Seite:Die Gartenlaube (1860) 149.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Der Falkenstein.

das Schmalwasser. Zwei Stunden lang windet sich das Thal in südöstlicher Richtung aufwärts, immer abwechselnd an seinen Wänden mit malerischen Felsgebilden, oft von beträchtlicher Höhe, und bewaldeten Bergen eingefriedigt. Der Schmalwassergrund hat jenen Charakter süßer poetischer Schwermuth, den nur diejenigen Herzen recht zu genießen wissen, welche mit dem Besten, was ihr eigen, unverstanden, mißachtet, verhöhnt durch die Menschenwelt gehen müssen. Die kennen den Werth einer solchen Gebirgsgegend, wie dieses Thal, in welchem, so wie im Berggebiet weit umher, keine menschliche Wohnung gefunden wird.

Am Ende des Thals steht seine Krone und die des ganzen nordwestlichen Gebirgstheils, der prächtig geformte Riesenfelsen der Falkenstein. Nur mäßig an die rechte Thalwand angelehnt, strebt er übrigens frei empor, wie ein Altar oder Heerd geformt, und hängt etwas über das Thal herüber. Sein Anblick imponirt selbst Augen, welche größere Felsenmassen gesehen, besonders seiner schönen Gestalt wegen. Von der Thalsohle aus mag er wohl dreihundert Fuß hoch sein. Eine sehr interessante Eigenthümlichkeit hat dieser kolossale Steinwürfel: sein oberer Theil ist nach dem ersten Drittel der Höhe von einer ziemlich breiten Spalte von einem Ende zum andern in zwei etwas ungleiche Hälften getheilt. Obgleich die Spalte wegen mächtiger Felsblöcke, die in ihr liegen, gerade nicht besonders wegsam ist, so können sie rüstige und nicht furchtsame Beine doch durchwandern. Zu beiden Seiten starren die kahlen Felswände noch in beträchtlicher Höhe empor, und nur ein schmaler Streif Himmel leuchtet herein. Sonst war der Eingang in die Spalte schwer zu erklimmen, jetzt ist er durch eine breite Holztreppe bequem zugänglich gemacht. Am andern Ende schwindelt man in die Tiefe und muß umkehren. Obgleich urkundlich erwiesen ist, daß dieses steile Felsenhaupt im 13. oder 14. Jahrhundert eine Burg oder wenigstens einen Thurm getragen, so ist doch durchaus unerklärbar, wie Menschen hinauf und herunter gelangt sind; denn man entdeckt nirgend die Spur einer Treppe, und man kann auch nicht einsehen, wo sie gewesen sein sollte. Der Falkenstein galt für unersteigbar, und selbst die Sage, daß er in einem frühern Jahrhundert von einem Waqehals sei erstiegen worden, hielten die meisten Kenner der Localität für ein Märchen.

Man kann sich also das Erstaunen denken, welches im Frühjahr

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_149.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)