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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

wird, wenn ihn die Nebel in den Höhen überfallen, und er ohne äußerste Gefahr nicht von der Stelle gehen darf, – der wird zugestehen, daß ein ungemein an Entbehrungen gewöhnter Körper außer den oben angeführten Eigenschaften zur Ausübung der Jagd in den Alpen gehört. Alle diese körperlichen Requisiten bedingt die edle Hochjagd in Deutschlands Auen und Wäldern nicht.

Das Capitel von den Gemsen und deren Jagd ist von dem gründlichen Kenner der Alpen, Fr. v. Tschudi, in seinem „Thierleben“ erschöpft. Indem wir auf dasselbe verweisen, tragen wir zur Ausfüllung des Rahmens, der unsere Bilder umschließt, blos einige charakteristische Jagdabenteuer nach.

Jäger-Spürsinn und Wild-Instinct sind neben den soeben aufgezählten körperlichen Erfordernissen die ersten bedingenden Eigenschaften des Gemsen-Jägers. Er muß die Standquartiere, die Weidegänge und Nachtlager erforschen, um mit einiger Sicherheit berechnen zu können, in welcher Gegend er um irgend eine bestimmte Zeit Gemsen zu treffen hoffen dürfe. Der Spittler Jan aus dem Graubündner Münsterthale, seines Gewerkes eigentlich ein Musikant, zugleich aber einer der verwegensten Gemsenschützen, soll mehrmals Wetten gewonnen haben, weil er genau Stunde und Platz angab, an denen man so und so viel Stück antreffen müsse. – Kennt er nun überhaupt den Jagdplatz, auf dem er seine Beute holen will, so bricht er, je nach der Entfernung seines Wohnortes (wenn er, wie dies die besten Gemsjäger immer thun, allein jagt), um Mitternacht oder bald nachher auf und steigt in schweigender Nacht so weit empor, als er unbeschadet seines Jäger-Vortheils kommen kann. Hierbei achtet er sorgfältig auf die Richtung des Windes, damit derselbe nicht den Gemsen Witterung und Schall des Kommenden zutrage. Ist er nun den Thieren im Rücken, die noch ruhend im Grase liegen und nur die „Bogaiß“ als Posten auf erhöhtem Felsenblock aufgestellt haben, so schleicht er, noch unter dem Schutze der Dämmerung, so nahe als immerhin möglich sich heran und sucht seinen Körper durch irgend einen Felsenblock, Baumstrunk oder sonstwie zu decken. Hier wartet er, schußfertig, den Anbruch des Tages ab. Welche unendliche Behutsamkeit und Vorsicht gehört zu diesem katzenartigen Vorgehen, welch äußerst spannendes Lauern bei größter Ruhe und Kälte! Erst nachdem sich die Thiere erhoben haben, wählt er sein Opfer aus und schießt. Oft begegnet’s, daß der resolute Jäger, bevor das erschrockene Gemsenvolk die Gegend ausfindet, von welcher Gefahr droht, noch ein zweites Thier mit seiner Doppelbüchse erlegt. Hat er gut getroffen, so schnellt die Gemse hoch auf und stürzt rasch zusammen; es trifft aber auch, daß angeschossene Thiere, die nicht tödtlich verwundet wurden, mit dem ganzen Rudel auf und davon jagen. Mitunter gibt es auffallend große Gesellschaften dieses Wildes, die bis zur Paarung bei einander bleiben; der bekannte Berggänger Statthalter Gottl. Studer in Bern sah deren einst im Wallis 60 zusammen weiden. Solojäger pflegen in der Regel keine Hunde mitzunehmen.

Der gewaltigste Gemsenjäger der Jetztzeit möchte vielleicht Ignaz Troger von Ober-Ems in Eischol (Wallis) sein; wenigstens erzählen die Hirten auf den Alpen des Turtmann- und Nicolai-Thales völlige Wunderdinge von ihm. Er scheint ein moderner Colani der dortigen Gegend zu sein, der ein mehrere Quadratmeilen großes Gebiet stillschweigend als ausschließlich nur ihm zuständiges Jagdrevier usurpirt hat und in welches kein anderer Schütze sich getraut. Außerdem umgibt ihn der Volksglaube mit einem unheimlichen, sagenhaften Nimbus und macht ihn zu einem Freischützen, der auf jeden Schuß sich holen könne, was er verlange. Jedenfalls steht es fest, daß er im ganzen Kanton Wallis der beste Alpenjäger ist, und wahrscheinlich mag der Umstand, daß er unter schlauer Benutzung gemachter Erfahrungen vielleicht an einem Tage 3 und 4 Gemsen schoß, diese geschickt verbarg und dann eine nach der anderen in seine Wohnung hinabtrug, Veranlassung zu allerlei Fabeleien gegeben haben. Zugleich ist er der verwegenste und unternehmendste Berggänger; wenn die Ersteigung des Weißhornes je möglich sei, so erreiche Troger zuerst die Spitze, so behaupten es die Walliser. – Ein anderer vortrefflicher Schütze, der jährlich seine 20 bis 30 Gemsen schießt und auch schon zwei Bären erlegte, ist Battista Margnia im Val Calanca, der einen Theil des Jahres als Glaser die deutsche Schweiz, namentlich den Kanton Glarus durchzieht. In Graubünden gilt gegenwärtig Benedetto Cathomen von Briegels im Vorder-Rheinthale als der größte Gemsenjäger, auf den dann der berühmte Bären-Nimrod Fili, Postmeister in Zernetz, Jakob Spinas von Tinzen, Zinsli von Scharans u. A. folgen.

Minder gefährlich ist das von den weniger hervorragenden Jägern gesellschaftlich unternommene Treibjagen auf Gemsen. Es findet meist in den ziemlich wildarmen Voralpen statt und nähert sich in manchen Beziehungen der organisirten hohen Jagd des Flachlandes, weil eine Aufstellung der Jäger, wie beim Anstand, stattfindet und oft auch Hunde zum Zutreiben benutzt werden.

Diese Jagdweise hat indessen auch wieder ihre eigenthümlichen Fährlichkeiten, die nach der Ursache und Veranlassung bei der Solojagd verhältnißmäßig weniger vorkommen können. Wie bei jedem Treibjagen, so muß auch hier ein Plan, eine gewisse Verständigung unter den Jägern und Treibern stattfinden; wird die getroffene Abrede durch einen der im Gebirge leicht möglichen, unvorhergesehenen Zwischenfälle nicht genau inne gehalten, so ist leicht ein gänzliches Fehlschlagen des Jagdtages das Resultat vieler Anstrengungen. Einen solchen Moment repräsentirt unser Bild. Drei wohlgeübte Schützen des Appenzellerlandes jagten an der Gloggern, jener hohen Wand südöstlich von der Seealp, an dem Wege gelegen, wenn man vom Weißbad über Meglisalp zum Sentis aufsteigt. Einer derselben ging diesen unteren Weg, ein zweiter droben über Marwies, und der dritte Jäger über ein schmales Rasenband an der Felsenwand, zwischen den beiden zuerst Genannten. Auf dieses Rasenband waren die Gemsen getrieben. Der zu unterst und zu oberst Gehende hatten leichteren Marsch und kamen früher an der Stelle an, wo das gemeinschaftliche Schießen beginnen sollte. Ersterer sieht die Thiere auf sich zukommen, ihm direct in den Schuß gehen, wartet und wartet und erblickt immer noch nicht den auf dem Rasenband treibenden Jäger. Die Gemsen kommen immer näher; er befürchtet um den Schuß zu kommen, legt fieberhaft aufgeregt an, drückt los und – aufgeschreckt durch den Knall, kehren die Thiere sofort um und fliehen in jagendster Hast auf dem Rasenbande den Weg zurück, den sie gekommen waren. Just an einer sehr schmalen abschüssigen Stelle von kaum etwas mehr Breite, als für einen Menschen zum Gehen nöthig ist, da, wo es um eine Felsen-Ecke biegt, stoßen sie in wildester Flucht auf den mühsam emporkletternden Jäger. Ein Begegnen Beider in aufrechter Stellung, auf diesem schwindelnden Felsenbande, hätte unfehlbar zum Sturze des Jägers in eine mehr als hundert Fuß absinkende Klippentiefe führen müssen, da die Gemsen instinctmäßig in der Angst der Verzweiflung den Durchpaß zwischen der Felsenwand und dem Jäger gesucht haben würden. Dies erkennt der besonnene Mann, und um sein Leben zu retten, wirft er sich nieder, und läßt das ganze Rudel in flüchtigem Sprunge über sich hinwegbrausen. – Ein anderer Jäger, im Glarnerlande, in ähnlicher Lage an kritischer Stelle, glaubte dennoch durch raschen Entschluß seine Beute erlegen zu können und kauerte sich sitzend, fest an die Felsenwand gestemmt, nieder und schoß. Die Ladung ging fehl, die Gemse setzte über ihn hinweg, berührte ihn aber im schnellenden, elastischen Sprung mit einem der Hinterläufe an seiner Jacke und riß ihm das oberste Knopfloch aus; ein Hängenbleiben hätte unfehlbar zum zerschmetternden Sturze Beider geführt.

Von einem tessiner Gemsenjäger aus dem Val Blegno wird folgende verbürgte Force-Tour erzählt. Ihrer Zwei waren auf’s Treiben ausgegangen. Da kommt der Eine von ihnen zum Schuß, trifft den Gemsbock gut in’s Vorderblatt, der verwundet und blutend dennoch fortrennt und dem andern Jäger in einem Defilé zwischen zwei kolossalen Felsenblöcken entgegenspringt. Dieser, durch den einen Block gedeckt, so daß das geängstete Thier ihn nicht sehen kann, schlägt an, drückt los, – aber das Gewehr versagt. Rasch entschlossen wirft der Tessiner seine Waffe fort, springt dem großen Gemsbock in dem Augenblick entgegen, als dieser in der Felsengasse weder rechts noch links fortkann, packt ihn glücklich erst mit einer, dann auch mit der andern Hand bei den Hörnern und läßt sich von dem wahre Löwenkräfte entwickelnden Thiere 30 bis 40 Schritte weit über Rasen und Gestein bis dicht an einen Abgrund schleifen, wo dasselbe erschöpft zusammenbricht. Noch zwei oder drei Sprünge, und der Abgrund hätte Beide aufgenommen. Hier am Rande der Tiefe entsteht nach einer Secunde, in einer Blutlache, nochmals ein Ringen Beider. Mit der einen Hand hält der Jäger krampfhaft den zähen Zweig einer Föhre fest, während er mit der anderen die Hörner des Thieres umspannt,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_790.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)