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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Stoß erhalten hat. Ihre Wirksamkeit konnte sie freilich nur erschweren, nicht vernichten.

Die „armen Reisenden“ gehören meist Alle dem Handwerkerstande an, denn liederliches Gesindel, das sich mit einem heugestopften Tornister bettelnd an Kreuzwegen herumtreibt und sich fälschlicher Weise für einen „armen Reisenden“ ausgibt, kann nur als ein Auswuchs des sonst gesundem, kräftigen Stammes betrachtet werden. Der wirkliche „armen Reisende“ hat in den letzten Tagen nie etwas Warmes gegessen, trägt seine Stiefeln statt an den Füßen oben auf dem Tornister, wodurch er stets auf dem einen Beine etwas hinkt, und nennt betteln in seiner Kunstsprache fechten – symbolisch dadurch vielleicht seinen ewigen und hartnäckigen Kampf mit dem Leben anzudeuten. Eine andere auffallende Eigenschaft an ihnen ist, daß sie in Gegenwart von anständig gekleideten Fremden stets äußerst schwermüthig und niedergedrückt aussehen, während sie unter ihres Gleichen und in der nächst zu erreichenden Schenke heiter und glücklich scheinen.

Auch ein Reisender.

Das Zeitalter vor der Erfindung der Eisenbahnen war indeß ihr goldenes, als noch Lohnkutscher und Extraposten die Landstraßen belebten, Frachtwagen ihre Tornister oft meilenweit trugen und sie selber, aus einer Arbeit entlassen, wochenlang dazu gebrauchten, ehe sie einen anderen Arbeitsort erreichen konnten.

Damals hatten sie keine Feinde auf der Welt, Postillone und Gensd’armen vielleicht ausgenommen. Bequem hinten auf dem Bedientenbock einer Extrapost stationiert, den Tornister neben sich, ein Knie über das andere geschlagen, die kurze, qualmende Pfeife im Munde, war die Chaussee ihre eigentliche Heimath, und an ihrem Lebenspfad standen zwei Reihen hochwüchsiger Pappeln – wie traurig hat sich das aber jetzt verändert.

Welcher Handwerksbursche kann jetzt noch bei einem Bahnzug hinten aufsitzen? und fahren die selbst in einem Coupé, wofür sie – etwas Unerhörtes im früheren Handwerksburschenleben – sogar bezahlen müssen, wo bleibt ihnen dann noch Zeit, das unterwegs so nöthige und unentbehrliche „Fechten“ zu besorgen? Ehe sie nur an irgend einer Station – auf denen überhaupt nie etwas gegeben wird – den Hut abgezogen und ein klägliches Gesicht geschnitten haben, pfeift die verwünschte Locomotive schon wieder, und jede weitere Hoffnung auf Erfolg ist erbarmungslos abgebrochen.

Außerdem existirt durch die Eisenbahnen gar keine Entfernung mehr zwischen Hauptstädten. Die Pappelalleen, neben denen sie hinsausen, fliegen wie Gespenster einer früheren, glücklicheren Zeit an ihnen vorüber, und der am Morgen kaum gepackte Tornister muß an dem nämlichen Abend schon wieder entlastet werden, die Beine unter einen neuen Arbeitstisch zu strecken, den Kampf mit einer frischen Meisterin aufzunehmen.

„Es wird Nichts besser auf der Welt,“ ist ein altes gutes deutsches Sprüchwort, und die „armen reisenden Handwerksburschen“ vor allen Anderen haben diesen traurigen Wahlspruch, unter der Fülle der Ereignisse, zu ihrem Motiv genommen.

Alle diese vorgenannten Classen nun könnten wir auch noch unter den Sammeltitel „Zweck-Reisende“ bringen, von denen wir zu den Vergnügungs-Reisenden übergehen würden, blieben nicht noch zwei Gattungen, die keinen eigentlichen, wenigstens keinen freiwilligen Zweck haben, und nie im Leben zum Vergnügen reisen würden.

Die Ersten sind die Postillone und Frachtfuhrleute und in neuerer Zeit die Conducteure, die Alle nur ein bestimmtes kurzes Ziel haben und dann umkehren, ihre Bahn von vorne zu beginnen. Früher machten die Frachtfuhrleute davon eine Ausnahme, indem sie, fast wie die Schiffscapitaine, eine gewisse Fracht für irgend einen entfernten Theil Deutschlands übernahmen und denselben auch, ob die Reise Wochen oder Monate dauerte, getreulich ablieferten. Jetzt erstreckt sich ihre Wirksamkeit höchstens von einer Eisenbahnlinie bis zur anderen, und wie bei Postillonen und Conducteuren liegt ihr Reiseziel innerhalb zweier Stationen – ein ewiges Kommen und Gehen, Abschiednehmen und Wiedersehen, wenn man in neuerer Zeit überhaupt noch von dem sentimentalen Abschiednehmen etwas Anderes beibehalten hätte, als vielleicht den Abschiedstrunk.

Derartige Angestellte könnte man auch füglich Zwangs-Reisende nennen, denn was einem Theile des Menschengeschlechts Erholung and Vergnügen gewährt, wird bei ihnen zur oft unangenehmen Pflicht, mit der sie Jahr aus Jahr ein dieselbe Strecke durchfliegen. Reisende kann man sie eigentlich gar nicht nennen, und doch sind sie stets auf Reisen, sind ununterbrochen unterwegs. Ja, sie lernen die Strecke, die sie hin und her fahren, so genau kennen, daß sie jeden Steinhaufen, jeden Baum und Strauch auswendig wissen, und vollständig competente Richter über das beste Bier in allen Gasthäusern oder Stationen auf eine Entfernung hin werden, über die man sonst nur brieflich Nachricht erhalten konnte.

Aber sie führen kein gemüthliches Leben, denn nicht umsonst hat die deutsche Sprache für das Wort Heimath gar keinen Plural. Es gibt eben für den Menschen nur eine Heimath, und wer, wie ein solcher Conducteur oder Postillion, sich zwei, drei oder noch mehr derselben gründen muß, um an den verschiedenen Orten, wo er gezwungen ist, seinen Rasttag zu halten, nothdürftig zu Hause zu sein, der entbehrt vor allen Dingen das größte und höchste Glück das der Mensch kennen sollte, das Glück des eigenen Heerdes. Wollten wir es recht genau nehmen, so wären das eigentlich die richtigen und einzigen „armen Reisenden.“

Zwangspassagier.

Noch gibt es eine Art von Zwangspassagieren, die eben wie die vorigen ein gegebenes Ziel haben; sie gehören aber einer unheimlichen Gattung des Menschengeschlechts an, und man trifft sie auch nie einzeln, sondern immer nur paarweis: den „Zwangspassagier“ mit zusammengebundenen Händen, seinen Gefährten mit Czackow oder Helm, Flinte und Seitengewehr. So sitzen sie in den Wartesälen dritter Classe, bis der nächste Zug kommt, mit Niemandem verkehrend, von Allen gemieden, und wenn die keuchende Locomotive hält, nimmt ein besonderes Coupé die Beiden auf, bis sie an irgend einer anderen Station plötzlich wieder verschwunden sind – still und unheimlich, wie sie gekommen. Reisende sind es freilich, wenn sie auch Beide gerade nicht zu „ihrem Vergnügen“ reisen.

Ehe wir aber zu den wirklichen Vergnügungsreisenden übergehen, gerathen wir auf ein Mittelding zwischen Vergnügen und Zweck, das gewissermaßen den Uebergang von einer Classe zur anderen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_269.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)