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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

„Ein einzeln stehendes weibliches Wesen bedarf wenig,“ sagte sie.

„Und wenn Sie älter werden?“ sprach er und blickte sie dabei voll Wehmuth und Theilnahme an.

„Ja, freilich,“ sagte sie und fuhr sich dabei mit der Hand über die noch immer schöne Stirn, „wer möcht’ gern alt werden! und wir Frauenzimmer am wenigsten, und doch nimmt das Alter keine Rücksicht, es kommt – und oft recht fühlbar.“

Doch als er nun dringender fragte: „Haben Sie jemals an diese Ihre Zukunft gedacht? Haben Sie einen Plan? Bitte, sprechen Sie!“ da schaute sie ihn an mit den blauen, von dem Engel geküßten Augen und sagte: „Ich denke immer, Gott wird mein Gebet erhören und mich früher von der Welt nehmen, ehe diese Hände, diese Augen aufhören, ihren Dienst zu versehen. Doch freilich, Gottes Wege sind wunderbar! So hab’ ich also auch den Fall bedacht. Und damit Sie sehen, daß ich Ihr freundliches Entgegenkommen in vollstem Maße zu schätzen weiß, will ich Ihnen sagen, was ich meine, und Sie sollen mir dazu behülflich sein, damit geschieht, was ich wünsche. Nein, nicht gerade was ich wünsche, aber was ich doch als Nothwendigkeit betrachte, wenn mich Gott nicht früher abrufen sollte. Blicken Sie zum Fenster hinaus, von drüben herüber glänzen uns die Giebel des Magdalenenstiftes entgegen. Das ist ein Zufluchtsort für ältere Damen. Dort möchte ich mein Leben beschließen. Wollen Sie für mich die geeigneten Schritte dazu thun?“

Der Geheimerath blickte auf das einst so blühende Mädchen, er gedachte ihrer Schönheit, ihrer Jugend – und nun ihres Wunsches, ihrer Zukunft. Ein schmerzliches Gefühl zog durch seine Brust; er konnte nicht sogleich antworten – er mußte schweigen.

Sie sah seine Bewegung, sie wußte, was in ihm vorging, und sprach daher weiter, unter wehmüthigem Lächeln: „Es berührt Sie eigen, daß ich meine Zuflucht in ein Stift der Barmherzigkeit, oder wenn Sie wollen, in ein Spital nehme. Der Name schreckt mich nicht. Und meinen Grundsätzen, mich, so lange es geht, mit eigener Kraft durch die Welt zu bringen, werd’ ich dadurch nicht untreu. Anstalten der Art werden von Bittgesuchen bedeutend heimgesucht, sodaß unter Vielen es nur Wenigen gelingt, die Aufnahme zu erreichen. Wollen Sie deshalb für mich schon jetzt die geeigneten Schritte thun? Ich thät’ es selbst, aber ich denke, ein Mann in Ihrer Stellung findet weniger die Thüren und Herzen verschlossen, als es mit einem unbedeutenden Frauenzimmer der Fall sein würde. Wollen Sie?“

Der Geheimrath mußte unwillkürlich die Hand der Bittenden ergreifen, und er sagte in einiger Hast, wie voll Freude: „Gewiß will ich das thun!“ Zögernd jedoch setzte er hinzu: „Aber wissen Sie auch, daß eine bedeutende Summe zum Einkauf in die Stiftung nöthig ist?“

„Ich weiß es!“ sagte sie ruhig, als sie sah, daß der Geheimrath in seiner Rede inne hielt, „und daß ich dies weiß, macht es eben, daß mir die Aufnahme in dies Stift besonders wünschenswerth ist. Ich mag umsonst, aus Gnad’ und Barmherzigkeit, nicht Aufnahme finden. Zahle ich, wenn auch wenig, bin ich gleichsam dort, wie auf Leibrenten!“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Die französischen Orpheonisten in London. So dicht das englische Insel-Land auch an Frankreich sich mit seiner breiten Basis anlehnt, kann es doch nichts Verschiedeneres geben, als diese Gallier drüben und diese Anglosachsen hier. Haben sie doch auch Jahrhunderte lang theils wirklichen Krieg mit einander geführt, theils auf Kriegsfuße gelebt. Und auch neuerdings rüsten sie sich in gegenseitiger, diplomatisch gebrauter Entrüstung. Am 24. Juni paradirten 25,000 Mann Londoner Freischaaren vor der Königin im Hyde Parke. Ganz England bedeckt sich mit solchen freiwilligen Rifle-Corps, weil man sich ernstlich und gründlich vor einer französischen Invasion fürchtet, auch nachdem die Diplomaten beider Völker nach mehrjähriger „Alliance“ noch einen ganz besondern Friedens- und Freihandels-Vertrag geschlossen haben. Wer herrscht jetzt in Europa? Man sage nicht: Hier Dieser, dort Jener. Es gibt nur Eine herrschende Macht, das von Napoleon ausschwitzende, über ihm schwebende Fatum allseitigen, alle Herrscher beherrschenden Mißtrauens, die Nemesis der letzten 10 Jahre, als deren Personification wir den grauen oder schwarzen Mann in Paris anzuerkennen haben. Dieses allseitige Mißtrauen begleitete auch die große Sänger-Mission aus Frankreich. Der aus 200,000 Mitgliedern bestehende, über ganz Frankreich verbreitete Sängerbund der Orpheonisten (nach Orpheus, dem antiken Meister der Töne, so genannt) sandte in fünf Dampfschiffen und mit Extra-Eisenbahnzügen über 3000 seiner besten Sänger herüber nach London in den Krystall-Palast, dazu die rothen, gelbgestreiften „Guides“, das vollkommenste Orchester, das je existirt haben soll. Sie feierten durch ihre Gesänge und Töne in einem dreitägigen Gesangsfeste einen beispiellosen Triumph vor dem nach Tausenden zählenden englischen Publicum, das ihnen einen in England ebenfalls unerhörten Enthusiasmus zeigte, wie ihn Engländer wohl kaum je gefühlt haben.

Und doch munkelt das Mißtrauen, diese beinahe 4000 lustigen, singenden Franzosen in England seien nichts als eine Art trojanisches Pferd, wie es die Griechen einst als Friedenszeichen in das belagerte Troja sandten. Riskirte der Krystall-Palast die schweren Kosten, 4000 Franzosen aus allen Theilen Frankreichs nach Dieppe zusammenzubringen, sie von da aus in fünf Expreß-Dampfschiffen nach Newhaven, von hier durch Expreß-Eisenbahnzüge nach London zu fördern und hier mindestens acht Tage lang zu logiren und zu beköstigen, – etwa 20,000 Pfund Auslage? Unmöglich, sagt das Mißtrauen, zumal da Napoleon mit großer Bereitwilligkeit seine „Guides“ gleichsam zugab. Der Krystall-Palast hat allerdings schon über 18,000 Pfund riskirt, um das Händelfest zu Stande zu bringen, und dabei just 18,000 Pfund Reingewinn gemacht. Warum hätte er nicht mit der berühmtesten und großartigsten aller musikalischen Körperschaften eine ähnlich kostbare Specülation wagen sollen? Wir unsererseits weisen den sonst überall in Diplomatie und Politik herrschenden Popanz des Mißtrauens aus dem Kreise der lustigen, friedlichen Orpheonisten, die sich den Teufel um den Menschen scheeren, für den nie eine Leyer erklang, nie ein Orpheus in die Saiten griff, und aus dem sonnigen Feentempel des Krystall-Palastes, wo die Directoren zwar immer großartig und scharf speculiren, aber eben deshalb gewiß nie auf den Gedanken kamen, aus der jetzigen Politik Geld zu machen.

Wir sind plötzlich mitten im Feste. Doch nein, erst müssen wir diesen ungeheueren Halbmond von Orchester, diese Auserwählten der großartigsten musikalischen Schöpfung und Organisation, vorstellen. Vor etwa funfzehn Jahren fing ein Deutscher in Paris, den die Franzosen Wilhem schreiben (jedenfalls entstellt), an, Singvereine in Schulen und Gemeinden zu gründen. Er aber starb unter unglücklichen Versuchen. Eugéne Delaporte, Organist in der Hauptkirche zu Sens, Schüler und Erbe des Wilhem’schen Planes, wanderte eines Tages mit einem Stock und einer Reisetasche hinweg von seiner Orgel, seinem Brode, seiner Familie, von Stadt zu Stadt und Dorf zu Dorf in Frankreich, Singvereine und „Choral-Gesellschaften“ gründend. So wanderte, schuf und organisirte er unter den mannichgaltigsten Hindernissen vier Jahre. Dann kam Hülfe und Gunst von Obrigkeiten und künstlerischen Berühmtheiten. Jetzt gibt’s in allen größern Städten und selbst in unansehnlichen Dörfern Frankreichs Orpheon-Gesellschaften, zusammen über achthundert mit 40,000 ordentlichen und 200,000 „Auxiliar“-Mitgliedern. Sie singen und üben Liebe und Freundschaft gegen einander und arme Menschen. Bereits über zwei Millionen Francs haben sie für letztere ersungen und vertheilt. Paris ist deren Mittelpunkt und Delaporte noch deren geliebtes, allverehrtes Haupt. Als er unten im Orchester erschien, am 20. Juni um 3 Uhr, vor mehr als 10,000 Köpfen des höheren englischen Publicums, wurde er von seinen Sängern mit einer wahrhaften Wuth enthusiastischer Begeisterung, mit Freudenschrei, geschwungenen Kopfbedeckungen aller Art und Notenblättern empfangen.

Dumpf rauschende, seidensäuselnde, notenblätterig raschelnde, erwartungsvolle Stille. Plötzlich auflebendes, schnell anschwellendes Gelächter mit Jubelruf und Händegeklatsch. Was ist’s? In einer der Passagen unten zwischen den zehn Schillinge à Person placirten Tausenden windet sich schnell und graciös aalartig ein agiler kleiner Franzose mit einem irgendwo geraubten Stuhle, von einem Kellner verfolgt, der ihm den Stuhl mit Gewalt wieder abnehmen will. Der Franzose siegt und triumphirt fliehend, den Stuhl geschickt aus der einen in die andere Hand sichernd, schlüpfend, tanzend, gleitend vor dem verfolgenden, plump und vergebens zutappenden Engländer, der, obgleich mit Gesetz und Recht auf seiner Seite, aber „auf beiden Händen links“, eclatant und unter gloriosem Gelächter total geschlagen wird. Der Franzose tanzt mit dem Stuhle bis zu seiner Dame, pflanzt diese darauf und winkt dem Verfolger mit allerliebster, graciöser Unverschämtheit, sich zurückzuziehen. Dieser zieht sich zurück, so verlacht und so verschämt mit eingebogenen Leibrocksflügeln, wie ein geprügelter Köter mit eingeklemmter Ruthe. – Eine ganz unbedeutende und doch ganz ungeheuer charakteristische Scene. Wie ich vorher und nachher bemerkte und es durchweg schlagend auffiel, zeichneten sich diese allerliebst schmutzigen, leger liederlich, sogar oft ärmlich gekleideten, kleinen, schwatzenden, lärmenden, braunen und bronzenen, frechen Franzosen, Kinder eines geknechteten Staates, durch das allerfreieste Benehmen vor den freien, durch Etikette und Vatermörder, durch sociale Aengstlichkeit und Langstieligkeit geknechteten, kleinlauten, ängstlich reinlichen, weißgewaschenen, sorgfältig gebürsteten, am Hinterkopfe gescheitelten, backenbartstarrenden Engländern aus. Das Rauchen, an unzähligen Stellen des Krystall-Palastes strict verboten, war ihnen überall erlaubt, weil sie die Leichtigkeit und Courage hatten, dem Gesetze zu trotzen. Sie schwatzten und sprangen überall umher wie personificirte Anarchie. Und die Engländer waren außer sich vor Freude über diese Blüthen der Volkssouverainetät, die sie zum ersten Male von diesen Kindern des Tyrannenstaares kennen lernten.

Sie sangen. Dreitausend auserwählter Männerstimmen. Ich kann nicht sagen, was und wie sie sangen. Ich bin kein Musikkenner, aber noch nie haben Engländer ihr „God save the Queen“ so glorios, so deutlich, so wirksam vernommen, und über ihr „Veni, Creator“ Mozarts und dessen „O Isis und Osiris“ jauchzte Alles, was da gekommen war. Sie sangen theils ohne, theils mit Orgel-, theils mit „Guides“-Begleitung, immer

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_479.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)