlich umfangreiche musikalische Bibliothek, die unter meiner Verwaltung stand; besonders interessirten mich die vom Kloster Salem an Fürst Dalberg und von diesem an die Stadtkirche übergegangenen Manuscripte, meistens Messen, Vespern etc. von italienischen und deutschen Meistern. Unter diesen fand ich sechs Messen mit dem Titel: VI Missae breves, stylo elegantiori ad modernum genium elaboratae, comp. de Holtzmann, die mich ihres schönen Gesanges, ihrer fließenden Melodien, reinen Satzes und leichter Instrumentirung wegen besonders ansprachen. Ich sah sie deshalb genau durch und wunderte mich natürlich nicht wenig, in Nr. IV (ex G) die vollständige Melodie der Marseillaise im Credo wieder zu finden. Wie man sieht, handelt es sich hier nicht um eine Aehnlichkeit, eine Reminiscenz, die auch zufälliger Weise absichtslos hätte entstehen können, sondern es ist fast Note für Note eine Gleichheit in Melodie, Harmonie, Takt und Tonart, daß Herr Delisle die Holtzmann’sche Messe vor sich gehabt, beziehungsweise abgeschrieben haben muß, als er die Musik auf sein Gedicht setzte. Es läßt sich die Sache auch leicht erklären: Herr Delisle dichtete seine Hymne und wollte sie auch gleich gesungen haben; da ihm aber gerade kein Componist zu Gebote stand, machte er, als Dilettant in der Tonkunst, sich die Musik selbst zurecht. Wahrscheinlich spielte oder sang er öfter in Kirchen und Klöstern mit, wodurch ihm die Holtzmann’schen Messen, die auch wirklich am Rhein, im Elsaß, den Bisthümern Speier und Straßburg, wenn auch nur in Abschriften, sehr verbreitet waren, bekannt wurden. Er fand es denn bequemer, eine schon vorhandene Melodie seinen Worten anzupassen, als eine neue zu erfinden. Wir wollen ihn auch deshalb nicht tadeln, er hat einen guten Griff gethan, und wenn dies die einzige Plünderung an deutschem Eigenthum wäre, die in der damaligen Zeit vorgekommen, so wären unsere Vorfahren zu beglückwünschen gewesen; dessen ohngeachtet glaubte ich der Wahrbeit ein Zeugniß geben zu müssen, was ich um so lieber thue, als es sich um das geistige Eigenthum eines deutschen Componisten handelt, dessen Werke es verdienten, aus der Vergessenheit gerissen zu werden.

Um die Sache ganz zu begreifen, muß man sich einen Begriff von den frühern musikalischen Zuständen machen können; da ich aber nicht zu weitläufig werden will, bemerke ich nur kurz, daß fast kein Ort war, in welchem nicht Kirchenmusik (mit Singstimmen, Orgel, Streichquartett, Horn und Oboen) anzutreffen war, und Jeder es sich zur Ehrensache machte, mitsingen oder ein Instrument spielen zu können. Die Kirchenmusik war an katholischen Orten in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ungefähr das, was jetzt die Gesangvereine sind, ja es herrschte ein noch viel leichterer, fast möchte ich sagen, leichtsinnigerer Ton, der so ungezwungen war, daß Jedermann sich gern dabei betheiligte. Diejenigen Componisten waren die beliebtesten, welche etwas „Lustiges“ brachten, und alle damaligen Componisten willfahrten gerne diesem Wunsche, selbst Haydn und Mozart, – nach meiner Ansicht mit Recht, denn um die Leute trübselig zu machen, dazu bedarf’s wahrlich keiner Musik. Warum ein aufgeheitertes, fröhliches Gemüth Gott weniger angenehm sein soll, als ein von heuchlerischer Zerknirschung erfülltes, kann ich nicht begreifen. Ich kenne keine Biographie von Delisle, allein es würde sich aus den Aufenthaltsorten dieses Dichters wohl die Kirche ausfindig machen lassen, wo er den musikalischen Edelstein fand, mit dem er sein begeisterungsvolles Gedicht schmückte und dadurch diesem eigentlich erst seine volle Bedeutung verlieh. Inzwischen mache ich diejenigen, welche sich für diese Angelegenheit interessiren, darauf aufmerksam, daß die Holtzmann’schen Messen als Eigenthum der Stadtkirche zu Meersburg in der dortigen Kirchenmusiksammlung aufbewahrt werden, und das besprochene Marseillaise-Credo wird von dem jetzigen Chormusikdirector gewiß gern im Original vorgezeigt werden.

J. B. Hamma.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_256.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)