Seite:Die Gartenlaube (1860) 538.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

nicht nur diesen Vorwurf auf ihre Gegner zurück, sondern sie halten sich für die älteste und ehrwürdigste Gesellschaft, als gegründet vom weisen König Salomon selber. Sie begreifen nur vier Gewerke in sich, die Steinmetze, Zimmerleute, Tischler und Schlosser, also die ersten und hauptsächlichen Bauhandwerker, und zwar besteht keine Eifersucht unter ihnen, wie unter den verschiedenen Gewerken der Genossen des Pflichtbundes. Diese letzteren umfassen im Ganzen achtundzwanzig Handwerke; davon sind drei, die Zimmerleute, Dachdecker und Gypser (plâtriers), Kinder des Meister Soubise; die übrigen, voran die Steinmetze, Tischler und Schlosser, Kinder des Meister Jacques. Herr Sciandro gibt in seinem Werkchen über die Brüderschaft eine vollständige Liste der verschiedenen Handwerksverbindungen des Pflichtbundes, nach den Aufzeichnungen der Steinmetze, zu denen er selber gehört. Sie sind nach dem Jahre ihrer Gründung geordnet, wie folgt: vor Christo 558 Steinmetze, nach Christo 550 Zimmerleute, 570 Tischler, 570 Schlosser, 1330 Gerber, 1338 Färber, 1407 Seiler, 1409 Korbmacher, 1410 Hutmacher, 1500 Schmal- und Sämischgerber, 1601 Gelbgießer, 1603 Nadler (dies Corps soll nicht mehr bestehen), 1609 Schmiede, 1700 Tuchscheerer, 1700 Drechsler, 1701 Glaser (gegründet durch die Tischler), 1702 Sattler, 1702 Poêliers (heißt zugleich Pfannenschmiede und Ofenmacher), den Gießern zugesellt, 1702 Hobler, gegründet durch die Tischler, 1703 Messerschmiede, den Gießern zugesellt, 1703 Blechschmiede, desgleichen, 1706 Kummetmacher, gegründet durch die Sattler, 1706 Stellmacher, gegründet durch die Schmiede, 1758 Nagelschmiede, gegründet durch die Hutmacher, 1759 Dachdecker, gegründet durch die Zimmerleute, 1775 Leinenhändler, 1797 Gypser, gegründet durch die Zimmerleute, 1795 Hufschmiede.[1]

Außer diesen 28 anerkannten Handwerken, und nach ihnen, haben sich die Schuster, die Bäcker, die Holzschuhmacher, die Ferrandinweber und sogar die Winzer von Burgund als Brüderschaft constituirt; allein sie sind von keinem ursprünglichen Corps anerkannt und leben in der vollständigsten Vereinzelung. Nur die Holzschuhmacher sind von einem älteren Corps, den Korbmachern, gegründet, und diese wollen sie von den übrigen Corps anerkannt wissen.

Inwieweit diese Liste, selbst abgesehen von den Gründungsjahren der vier ersten Handwerke, Glaubwürdigkeit verdient, wage ich nicht zu bestimmen, da es mir an allen andern Daten fehlt. Höchst auffallend ist jedenfalls diese langsame Verbreitung der Brüderschaft durch fünf Jahrhunderte; man sollte meinen, daß eine so nützliche und lockende Einrichtung sehr schnell alle bedeutenderen Gewerke ergreifen mußte. Die hauptsächliche Schuld mag wohl an der Eifersucht und Ausschließlichkeit der ursprünglichen Corps liegen, die ja noch heutzutage in der Nichtanerkennung der letztgebildeten Verbindungen stark genug hervortritt. Die vier Bauhandwerke betrachten sich noch immer als die bei weitem vornehmsten; die Schuster und Bäcker dagegen werden von allen übrigen wie Parias verachtet und auf jede Weise verhöhnt und verfolgt. Man sieht, wie tief noch immer, trotz „Gleichheit und Brüderlichkeit“, die Standesunterschiede selbst in den untersten Classen des französischen Volkes wurzeln. Den armen Schustern und Bäckern wird vorgeworfen, daß ihre Handwerke roh und gemein seien, und keine Geschicklichkeit erheischen. Vor allem aber wird es ihnen verdacht, daß sie sich „Compagnons“ nennen. Die gelehrten Leute leiten nämlich dies Wort von „compas“, d. i. Zirkel ab, und der Zirkel dient ihnen in der That als Insignie und Waffe zugleich. Die Verfolgungen wegen dieser lächerlichen Vorurtheile gehen so weit, daß die Bäcker z. B. das Stockfechten Tag und Nacht üben müssen, um ihres Lebens gegen die große Mehrzahl ihrer Feinde sicher zu sein. – Aber die gegenseitige Feindseligkeit, die allen mittelalterlichen Corporationen unauslöschlich innezuwohnen scheint (man denke nur an die deutschen Studenten-Verbindungen), herrscht selbst innerhalb der anerkannten Corps der Kinder des Meister Jacques. So verweisen die Steinmetze die Corps der Tischler und Schlosser dem Alter und Range nach unter das der Gerber, wogegen alle Wahrscheinlichkeit spricht, und erzeugen durch diese Ungerechtigkeit beständigen Hader.

Die Apostel der Freiheit und Gleichheit, die über fünfzig Jahre die Tribüne und die Presse von Paris von glänzenden Tiraden haben ertönen lassen, hätten vielleicht mehr und dauernder gewirkt, wenn sie statt dessen zuweilen in die Wohnungen und Herbergen der Arbeiter hinabgestiegen wären und diese Verblendeten über ihre wahren Interessen aufgeklärt hätten. Sie würden dann zu ihrem Erstaunen gefunden haben, daß ungeachtet der feierlichen und wiederholten Aufhebung aller Monopole mitten in der „Hauptstadt der Intelligenz“ die großartigste Gewerbsbeschränkung fortbesteht. Und zwar keineswegs zu Gunsten reicher, gewichtiger Unternehmer – wenigstens ergibt sie sich bei diesen mehr durch die Macht der Umstände – sondern zu Gunsten gewisser Corporationen des niedern Volkes, desselben, das von jenen Rednern als der Typus der Gleichheit und Brüderlichkeit betrachtet wird. Für die Zimmergesellen, etwa 4500 an der Zahl, trennt die Seine Paris in zwei abgeschlossene Reiche; auf dem rechten Ufer herrschen die Kinder von Soubise, auf dem linken die Kinder von Salomon. Mag auf dem rechten Ufer der Mangel an Arbeitern noch so groß sein, die „Genossen der Freiheit“ dürfen ihre Dienste dort nicht anbieten. Nur in den abgelegensten Stadttheilen kommt es vor, daß beide Parteien auf einem Zimmerhof arbeiten. Diese originelle Scheidung ist aber noch keineswegs das Schlimmste; im Gegentheil, sie ist das Ergebniß einer Verständigung und sicherlich erst nach langen, blutigen Kämpfen erreicht. Die Zimmergesellen, besonders die in Paris arbeiten, sind aber noch die Gebildetsten; die Steinmetze sind noch nicht so weit gekommen, sie liegen sich beständig in den Haaren.

Aus vielen Provinzialstädten aber, selbst aus dem großen Lyon, hat eine Partei die andere vollständig und für immer vertrieben. Dies geht folgendermaßen zu. Können sich die beiden Abtheilungen der Brüderschaft in einer Stadt durchaus nicht vertragen, so berufen beide, oder auch nur die eine von ihnen, alle Genossen aus den benachbarten Städten zusammen. Dann wird, entweder offen, oder durch Ueberfall, um die ausschließliche Herrschaft in der betreffenden Stadt gekämpft; und die besiegten Montecchi müssen vor den siegreichen Capuletti das Weichbild auf immer meiden. Ja, mitunter steigern sich diese Gefechte zu wahren Feldschlachten. Noch heute feiern beide Parteien die große Schlacht in der Ebene Crau, zwischen Arles und Salon, im Jahre 1730 (L. Say). Schaaren von Gesellen marschirten aus Marseille, Avignon, Montpellier, Nismes, und kamen am verabredeten Tage und Platze an; sie waren mit Zirkeln, Stöcken und Feuerwaffen gerüstet; das Handgemenge war lang und schrecklich, das Blut floß in Strömen, und Leichname in großer Zahl blieben auf der Wahlstatt. Eine ähnliche Scene ereignete sich 1816 zwischen Vergère und Muse, zwei kleinen Weilern in der Nähe von Lunel, veranlaßt durch die Eifersucht der Steinmetze. Zwanzig Meilen aus der Runde kamen die Krieger zusammen; und ein gewisser Sans-Façon von Grenoble, seit kurzem aus der kaiserlichen Garde entlassen, soll die Seinen mit einer Mistgabel zur Tapferkeit angetrieben haben. Es existiren eine Menge Gesänge, in denen die Barden der Brüderschaft ihre Siege verherrlichen; wobei das Komische ist, daß beide Parteien dieselben anstimmen, nur mit Veränderung der Namen und Attribute, welche für jede Partei feststehend sind.

Von 1825–42 berichtet Herr Egron in seinem Buche: „Le livre des ouvriers“ zehn Fälle von Tödtungen unter „Genossen“, und was das Schlimmste ist, diese Tödtungen sind zum Theil höchst schmachvoll, durch große Ueberzahl oder Hinterlist. Die bei weitem meisten davon sind im Rhone-Gebiet vorgefallen, in derselben Gegend also, wo seit den Zeiten der Albigenser die Religions- und Bürgerkriege stets am heftigsten gewüthet, und wo noch heutzutage die Katholiken und Protestanten einander feindlich gegenüberstehen.

Ein letztes Element des Zwiespalts liegt in dem Verhältniß der „Genossen“ zu den „Aspiranten“. Wenn sich ein junger Gesell der Brüderschaft anschließen will, so wird er nicht sogleich für würdig gehalten, in die vollen Rechte und Mysterien eingeweiht zu werden. Er muß eine Zeit lang Aspirant bleiben und mit seinen Schicksalsgefährten eine besondere, untere Classe der Verbindung bilden. Diese Aspiranten heißen bei den Steinmetzen Jeunes-Hommes (Junggesellen), bei den Tischlern und Schlossern Affiliés (Zugewandte), bei den Zimmerleuten endlich Renards (Füchse), eine höchst merkwürdige Uebereinstimmung mit den deutschen Studentenverbindungen. Wie bei den deutschen Studenten, so werden auch bei den französischen Gesellen die Füchse auf alle

  1. Die Leinenhändler behaupten von den Tischlern, die Hufschmiede von den Schmieden gegründet zu sein; diese verleugnen sie aber vollständig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_538.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)