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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

die Kategorie der sogenannten gymnastischen Anstalten einen wohlthuenden Anblick; hier wird für beständige Leibesübung gesorgt; die Kinder, dort bleich und hager, sehen hier blühend und wohlgenährt aus; am auffallendsten ist dieser Contrast, wenn ein Curgast nach längerem Aufenthalte in einer Streckanstalt zu einer gymnastischen übergeht; er erholt sich zusehends und scheint endlich die Hoffnung auf Heilung zu gewähren; es gehen einige Monate hin, täglich werden mit größtem Ernste die „Hackungen, Walkungen, Knetungen“, die activen und passiven Bewegungen nach einem von der Hand des Meisters redigirten Recepte vorgenommen; trotzdem wankt und weicht die eigentliche Krümmung nicht, ja es gewinnt schließlich den Anschein, als ob sie sich sogar verschlimmere – und es ist dies wohl begreiflich: eine solche gymnastische Uebung ist recht gesund und förderlich für Gerade und solche, die es bleiben wollen, aber nicht für Schiefe, die gerade werden wollen; mit anderen Worten, wir schätzen sie sehr hoch als Verhütungsmittel gegen eine Mißgestaltung des Körpers, aber der bereits bestehenden Rückgratverkrümmung gegenüber müssen wir sie als eine bloße Spielerei bezeichnen; manchem Skoliotischen schadet sie nichts, vielen aber schadet sie effectiv durch Anstrengung und Erschlaffung der Muskeln. Aufrichtige Orthopäden haben die Nutzlosigkeit der Gymnastik auf dem vorliegenden Felde längst eingestanden. Der berühmte Dupuytren ließ seine schiefen Patienten in dem Institute des Orthopäden Duval mit Gymnastik behandeln und gab bald seine Freude über den sichtlichen Erfolg – nämlich über das bessere Aussehen und die Munterkeit der Kinder – zu erkennen; dem entgegen erklärte ihm aber Dr. Duval, daß seit Einführung der Gymnastik in der Rückgratverkrümmung selbst offenbare Rückschritte gemacht würden.

Diese unsere – noch sehr gelinde gehaltenen – Ausführungen wird mancher Parteigänger durch einen Blick in den Jahresbericht irgend welchen orthopädischen Instituts für sofort widerlegbar erklären; er wird uns z. B. daraus nachweisen, daß durch Maschinenbehandlung sämmtliche aufgenommenen Skoliotischen gänzlich hergestellt oder erheblich gebessert seien, während allerdings die gymnastische Cur als höchst müßig auch in diesem Berichte dargestellt werde; dagegen wird uns ein Anderer mit Heilberichten aufwarten, welche die Maschinenbehandlung in Grund und Boden verdammen, und nur die Heilgymnastik als unfehlbar darstellen – in diesen Berichten ist also angeblich auf ganz entgegengesetztem Wege ein und dasselbe Ziel erreicht worden!

Es ist in der That unglaublich, welch crasser Schwindel gerade auf orthopädischem Gebiete getrieben wird; nicht nur Laien, auch Aerzte und sogar medicinische Körperschaften haben sich täuschen lasten; so producirte z. B. ein Bandagist der Pariser Akademie eine neue Maschine, mit welcher er Angesichts einer Commission, Heilungen ausführen wolle; diese Heilungen wurden denn auch nach etlichen Monaten officiell constatirt. Bald darauf wies aber der Orthopäde Guerin nach, daß diese angeblich Geheilten nie schief gewesen seien, sondern nur eine Skoliose geheuchelt hätten; dieser selbe Guerin aber entblödete sich späterhin nicht, die medicinische Welt mit seiner Rückenmuskel-Durchschneidung auf das Großartigste zu dupiren, indem er sich kraft dieser Entdeckung als den Columbus der Orthopädie ausrufen ließ, und bald darauf wies der treffliche Malgaigne an den von Guerin selbst als geheilt ausgegebenen Fällen die gänzliche Nutzlosigkeit, ja Schädlichkeit dieser Methode nach.

Von solchen Thatsachen wimmeln die Annalen der Orthopädie; mögen die hier gegebenen Skizzen dazu beitragen, bei der Wahl eines orthopädischen Mittels, eines orthopädischen Arztes oder Institutes mit größter Vorsicht zu Werke zu gehen! mögen sie aber vor Allem dazu beitragen, die Chancen einer orthopädischen Cur überhaupt fern zu halten durch eine auf Körper und Geist gleichmäßig vertheilte Erziehung!




Wilhelm von Kaulbach.

Als unser deutsches Vaterland unter dem Drucke der Napoleonischen Zwingherrschaft es empfinden lernte, daß aus der Tiefe des deutschen Wesens heraus der Geist geboren werden müsse, der die welschen Fesseln brechen könne, als ein tiefer sehnsüchtiger Zug unseres ganzen geistigen Lebens nach der ruhmvollen Glanzzeit der alten deutschen Macht und Herrlichkeit sich regte und dann in der kurzen Epoche der Freiheitskriege dieser Geist mächtig in Flammen schlug und in allen Herzen zündete: da hatten auch die begeisterten Jünger der deutschen Malerei mit kühnem Muthe den Zopfzwang des achtzehnten Jahrhunderts mit seiner sogenannten classischen und akademischen Hohlheit und Lüge abgeworfen und waren in ernstem Streben auf die schlichte Einfachheit und glaubensvolle Innigkeit der altdeutschen und altitalienischen Kunst zurückgegangen, um da den Aufschwung eines neuen Kunstlebens zu gründen. Mit welchem Erfolge jenen Männern das oft verkannte und geschmähete Werk gelungen, davon gibt uns die wunderbare Blüthe Zeugniß, deren die deutsche Kunst in unserm Jahrhundert sich freudig rühmen darf, und deren Ursprung immer wieder auf jene großen Maler, Cornelius, Overbeck und ihre Genossen zurückweist, die damals zu Rom in stiller Zurückgezogenheit die Neugestaltung der verlebten Kunstformen vollbrachten, bis ihnen König Ludwig, der hochherzige deutsche Künstlerfürst, die großen Werke übertrug, an deren Ausführung in München sich eine zahlreiche und blühende Schule heranbildete. Keiner der Nachfolger der ersten Begründer unserer neuen deutschen Kunst hat gleichen Ruhm errungen wie Wilhelm von Kaulbach, der in der Malerei ein ganz neues Feld eröffnet und als der Repräsentant einer künstlerischen Revolution betrachtet werden muß.

Denn keiner der modernen Künstler, Cornelius nicht ausgenommen, hat die Resultate eines bereits ein Jahrhundert währenden geistigen Ringens in Kunst, Geschichte, Philosophie, Politik, ja selbst in den allerneusten materiellen Bestrebungen, so in dem Brennpunkt seiner künstlerischen Thätigkeit zu vereinigen und darzustellen verstanden, wie Kaulbach, und in keinem modernen Künstler charakterisirt sich die moderne Kunst in ihren Licht- und Schattenseiten wie gerade in ihm. Welcher Contrast der Stylart, welcher Aufschwung von jener barock-genialen Composition eines Irrenhauses zu dem großen Styl der Hunnenschlacht, welcher Reichthum, welche Großartigkeit der Anschauungen, welche extensive Kraft von den Schiller- zu den Shakespeare-, von diesen zu den Goethe-Illustrationen – und zuletzt zu den Berliner Fresken, welcher Humor in Reineke Fuchs, welcher künstlerische Ernst in der Zerstörung Jerusalems, welcher Contrast zwischen beiden Schöpfungen, welche künstlerische Objektivität!

Die neueste Aesthetik will zwischen Kaulbach und Cornelius, wie zwischen Idealismus und Realismus unterscheiden. Vergleicht man Kaulbachs Wirksamkeit mit der seines großen Meisters Cornelius, so muß sich aus den verschiedenen Standpunkten bestimmter Kunstanschauungen eine unabsehbare Fülle von Vergleichen ergeben. Wie Raphael mit Michel Angelo, Goethe mit Schiller, Mozart mit Beethoven, so geben diese Meister, mit einander verglichen, zwei leuchtende Glanzpunkte, deren Bedeutung nicht an und für sich beurtheilt werden kann. – Beide vereinigen sich in dem entschiedenen Streben nach der künstlerischen Schönheit, welche die Kunstwahrheit über die Naturwahrheit erhebt, sie schaffen beide in einem idealen Styl. Beide sind keine Coloristen, aber nach dem Lessing’schen Worte, wornach nicht die Hand, sondern das Auge, das Sehen der Dinge den Maler macht, doch große Maler. Ihre Richtungen gehen nicht auseinander, ihre Natur, ihre Begabung ist nur eine verschiedene.

In Kaulbach ist die ganze Fülle moderner Bildung künstlerisch verkörpert. Gehen wir an seine großen historischen Schöpfungen, so treten uns daraus die Resultate der neuesten historischen und philosophischen Forschungen in Gestalten verkörpert entgegen; betrachten wir seine satirischen Zeichnungen, so begegnen wir der Ironie der Romantiker, vermengt mit Heine’schem Witz und Uebermuth, ja sogar mit etwas allerneuestem Kladderadatsch. Und doch ist Kaulbach in diesen scheinbar entgegengesetzten geistigen Richtungen und vielleicht eben wegen derselben ein durch und durch harmonischer Genius, eine künstlerische Natur, die aus dem Zusammenwirken der positiven und negativen Geistesanlage, von nie rastendem Forschens- und Geistestrieb bewegt, sich in sich selbst abrundet, erneut und kräftigt. Aus dieser so verschiedenen Begabung läßt sich auch die große Productivität des Künstlers erklären. Kaulbach

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_283.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)