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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Schritte entgegen. Als der Officier das Anliegen vernommen hatte, trat er artig grüßend näher und sagte höflich: „Der Lieutenant Bonaparte wohnt dort oben in dem hohen Giebelhause, das Sie von hier aus sehen können.“

„Er ist also nicht verreist?“ erwiderte der Student dankend.

„Nein, er ist hier, und wahrscheinlich treffen Sie ihn in seiner Wohnung, denn er ist sehr fleißig und häuslich.“

„Das ist mir lieb zu hören. Ich fürchtete, ihn nicht in Valence zu finden, da ich weiß, daß seine Familie ihn in Ajaccio erwartet.“

Der Officier, der ein schöner, junger Mann war, schüttelte den Kopf und sagte mit einem muthwilligen Lachen: „Ich glaube nicht, daß er jetzt auf Reisen gehen wird, denn er hat hier Besseres zu thun. Auch bin ich mit ihm gut befreundet und weiß nichts davon. Sie sind sein Landsmann?“

„Ja, mein Herr.“

„Und heißen Pozzo di Borgo?“

„Ja, mein Herr.“

„Er hat mir diesen Namen zuweilen genannt. Sind Sie nicht besonders befreundet mit seinem älteren Bruder Joseph?“

„Sie haben ganz Recht.“

„Und sind mit ihm selbst dagegen in mancherlei Streit gerathen?“

„Knabenstreite bei Knabenspielen.“

„Er will überall der Erste sein,“ lachte Demarris, „und streitet für sein Leben gern. Bei alledem wird er sich freuen, Sie zu sehen. Ich bedauere, daß ich Sie nicht begleiten kann; doch ich habe einer Dame meinen Besuch versprochen, und Damen muß man Wort halten.“

„Man muß immer Wort halten,“ sagte Pozzo di Borgo freundlich. „Vielen Dank, mein Herr.“

„Ich hoffe, wir sehen uns noch,“ rief Demarris. „Sie werden Valence doch nicht gleich wieder verlassen wollen?“

„Ich bleibe wohl einen und den anderen Tag, ehe ich meinen Weg nach Paris fortsetze.“

„Nach Paris wollen Sie? Sie sind zu beneiden. Es gehen große Dinge dort vor sich.“

„Es werden noch größere vorgehen,“ antwortete Pozzo di Borgo.

„Die Nationalversammlung wird vom Könige nach Soissons geschickt werden. Haben Sie davon gehört?“

„Ich habe nichts davon gehört.“

„Nun, man wird sich schon vertragen!“ rief Demarris. „Ein ganzes Heer lagert um Paris, schade daß wir nicht dabei sind. Aber ich will Sie nicht länger aufhalten. Fahren Sie nach dem rothen Hause, dort speist man am besten, ich esse auch dort. Und grüßen Sie Bonaparte. Pardon! noch einen Augenblick. Er wollte ebenfalls Frau von Colombier seinen Besuch machen. Er soll bald nachkommen und soll Sie mitbringen. Ich werde Sie anmelden. Verlassen Sie sich darauf, Sie werden willkommen sein und die liebenswürdigste Aufnahme finden. Es ist eine der ersten und ausgezeichnetsten Familien in Valence. Auf Wiedersehen also, Herr Pozzo di Borgo. Sie werden finden, daß die Damen von Valence den Ruf ihrer Schönheit verdienen. Adieu! Adieu!“

So selbstgefällig lachend und höflich grüßend ging der Lieutenant zum Thore hinaus und trällerte unter der Wölbung ein Liedchen, während der Postkarren in entgegengesetzter Richtung weiter rumpelte.

„Meiner Treu!“ murmelte der junge Rechtsgelehrte vor sich hin, „wenn Napoleon Bonaparte viele solche intime Freunde hat, wie diesen, so muß er sich sehr verändert haben – doch nein,“ fuhr er fort und ein spöttisches Zucken flog um seinen Mund, „er hat sich immer Leuten zugeneigt, die sich von ihm bevormunden ließen und ihn bewunderten, und dieser geschwätzige Camerad ist sicher einer von der Sorte, wie sie ihm zumeist behagt.“

Der Führer des Karrens hatte die Weisung empfangen, nach dem rothen Hause zu fahren, und bald hielt er dort, wo Pozzo di Borgo wohl aufgenommen wurde. Als das Fuhrwerk an dem hohen Hause vorüberrollte, in welchem der Lieutenant Bonaparte wohnte, sah sein Landsmann hinauf, es war jedoch Niemand zu erblicken. Der junge Mensch, welcher im dritten Stock aus dem Fenster schaute, als der Karren vor der Wache hielt, hatte sich längst wieder von diesem Platze entfernt und saß nun an einem hochbeinigen Schreibpulte, mit der einen Hand seinen Kopf stützend, in der anderen eine abgeschriebene Feder haltend, welche eilig über den Papierbogen flog, der vor ihm lag. Diesen Bogen hatte er beinahe voll beschrieben und eine Anzahl anderer schichteten sich in einem Fache auf. Das Stübchen war klein und ziemlich ärmlich möblirt. Ein Bett in der Ecke, ein Schrank an der anderen Seite, einige Riegel, an denen Kleidungsstücke hingen, ein Tisch und einige Stühle, die unordentlich umherstanden, nahmen den meisten Raum fort. Auf dem Schreibpulte lag ein Haufen Bücher, einige davon aufgeschlagen. Papierstücke, die beschrieben und zerrissen, angefangene Zeichnungen, denen es nicht besser ergangen, zerspaltene und zerbrochene Federn und Bleistiftsplitter bedeckten den Fußboden, dem mancherlei große Tintenflecken überdies nicht fehlten. Landkarten waren an die Wände genagelt, eine große Karte überdeckte den Tisch, und an verschiedenen Stellen derselben steckten Nadeln mit rothen, schwarzen und farbigen Köpfen. Am Pfeiler hing ein schmales Spiegelglas, gesprungen von oben bis unten, darunter aber auf der Tischecke schimmerte ein Blumenstrauß in ein Wasserglas gestellt und von einem blauen Bande umwunden. Es war dies der einzige freundliche Schmuck des Zimmers, das einzige Zeichen der Sorgfalt seines Bewohners, überall sah es sonst wüst und wirr aus. Das Bett selbst befand sich in Unordnung, mit Uniformstücken beworfen, und der Degen des Herrn Lieutenants Bonaparte, welcher daran gelehnt hatte, war heruntergerutscht, daß er nur noch mit dem Gefäß an einer Kante festhing.

Aber Napoleon Bonaparte hatte keine Augen dafür. Er richtete diese unverwandt auf den Bogen vor sich und schrieb mit Hast. Zuweilen jedoch hielt er inne, strich aus und schrieb von Neuem, warf seine Blicke lebhaft umher und zum offenen Fenster hinaus auf die grünen Berge und den fluthenden Strom, der einen leuchtenden Streif in der Ferne erkennen ließ; dann warf er sich selbst in den Stuhl zurück und starrte die Zimmerdecke an, um plötzlich aus dieser Ruhe aufzufahren und wiederum seine Feder arbeiten zu lassen.

Die schmale, untersetzte Gestalt des jungen Mannes schien von außerordentlicher Beweglichkeit. Er gehörte zu den Menschen, deren geistiges Leben auch den Körper in fortgesetzter Unruhe erhält. Unter dem alten Militairrock ruckten seine Füße und sein Leib hin und her, und an der schmalen Hand, welche seinen Kopf stützte und über welche das feine schwarze Haar fiel, zuckten seine Finger bald hier, bald dort. Es war kein eben schöner Kopf, der aus der dunklen Halsbinde hervorstieg, aber doch ein Kopf von eigenthümlichen Formen und anziehendem Gepräge. Gelb und blutlos die Gesichtsfarbe, feingebildet und fest Nase und Mund, die Stirn hoch und besonders breit, eine knochige, mächtige Denkerstirn, das Haar darüber seidig glänzend, die Augen tief, dunkel und von durchdringendem Feuer. Ein kühner Ausdruck überlegener geistiger Kraft und Kälte nahm diesem Gesicht die jugendliche Frische; man sah ihm an, daß heftige Leidenschaften es plötzlich in Aufruhr bringen konnten, und daß es nicht für die leichtfertige Lust und Fröhlichkeit eines sorglosen, jungen Officiers geschaffen sei.

Dazu stimmte es auch sicherlich, daß an diesem schwülen Nachmittage der zwanzigjährige Lieutenant hier einsam auf seinem Zimmer, vergraben unter Büchern und Papieren, arbeitete, während seine Kameraden, wie der muntere Demarris, umherschwärmten, um zu trinken, zu spielen oder schönen Damen den Hof zu machen, und so ernstlich war diese Arbeitsamkeit gemeint, daß Napoleon Bonaparte es nicht hörte oder beachtete, als draußen feste Schritte sich seiner Thüre näherten und bald darauf wiederholt an diese geklopft wurde.

Erst als die Thür sich aufthat und Jemand hereintrat, erregte dies seine Aufmerksamkeit; allein er sah sich nicht um, sondern rief, ohne den Kopf aufzuheben und nicht allzu freundlich: „Warum kömmst Du jetzt? Ich kann Dich nicht gebrauchen. Doch halt, setze Dich nieder und schweige still, bis ich Zeit habe mit Dir zu sprechen.“

Der Eingetretene befolgte diese Weisung pünktlich. Er ging an den Tisch, welcher hinter dem schreibenden Lieutenant stand, setzte sich dort auf einen Stuhl, betrachtete die Karte mit den Nadeln, dann das Zimmer sammt Allem, was sich darin befand, endlich das Glas mit den Blumen unter dem Spiegel, und zuletzt ruhten seine Blicke nachdenklich und unverwandt auf dem Schreibenden, obwohl eben nur dessen bewegliche Schultern und Beine und die fingernde Hand sich seinen Betrachtungen darboten.

So verging einige Zeit, ehe eine Unterbrechung stattfand. Plötzlich aber lachte der Lieutenant Bonaparte auf und rief mit seiner scharfen Stimme: „Warst Du schon bei Frau von Colombier?“

„Nein,“ lautete die Antwort.

„Du hast also Fräulein Beatrice noch nicht gesehen?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_210.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)