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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Werth des muthigen Sinnes wollen wir uns durch ein paar Hinweise näher vor die Augen führen.

Ein Mensch, der sich einmal gewöhnt hat, die Bewährung des Muthes als unbedingten Ehrenpunkt in sich aufrecht zu erhalten und darin einen wesentlichen Theil seiner Würde und Selbstzufriedenheit zu finden, wird den Muth nach allen Richtungen hin zu bewähren suchen, sowohl in der Richtung auf den Kampf mit äußeren Hindernissen und Widerwärtigkeiten, als auch in der Richtung auf den Kampf mit den eigenen geistigen Mängeln, Schwächen und Fehlern. Er wird sich jeder Art von Kleinmuth, Verzagtheit, Schlaffheit, aber auch jeder Niedrigkeit der Gesinnung, der Falschheit, Heuchelei und besonders der Lüge schämen, denn ihm sagt sein Gewissen, daß die Lüge die allerverächtlichste Art der Feigheit ist. – Ferner: Wohl ist es hoher Muth, für Pflicht, Wahrheit, Recht und Ehre unter allen Umständen felsenfest zu stehen oder im heißesten Schlachtgetümmel kämpfend den Tod zu verachten. Aber ein noch höherer Muth ist die standhafte und nie murrende Erhebung über unabänderliche schwere und besonders durch ihre Dauer schwere Schicksale, der in den schwersten Lagen ausdauernde Muth. Wer aber den großen Schmerz, den großen Kampf siegreich bestehen will, der muß seine Kraft erst an den kleinen Schmerzen und Kämpfen geübt und gestärkt haben. So führt der Muth zu sittlicher Veredelung. Ein Mensch, von der besten und reinsten Gesinnung beseelt, aber dabei muthlos, wird, wenn es gilt die schwersten Proben dieser seiner Gesinnung zu bestehen, unterliegen, nur der muthige wird siegen. Der Steuermann und der Held bewährt sich nicht bei ruhiger See und im Frieden – da sind wir Alle Helden, – sondern im Sturme und Kampfe.

Die erzieherische Einwirkung wird also stets auf die Entwickelung und Befestigung eines solchen Sinnes gerichtet sein müssen, bei welchem zwar jede frevelnde Tollkühnheit und leere Muthprahlerei ausgeschlossen ist, dagegen, je nach den verschiedenen Anforderungen und Stellungen des Lebens, der würdige, sich über Alles erhebende Muth nie fehlen kann, wo ihn vernünftige, und besonders, wo ihn edle Zwecke verlangen.

Zur Erreichung dieses Erziehungszieles – der Heranbildung des auf Festigkeit des Nervensystems beruhenden edlen, festen Willens und Muthes, glücklicher Geistesgegenwart, schneller Entschlossenheit, rüstiger Thatkraft – ist aber durchaus erforderlich:

Erstens, daß dazu alle die oben angedeuteten tausenderlei kleinen Dinge fleißig benutzt werden, wozu sich im Laufe des täglichen Lebens gerade Gelegenheit finden läßt, und zwar in je entsprechender Weise schon vom zarten Kindesalter an. Denn wollt Ihr die Muthübungen erst den ernsten, wichtigen Fällen, den Fällen der Noth überlassen, erst von diesen Alles erwarten, so ist es zu spät. Der Affect des Augenblickes findet keinen vorbereiteten Sinn, wirkt betäubend und lähmt dadurch jede mögliche Selbsthülfe. Der hinterlassene Eindruck der Bestürzung, Schwäche und Hülflosigkeit vermehrt die Furcht, während der muthgeübte Mensch aus dem Bewußtsein gelungener Erhebung über den Affect und aus dem Bewußtsein der Fähigkeit, die Gefahr zu besiegen, neuen Zuwachs seines Muthes gewinnt.

Zweitens ist dazu erforderlich, daß man die Kinder des reiferen Alters mit Behutsamkeit und allmählicher Steigerung an starke und überraschende Eindrücke gewöhnt, hier und da in kleine, berechnete Gefahren verwickelt und soweit als möglich sich selbst helfen läßt. Aengstliche Eltern glauben sich durch möglichste Vermeidung jedes Risico’s am besten gegen Selbstvorwürfe zu wahren, bedenken aber nicht, daß sie durch Umgehung eines nur eingebildeten nächstliegenden Nachtheiles ihren Kindern einen sicheren und ungleich wichtigeren lebenslänglichen Nachtheil zufügen, daß sie durch Einflößung ihres ängstlichen Sinnes und dessen bleibende Fortwirkung eine weit schwerere Verantwortung, eine wirkliche Versündigung auf sich laden, daß die Aengstlichkeit an sich die größte Gefahr ist, daß der ängstliche Mensch Gefahren sieht, wo keine sind, und allen unausweichlichen wirklichen Gefahren weit eher zum Opfer wird, als der im muthigen Sinne geübte Mensch.

Nach Ueberschreitung des Kindesalters bedarf besonders der Jüngling noch fernerer und höherer Muthübungen. Die Zeit braucht Männer. Soll der Jüngling zum lebenstüchtigen Manne reifen, so darf die Schule der Männlichkeit nicht mangeln. Und doch, wie wenig bieten unsere modernen Lebensverhältnisse dazu Gelegenheit! Wie unauslöschlich dieser Drang der männlichen Jugend, in Muthproben sich zu bewähren und so männlich zu reifen – davon geben die Turniere der alten Zeit und die modernen Turniere (die Duelle der studirenden Jugend), welche trotz Gesetzesstrenge fortbestehen, ein Zeugniß. Mir scheint, daß weise Regierungen diesen edlen Drang, anstatt ihn ganz verkümmern oder auf Abwege gerathen zu lassen, vielmehr nähren und benutzen sollten zu gleichzeitiger Förderung des Gemeinwohles, z. B. durch Organisation von Rettungs-Mannschaften für Feuersbrünste, Ueberschwemmungsnoth und alle Art allgemeiner Unglücksfälle, von Schutzwehr-Mannschaften zur Erhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verwendung nach innen und außen u. dergl. – Körperschaften, die aus allen Kreisen der dem Militärdienste nicht unterworfenen Jünglings-Altersclasse zu bilden wären. Die Turnanstalten, welche hauptsächlich die Kraft und Gewandtheit entwickeln, würden, bei ihrer hoffentlich immer weiteren Ausbreitung, mit solchen Anstalten, die den Muth nach allen Richtungen hin entwickeln, trefflich zusammenwirken, um edlen männlichen Geist zum nationalen Gemeingute zu machen.

Freilich ist dabei stets im Auge zu behalten, daß auch die besten Einrichtungen des Staates nur dann gedeihen können, wenn sie von unten getragen und von allen Seiten entgegenkommend gefördert werden. Ein gesunder Staat baut und verjüngt sich nicht von oben herab, sondern von unten herauf, von der Wurzel, vom Boden der Familie aus. Von hier aus wollen wir, die Väter und Mütter, richtig und tüchtig bauen. Wir wollen an der soliden Grundlage des Staatsgebäudes unbeirrt und unverdrossen bauen. Wir bauen langsam, aber sicher und fest. Ob Diejenigen, welche den Bau von oben herab regieren, richtig bauen, wird dann davon abhängen, ob sie mit uns bauen. Wer von da oben mit uns baut, dem reichen wir vertrauensvoll die Hände. Ueber Alle von oben und unten richtet der Geist der Geschichte, der das ewig Wahre und Gute schließlich immer zum Siege führt, alles Andere wie hohle Spreu verweht – richtet der Geist, der das All durchdringt!




Das unter- und überirdische London.

Wer von London, der größten Stadt auf der Erde, in seinen kleinen Geburtsort, einen germanischen „Gau“, zurückkehrt und den neugierigen Philistern von den ungeheuren Größen- und Massenverhältnissen dieser Englischen- und Welthandels-Metropolis erzählt, wird Anfangs zwar mit Staunen und Wunder angehört, aber hinterher findet sich immer bald ein gewisser Aerger ein, der unter Verhältnissen leicht bis zur Wuth gegen den „Aufschneider“ steigen kann. Die Meisten, die von London nach Deutschland kommen, haben derartige Erfahrungen gemacht. „Der will uns weiß machen, daß London so und so groß, daß es in London von dem und dem so und so viel gebe,“ heißt es. „Denkt er denn, weil er in London gewesen, daß er uns deshalb die Hocke so voll lügen kann, daß wir hier so dumm sind, daß wir hier in unserm respectvollen Kreisstädtchen so gut wie gar nichts sein sollen?“

Kurz, es ist eine kitzlige Sache, Kleinstädtern und Kleindeutschländern von London zu erzählen. Es ist dem Bewohner einer Stadt, um die man zwischen Kaffee und Abendbrod mit einer Pfeife oder Cigarre gemüthlich herum schlendern kann, schwer, oft unmöglich, sich genau zu denken, was ein Städte-Koloß mit drei Millionen Bewohnern, mit mehr Menschen, als man in ganzen Königreichen findet, Alles für Zahlen- und Größenverhältnisse bedingt. Man gibt die drei Millionen zu, ohne nur von einem Tausend eine klare arithmetische Vorstellung zu haben, erbost sich hernach aber leicht über die Zahlen, welche durch die Bedürfnisse dieser drei Millionen entstehen und sich daraus sehr leicht erklären. Geht man nun gar zur Beschreibung solcher Anstalten und Einrichtungen über, die nur durch die drei Millionen zusammengedrängter Menschen, nur in dem Mittelpunkte des ganzen Welthandels,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 729. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_729.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)