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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

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Kommt nun der langersehnte Tag der Alpfahrt, der je nach dem Jahrgang und den klimatischen Eigenthümlichkeiten jeder Thalschaft in die Mitte oder gegen das Ende des Mai fällt,

„Wenn der Kukuk ruft, wenn erwachen die Lieder,
Wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu,
Wenn die Brünnlein fließen im lieblichen Mai!“

Wie der Hirt in Schiller’s Wilhelm Tell singt, dann schmücken sich die Sennen und Alle, welche mit in die Berge ziehen, festlich. Die Schwester heftet dem Bruder, „’s Maiteli“ ihrem „Buob“ Blumensträuße mit Flittergold verbrämt und Kränze von jungem Laub oder Buchsbaum auf den Hut, bunte Bänder flattern und winken, und das blendend weiße, hoch über die muskulösen Arme hinaufgewickelte Linnenhemd gibt einen guten Farbeneffect mit der scharlachrothen Tuchweste und den brennendgelben ledernen Kniehosen. So ist’s Brauch bei den fröhlichen Appenzellern und im Toggenburg, ähnlich auch bei den heiteren Bewohnern des Entlebuchs und überall, wo das auch in die stillen Gebirgsthäler eindringende Nivellirungs- und Verflachungsbestreben unserer Tage nicht jede Spur urwüchsiger Selbstständigkeit in des Volkes Thun und Denken, Kleidung und Sitte verwischt hat. Die Kühe sind gestriegelt und wie „g’schlecket“, daß sie im goldigen Sonnenschein glänzen und kein Wassertropfen auf dem glatten Haare haften würde. Mit übermüthigem Jauchzen und „Zauren“, die einen wahrhaft unverwüstlichen Humor bekunden, eröffnet der „Zusenn“, das weiß gescheuerte „Melcheimerli“ an der Schulter, den Zug. Ihm folgen die schönsten und größten Kühe mit den fußhohen, messingblechenen Glocken, „Trychlen“ im Volksmunde genannt. Diese hängen an breiten schwarzen, mit Figuren ausgeschnittenen und farbig ausgenähten ledernen Riemen, sind oberhalb am Henkel breit und bauchig, oft fast einen Fuß im Durchmesser weit, laufen nach unten schmaler zusammen und verursachen einen weithin hörbaren, trommelähnlich allarmirenden, heillosen und doch nicht unharmonischen Lärm. Man legt diese Schellen den Kühen nur für die Dauer an, während welcher der Zug durch die Dörfer geht, um Pracht damit zu treiben und alles Volk herbeizulocken. Ist dieser Zweck erreicht, dann wird das schwere Spectakel-Instrument den Kühen wieder von dem Hals genommen, weil erfahrungsgemäß das lange Tragen derselben den Lungen der Thiere schadet.

Sennhütte auf der Schweizer Alp.

Das ist dann ein völliger Aufstand in solch einem Alpendorfe, wenn der Zug durchkommt; Alt und Jung eilt herbei, um des „Jöcka–n–Ueli’s“ (Jakob Ulrichs) oder „Franz–Antoni–Lismer–Seppelis“ schöne „Chüena“ (Kühe) die Revüe passiren zu lassen und mit Kennermiene deren Bau und „G’schlachtheit“ zu prüfen. Denn der Bergbauer hat seine Kuh-Aesthetik, die mit den feinsten Nüancirungen ungemein „heikel“ und wählerisch in Farbe, Stellung der Füße, Hörnern und hundert anderen Eigenschaften distinguirt. Blökend und springend, gleich als ob sie es wisse, daß es hinaufgehe zu den gewürzigen, nahrhaften Alpweiden, folgt nun, in lange Reihe aufgelöst, die ganze Heerde, – unter ihnen brummend und trotzig der Großherr des Stall-Serails, der „Muni“, heute Gegenstand des öffentlichen Spottes, ein gefeierter Pantoffelheld; denn der Volkswitz bindet altherkömmlich diesem „Senntenpfaar“ (d. h. Zuchtstier) den Melkstuhl, mit Blumen geschmückt, zwischen seine Stirngabel. Neben dem Zuge, ebenfalls nach Möglichkeit im Staat, geht der „Gaumer“ und der „Handbub“, den Zusenn mit Jauchzen und Jodeln secundirend. Den Schluß bildet das Saumroß mit den Käserei-Geräthschaften und der Heerden-Besitzer, mit triumphirender Miene und unverkennbarem Selbstbewußtsein.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_044.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)