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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

auf dessen Halse er kniet. So verweilt er einige Minuten, bis sein Gefährte herbeieilt und durch einige Stiche mit dem Brodmesser dem Leben des bis zum Tode sich wehrenden Thieres ein Ende macht.

Bei Streifzügen durch die Alpen begegnet höchst selten, daß Touristen, wenn auch nur in großer Entfernung, Gemsen zu sehen bekommen. Eine Stelle gibt’s, wo man im Frühsommer fast täglich sehr nahe Gemsen sehen kann; dies ist in den Churfirsten-Alpen oberhalb Wallenstad im Kanton St. Gallen. Diese Berge zwischen dem Speer und dem Gonzen sind zu „Freibergen“ von der Regierung erklärt, – dort darf bei hoher Strafe keinerlei Wild geschossen werden. Wer in Wallenstad übernachtet und frühzeitig nach den Alpen Lösis und Büls aufsteigt, wird außer einem großartigen Gebirgs-Panorama leicht Gemsen zu sehen bekommen. Der Weg ist ganz bequem, selbst für Damen praktikabel.

Die Bärenjagd ist nicht, wie die Gemsenjagd, ein zur Leidenschaft gewordener Act waidmännischen Vergnügens oder des Geldverdienstes; sie ist entweder (und zwar in den seltensten Fällen) eine unfreiwillige, durch den Zufall herbeigeführte Muthprobe für den Aelpler, – oder ein absichtlich aufgesuchter, höchst gefahrvoller Vernichtungskampf gegen den gefürchten Heerden-Räuber. In beiden Fällen ist diese Jagd nicht minder beschwerlich und drohend als jene, nur daß die Gefahr weniger in dem zu passirenden unzugänglichen Terrain, als vielmehr in der Natur des zu erlegenden Wildes beruht.

Die eigentliche Bärenheimath in den Alpen sind die Kantone Wallis und Graubünden. Als das am schwächsten bevölkerte Alpenland, welches zugleich noch die ausgedehntesten, dichtesten Waldungen und umfangreiche, wenig betretene Gebirgsreviere besitzt, bietet es dem großen Raubwild die beste Gelegenheit zu ungestörtem Aufenthalt. Es vergeht kein Jahr in den rhätischen und walliser Alpen, daß nicht bald hier, bald dort die Schreckensbotschaft in’s Thal hinabkommt, der Bär habe wiederum Schafe, Kälber oder überhaupt Jungvieh auf der Alp zerrissen. Aber zur Genugthuung der allgemeinen Sicherheit verbreitet sich dann auch oft die freudig wiederhallende Kunde durch die Berge, daß, oft unter den abenteuerlichsten Umständen, wieder ein Bär erlegt worden sei. Die Summe der in den Alpen geschossenen Bären darf in neuerer Zeit immerhin jährlich auf 12 bis 20 Stück angenommen werden. Es gibt, möchte man sagen, Bärenjahre, in denen sich diese Bestien außerordentlich zahlreich zeigen, und viele derselben in engen Grenzen geschossen werden, und wieder andere Jahre, in denen wenig von diesem Raubthiere verlautet. Die Menge der erlegten Bären würde bei weitem größer sein, wenn es mehr Jäger in den Bergen gäbe und die gesetzte Schußprämie größer wäre. (Graubünden z. B. zahlt von Regierungswegen nur 28 Francs für jeden erlegten Bären, ob alt oder jung, wobei dem Schützen dann das Thier sammt Fell zum Verkauf noch bleibt.) Taxationen von Forst- und Jagd-Männern schätzen den Bären-Reichthum von den Grajischen Alpen bis hinaus nach Steyermark und Krain auf etwa 500 Stück; doch ist diese Annahme um so unsicherer, als erwiesen ist, daß der Bär in fortwährendem Wandern zwischen dem Osten und Westen Europa’s begriffen ist und nur für unbestimmte Zeit feste Standquartiere bezieht.

Münchhausen ist nicht blos ein College der Jäger des Hügel- und Flachlandes, er hat auch Niederlassung bei den Alpenjägern gesucht und gefunden; daher kommt’s, daß eine Menge der übertriebensten Anekdoten von Bärenjagden existiren. Dies schließt indessen nicht aus, daß es Jagdabenteuer gibt, die zu den wirklich drastischen gehören.

Eine höchst tragikomische Bären-Attaque trug sich im Sommer 1857 in der Tiefe des Engadiner Val d’Uina zu. Schon mehrfach hatte ein hungeriger Mutz Heerden angefallen, die unterm Griankopfe und an den Abhängen des Piz Cornet weideten, so daß man Jagd auf ihn machte. Ein Mann von Sins begegnet in wilder Einöde dem zottigen Gesellen, legt auf ihn an und brennt ihm eine Kugel auf den Pelz. Der Bär, zu gering verwundet, um durch den Schuß kampfesunfähig zu werden, wendet sich zornig gegen den Jäger, der, das Gefahrvolle seiner Lage sofort erkennend, sich hinter einen großen, ringsum freien Felsblock flüchtet. Während der laut brummende Bär hinkend ihn verfolgt, ladet der Jäger auf’s Neue, indem er den Felsen fortwährend umläuft. Da, als die Büchse wieder schußfertig ist, stellt er sich zum zweiten Mal, und trifft das Thier, abermals jedoch, ohne es tödtlich verwundet niederzustrecken. Die Wuth des Bären wird dadurch nur gesteigert, und bald rechts, bald links den Block umgehend, entsteht nun ein Haschens- und Versteckens-Spiel zwischen dem fortwährend blutenden Thiere und seinem flüchtenden Verfolger, das von Augenblick zu Augenblick schrecklicher zu werden beginnt. Denn weit und breit nur felsige, todte Einöde, – kein rettender Freund, kein kampfunterstützender Jagd-Genosse. Der Sinser Bauer verliert immer noch nicht seine Geistes-Gegenwart und die gewiß seltene Kaltblütigkeit; im Springen gelingt es ihm, die Büchse zum dritten Mal zu laden und den dritten Schuß auf seinen Gegner abzufeuern. Ob dieser traf, ist unbestimmt. Zu seinem Entsetzen entdeckt aber der Jäger nun, daß seine Munition zu Ende ist; wahrscheinlich hatte er einen Theil derselben während des springenden Ladens verloren. Das Verfolgungsspiel beginnt gräßlich zu werden. Zwar zeigen sich die Blutverluste des Bären immer mächtiger, aber auch die Wuth desselben steigert sich immer mehr. Noch eine Zeitlang setzt der nun fast die Besinnung verlierende Aelpler das Fluchtspiel um den Felsenblock fort und glaubt das Thier so zu ermatten, daß ihm zuletzt die Kraft zur weiteren Verfolgung fehle; – aber vergeblich. Stets fort und fort sieht er sich von dem lautbrüllenden Ungeheuer auf Schritt und Tritt verfolgt, bald unmittelbar dicht hinter sich, bald durch Umkehr ihm entgegenkommend. Die Kniee zittern ihm, der Fuß wird unsicher und strauchelt ein übers andere Mal, – der Athem geht ihm aus, und in Schweiß gebadet wähnt er jede Secunde ohnmächtig niederstürzen zu müssen. Da endlich ermattet auch das Raubthier, sein Gebrüll ertönt nur noch stoßweise, und Unterbrechungen im Laufe treten ein. Diesen Umstand benützt der auf den Tod geängstete Jäger und stürmt, mit letztem Aufwand aller seiner Kräfte, dem Thale zu, – lange Zeit ohne umzuschauen, ob er verfolgt werde oder nicht. Er war gerettet, vermochte aber kaum seine Wohnung zu erreichen. Eine schwere Krankheit warf ihn auf’s Siechbett. – Nachbarn, die am andern Morgen gut bewaffnet an die bezeichnete Stelle gingen, fanden, den Blutspuren folgend, das Thier in ziemlicher Entfernung vom Schauplatze des entsetzlichen Jagdspieles verendet.

Nicht mindere Geistesgegenwart und rettende Entschlossenheit entwickelte einst der als Gemsenjäger hoch berühmte Colani von Pontresina im Ober-Engadin. Auf seinen Streifzügen entdeckte er eines Tages die unverkennbaren Fährten eines Bären und verfolgte dieselben über ein nur wenig Fuß breites Felsenband (ähnlich dem, wie es unsere Abbildung des Gemsenjagd-Abenteuers zeigt) bis zu einer Höhle, vor welcher der Pfad auslief. Da es schon spät am Tage war, und er nur eine leichte Büchse bei sich trug, so beschloß er den Angriff auf das Thier zu verschieben, und nahm seinen Rückweg mit der größten Vorsicht.

Am andern Morgen, zu rechter Jägerzeit, noch ehe es tagte, ging er, von seinem damals zwölfjährigen Sohne begleitet, mit der besten Doppelbüchse bewaffnet, vor die Bärenhöhle; auch der Knabe trug eine gleiche Waffe. Nicht lange liegen Beide auf der Lauer, der Alte kniet zuvörderst, der Knabe dicht hinter ihm, als es da drinnen lebendig zu werden beginnt. Bald funkeln zwei Augen, den Kohlen gleich, aus dem Dunkel der Höhle hervor, und der alterfahrene Schütze sendet ihnen die erste, wohlgezielte Kugel entgegen. Sie hat getroffen, denn laut stöhnendes Geheul erschallt aus der Tiefe; zugleich aber auch entwickeln sich die dunkelen Umrisse immer mehr, und im nächsten Augenblick kriecht eine gewaltig große Bärenmutter aus der Höhle hervor. So wie Colani des Schusses sicher zu sein glaubt, gibt er die zweite Salve. Sie zerschmettert dem Ungethüm die rechte Vorderpfote, das mit donnerndem Gebrüll zwar niederstürzt, jedoch sofort sich wieder erhebt, vollends hervorkriecht und sich zum Kampfe auf den beiden Hinterbeinen emporrichtet, da ihm die vorderen den Dienst versagen. – „Vater! soll ich schießen?“ ruft der über seines Vaters Rücken im Anschlag liegende Knabe, vor Begierde zitternd. Aber der alte Colani verliert nicht einen Augenblick seine entsetzliche Jäger-Ruhe und kalte Besonnenheit. Der nächste Schuß mußte unbedingt dem Thier ein Ende machen, sonst war’s um ihn und sein Kind geschehen. – „Gib mir die Büchse!“ herrscht er, ohne den Blick von seiner Beute zu verwenden, dem Knaben zu und wechselt, während der Bär nur wenige Schritte von ihm entfernt ist, mit fester Hand die Waffe. So läßt er das hochaufgerichtete Thier in fürchterlicher Ruhe so dicht herankommen, daß fast die Mündung der Rohre in den weit aufgerissenen Rachen der Bestie reicht. –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 791. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_791.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)