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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

eines jeden organischen Wesens auf die innigste, aber oft verborgene Weise mit der aller andern organischen Wesen zusammen, sowohl derer, mit denen es in Mitbewerbung steht, als auch derer, von denen es lebt oder verfolgt wird.

Dieser „Kampf um’s Dasein“, von dem hier nur einige wenige Beispiele aufgeführt werden konnten, hat nun eine große und merkwürdige, oben schon angedeutete Folge! Alle organischen Wesen sind von Natur aus derart zu kleinen Abänderungen von ihrer Art geneigt, daß einzelne Individuen einer Art von Zeit zu Zeit derartige Abweichungen zeigen und durch Vererbung derselben auf ihre Nachkommen eine sogenannte Abart erzeugen. Diese Abänderungen können entweder nachtheilig oder vortheilhaft oder keines von Beiden sein. Ist das Letztere der Fall, so hat die Sache keine weitere Folge. Ist dagegen die Abänderung nachtheilig, so wirkt sie in demselben Maße auf die Vertilgung des sie besitzenden Wesens hin, wie eine vortheilhafte auf dessen Erhaltung und Ausbreitung wirkt, indem sie demselben ein Uebergewicht über seine Mitwesen in dem Kampfe um das Dasein verleiht. Denkt man sich dieses durch hundert oder tausend oder noch mehr Generationen hindurch fortgesetzt, so ist leicht einzusehen, wie die Natur stets bestrebt sein muß, nicht nur die besten Formen zu erhalten und die schlechtesten zu unterdrücken, sondern auch überall schöne und zweckmäßige Anpassungen der kämpfenden Wesen unter einander oder an die äußeren Lebensbedingungen hervorzurufen. Wirkt z. B. große Kälte auf eine Gegend ein, so haben nur diejenigen Einzelwesen Aussicht ihr zu widerstehen, welche durch Kraft oder durch dichte Bedeckung oder irgend einen sonstigen Vortheil vor ihren Mitwesen ausgezeichnet sind – Vortheile, welche sie auf ihre Nachkommen forterben und so allmählich ein zum Aufenthalt in einem Klima besonders befähigtes Geschlecht hervorbringen.

Ein auf grünen Blättern sich aufhaltendes Insect von grüner oder ein auf Baumrinden lebendes von grauer Farbe hat längst seine andersgefärbten Mitwesen in dem Kampf um das Dasein überwunden und vernichtet, weil es einen Vortheil in Bezug auf Verfolgung vor ihnen voraus hatte, den jene nicht besaßen. Wenn das Alpenschneehuhn weiß oder der Birkhahn mit der Farbe der Moorerde erscheint, so sind diese Farben Einzelnen unter ihren Vorfahren nützlich gewesen und ihnen von diesen vererbt worden. Wenn der Hirsch ein kräftiges Geweih oder wenn der Hahn einen starken Sporn hat, so haben diese Organe ihren Vorfahren in dem Kampfe gedient, welchen diese Thiere um ihre Weibchen zu bestehen pflegen, und haben sich dadurch, daß sie Einzelnen unter diesen durch stärkere Hervorbildung einen größeren Vortheil gewährten, in steigender Entwicklung auf die Nachkommen fortgeerbt. So auch mag z. B. das Auge, dieses vollkommenste der Organe, durch zahllose Abstufungen von einem einfachen empfindenden, mit Pigment umgebenen und von einer durchsichtigen Haut bedeckten Nerven, wie er sich bei den Kerbthieren findet, allmählich bis zu seiner jetzigen hohen Ausbildung gelangt sein – eine Ausbildung, welche indessen immer noch nicht allen Anforderungen an Vollkommenheit entspricht. Die nektarabsondernden Pflanzen haben einen Vorzug vor denen, welche dieses nicht thun, wegen der Insecten, welche sie am liebsten besuchen, und der dadurch erleichterten Befruchtung. Je mehr Blüthen- oder Fruchtstaub eine Pflanze hervorbringt, um so größer ist ihre Aussicht auf Erhaltung und Fortpflanzung dieser Eigenthümlichkeit, wenn auch die Menge der Keimstoffe, welche ein organisches Wesen erzeugt, hierbei nicht allein bestimmend ist, sondern noch eine Menge andrer oft unbekannter Umstände mitwirken. So legt der Eissturmvogel nur ein Ei und soll doch der zahlreichste Vogel der Welt sein. In Ostindien findet man Pflanzen, welche erst seit der Entdeckung von Amerika von da eingeführt worden sind und welche, durch die Umstände begünstigt, sich dergestalt entwickelt haben, daß sie jetzt vom Cap Comorin bis zum Himalajah reichen.

So ist die aus dem Kampfe um das Dasein nothwendig folgende natürliche Züchtigung täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, auch die geringsten Abänderungen oder Anpassungen ausfindig zu machen, sie zu verbessern, wenn gut, oder zurückzuwerfen, wenn schlecht, und damit die organische Welt einer steten Vervollkommung entgegenzuführen. Minder begünstigte Formen müssen dabei nothwendig abnehmen, seltener werden und endlich aussterben, um neuen, kräftigeren oder besser angepaßten Formen Platz zu machen, wofür die zahlreichsten und treffendsten Beispiele vorliegen. Ja, die Arten müssen fortwährend abändern, um nur bei Kräften zu bleiben. Jede Spielart, jede neu entstandene Art hat eine größere Kraft und Lebensfähigkeit, als die früheren, und läßt diese, mit seltenen Ausnahmen, nicht mehr aufkommen, weshalb auch eine geschlagene Art kaum jemals wiederkehrt, sie ist für immer vertilgt. Die heutige Welt, als die jüngste, ist auch die verhältnißmäßig stärkste und schlägt alle andern, wofür die canarischen Inseln und Neuseeland ein treffliches Beispiel liefern. An diesen Orten hat sich ihrer isolirten Lage halber eine ältere und weniger vervollkommnete, den längst untergegangenen Formen ähnlichen organische Welt erhalten, welche aber durch die nun von Europa her eingeführten Pflanzen und Thiere auffallend rasch unterdrückt und ausgerottet wird, weil diese in dem Kampfe auf einem größern Gebiet und unter mannigfaltigeren Lebensverhältnissen eine größere Kraft und Lebenszähigkeit erlangt haben. Sogar Thiere, welche an längst vergangene organische Zeitalter erinnern, wie das Schnabelthier und das Schuppenthier, und welche man gewissermaßen als lebende Fossilien ansehen kann, haben sich an solchen isolirten Orten, geschützt vor der Mitbewerbung, noch bis auf den heutigen Tag erhalten.

Dieses Princip scheint nun seinem Entdecker Darwin ausreichend, um daraus eine vollständige Lösung für das größte und schwierigste Räthsel der Naturforschung, an dessen Erforschung bereits die besten und tiefsten Denker vergeblich ihre Kräfte versucht haben, das Geheimniß der Geheimnisse, wie es ein englischer Philosoph nennt, abzuleiten. Indem dasselbe während Millionen und aber Millionen Jahren durch alle Generationen von Pflanzen und Thieren hindurch fortwirkte und in unzähligen Abstufungen allmählich Wirkung auf Wirkung häufte, soll es im Stande gewesen sein, nicht blos Abarten, sondern selbst neue Arten, Gattungen, Familien und Classen zu erzeugen und so vielleicht aus dem einfachsten und unscheinbarsten Anfang durch stufenweise Vervollkommnung die ganze ungeheure Reihe untergegangener und lebender Wesen hervorzubringen.

Es steht dem Verfasser dieses Aufsatzes nicht zu, über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieses Gedankens abzusprechen; die Gelehrten, unter denen die neue Idee ohne Zweifel große Bewegung und erbitterten Streit hervorrufen wird, werden darüber zu entscheiden haben, ob das Darwin’sche Naturgetz und die von ihm mit außerordentlichem Scharfsinn und seltener Gelehrsamkeit entwickelten Gründe und Thatsachen ausreichen, um eine so wunderbare Erscheinung, wie den Anwachs der organischen Welt auf Erden, auf natürliche Weise zu erklären, oder ob es hierzu noch anderer, bis jetzt unbekannter oder nur geahnter natürlicher Ursachen bedarf. Fällt die Antwort bejahend aus, so hat Darwin unsterbliches Verdienst erworben und für die organischen Naturwissenschaften dasselbe geleistet, was der berühmte Geolog Eyell für die Geschichte der Erde geleistet hat, d. h. aus kleinen und unscheinbaren Ursachen, welche noch heute und unter unseren Augen wirksam sind, und unter Anwendung eines einfachen und einheitlichen Princips die größten und wunderbarsten Wirkungen der Natur in Vergangenheit und Gegenwart abgeleitet. Sollte aber auch die Antwort verneinen ausfallen, so ist das Verdienst des genialen Forschers immerhin noch groß genug; denn er hat uns den tiefsten Blick in das innere und ungekannte Wesen der Naturerscheinungen thun lassen und wenigstens den Weg angedeutet, auf welchem das große Fortschritts- und Entwicklungsgesetz der organischen Natur mit der Zeit gefunden werden kann. Und bei dem Anblick der vielen und merkwürdigen Anpassungen in der Natur, welchen wir neben so vielem Unvollkommenen oder anscheinend Unnützen fast auf jedem Schritte begegnen, werden wir uns nicht mehr versucht fühlen, unsre Vorstellung mit falschen Zweckmäßigkeitsbegriffen anzufüllen, sondern einsehen, durch welche stufenweise und langwierige Arbeit es diesem oder jenem Naturwesen gelungen ist, bis zu seinem jetzigen Verhältniß gegenüber seinen Mitwesen oder den äußeren Lebensbedingungen emporzusteigen. Die „Fortschrittsdoctrin“ ist, wie sich der ausgezeichnete englische Botaniker Hooker ausdrückt, die tiefste von allen, welche je naturhistorische Schulen in Aufregung versetzt haben. Aeußert sich dieses Fortschrittsgesetz auch nicht in einer stetigen und einfachen Reihe, sondern als ein durch mancherlei Umstände und Schwierigkeiten unterbrochenes, zurückgehaltenes oder undeutlich gemachtes, und fehlt es neben dem Fortschritt auch nicht an stabilen oder stehenbleibenden Formen und Zuständen, ja selbst nicht an Beispielen „rückschreitender Organisation“, so ist es doch im Großen und Ganzen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_094.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)