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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Action) nur unwillkürliche Bewegungen hervorgerufen (d. i. die centrifugale Action).

Welcher Art nun aber die Vorgänge sind, welche in den Nervenzellen der Nervencentra (zumal im Gehirne bei Entwickelung der sogen. geistigen Thätigkeiten) stattfinden, und worin der durch Reizung in den Nervenröhren erregte und fortgepflanzte Zustand besteht, das hat bis jetzt die Wissenschaft noch nicht entdecken können. Trotzdem sind aber doch die im Menschen herrschenden Nervengesetze zum großen Theile nicht unbekannt und können zu Gunsten des körperlichen wie geistigen Wohlseins verwendet werden. Denn die Mechanik des Nervensystems vollzieht sich ebenso regelrecht und gesetzlich, als die himmlische Mechanik des Sternenlaufs, nur daß dieselbe noch nicht ihren Newton oder Laplace gefunden hat, welcher ihrer verwickelten Gesetze Herr geworden wäre. – Daß aber die Wissenschaft, wenn vielleicht auch erst nach Jahrhunderten, das innere Getriebe der Nervenvorgänge immer begreiflicher und durchdringlicher machen wird, steht nach dem, was sie bis jetzt in diesem Punkte schon geleistet, wohl ziemlich fest. Und damit wird die Grenze, bei welcher das Wissen aufhört und das Glauben anfängt, immer weiter hinausgerückt werden.

Bock.


Londoner Zustände.
Von Dr. v. Franck.
Das Gefängniß der Königin (Queen’s Prison).

Ich müßte weit mehr Raum in Anspruch nehmen, als mir die „Gartenlaube“ gestatten kann, wollte ich die wunderlichen Contraste, wie sie durch englische Zustände und englisches Leben geboten worden, zu einem runden und ausdrucksvollen Bilde gestalten. Nirgends aber zeigen sich diese Gegensätze schärfer, nirgends sind sie augenfälliger, unglaublicher, als in der englischen Rechtspflege und in Allem, was mit dieser zusammenhängt. Zwischen rostige und schimmelige, uralte, veraltete und doch nicht aufgehobene Gesetze werden funkelnagelneue eingepfercht, welche durch eine oder die andere in der letzten Session des Parlamentes glücklich durch beide Häuser gegangene Bill in’s Leben gerufen worden sind. Diese modernen, aus dem fortschreitenden Geiste des Jahrhunderts geborenen Gesetze nehmen sich nun, auf das Prokrustes-Bett des alten Schlendrians gelegt, oft ganz sonderbar aus, und eben so schneiden auch die uralten Gesetze, diese Buchstabentyrannen, oft die possirlichsten Gesichter, wenn sie in die Hände der vom Geiste der Zeit angewehten Juries gelegt werden. Da kommen denn bisweilen die abnormsten und unglaublichsten Dinge zur Welt. So wurde z. B. erst kürzlich eine Eisenbahn-Compagnie sachfällig. Die Juries sprachen dem bei einer Eisenbahn-Collision beschädigten Kläger der Eisenbahngesellschaft gegenüber den Anspruch auf Entschädigung zu und verurtheilten demgemäß die besagte Compagnie zu einem Schadenersatze im Betrage von einem Farthing (dem vierten Theile eines Pfennigs).

Doch wir wollen Einzelheiten für jetzt bei Seite legen und uns heute nur mit dem großartigen Schuldgefängniß (Gefängniß der Königin, Queen’s Prison, genannt) beschäftigen, dessen Eigenthümlichkeiten jedenfalls interessant sind, wenn auch dabei Mißbräuche in Masse mit unterlaufen. Möchte der Beseitigung derselben bald auch die des ganzen veralteten barbarischen Schuldgefängnißsystems, das eines constitutionellen Staates unwürdig ist, auf dem Fuße folgen.

Wir treten in das Gefängniß der Königin, nachdem wir in St. Georges Road (an der rechten Seite der Themse) eine haushohe, mit sogenannten spanischen Reitern gekrönte Mauer umgangen haben und durch den unheimlichen Eingang in eine Art Vorhalle gelangt sind. Bevor wir eingetreten sind, haben wir nicht versäumt die Warnungstafel zu lesen, welche uns mit Geldbuße oder Gefängnißstrafe bedroht, falls wir es uns etwa beikommen ließen, in unseren Rocktaschen Contrebande zu verbergen, d. h. wie immer Namen habende gebrannte geistige Wässer. Wir müssen also darauf gefaßt sein, daß wir vor dem Einlasse am Leibe durchsucht werden, – wir sehen indessen so respectabel aus, daß man uns ohne diese Formalität eintreten läßt. Ehe wir aber den Namen des Schuldgefangenen, welchen wir zu besuchen gedenken, an des Pförtners Comptoir angeben, wollen wir uns erst über die Bedeutung des Gefängnisses, das wir zu betreten im Begriffe stehen, einige Rechenschaft ablegen.

Das Gefängniß der Königin (Queen’s Prison oder Queen’s Bench Prison, wie es auch genannt wird) ist nicht, wie Viele glauben, ein gewöhnliches Schuldgefängniß. Die beiden Hauptetablissements dieser Art befinden sich in Whitecroß-Street und in Horsemonger-Lane, und Niemand wird Schulden halber direct nach Queen’s Prison verpflanzt. Das Gefängniß der Königin ist ein privilegirtes Gefängniß; wer dort zu wohnen wünscht, muß in der Lage sein, sich für beiläufig 3 Pfd. Sterl. ein sogenanntes Habeas Corpus zu verschaffen, welches ihm auf die Ehre Anspruch gibt, bei Ihrer Majestät zu Gaste eingesperrt zu sein. Sind nun gleich die Privilegien, deren man im vorigen Jahrhunderte und noch in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts in Queen’s Prison theilhaftig war, bedeutend geschmälert worden, so ist doch der Abstand zwischen der Bequemlichkeit, welche das Gefängniß der Königin bietet, und der traurigen Lage, in welcher sich die Bewohner gewöhnlicher Schuldgefängnisse befinden, so groß, daß wohl jeder Zahlungsunfähige nach den drei Pfund Sterling seufzt, welche ihm zum Besitze eines „Habeas Corpus“ verhelfen könnten.

Nun ich die Pflicht erfüllt habe, meine Leser mit der Bedeutung des Hauses bekannt gemacht zu haben, in das ich sie einführe, darf ich wohl dem strengen Pförtner, der mich schon von seinem erhöhten Comptoir aus mit stereotyper Amtsmiene fragend angeblickt hat, den Gefangenen nennen, den ich zu besuchen gedenke, und – wenn mich nicht Discretion verhindern würde, diesen Namen allzulaut auszusprechen, so würden meine Begleiter nicht wenig staunen, den Namen eines der geistreichsten, gelesensten und beliebtesten englischen Schriftsteller zu vernehmen. Doch würden sie diesen interessanten Mann persönlich kennen, wie ich ihn kenne, so würden sie sich über seine Anwesenheit in Queen’s Prison vielleicht weniger wundern. Der verehrte Freund, von welchem ich spreche, ist eben einer von jenen vortrefflichen Menschen, denen von allen geselligen Tugenden nur eine fehlt, – ich meine: – die Fähigkeit zu einer richtigen Berechnung und Vertheilung der pecuniär-strategischen Streitkräfte im großen Lebenskampfe. Obgleich die Einkünfte dieses Mannes groß genug wären, um in einem eigenen Gig an der Seite eines eleganten kleinen Bengels in Livree durch den Hyde-Park zu kutschiren, – so geräth er doch regelmäßig von Zeit zu Zeit in das Labyrinth gewisser pecuniärer Unregelmäßigkeiten, aus welchen er sich zwar jedesmal am Ariadnefaden seines bedeutenden Schriftstellertalentes in der ehrenhaftesten Weise wieder herausfindet, – welche ihn aber doch nun schon zum zweiten Male zu einem der unfreiwilligen Gäste der Königin in Queen’s Prison gemacht haben. Wie das erste Mal, so wird er sich auch diesmal in wenigen Wochen wieder herausgeschrieben haben, – denn er hat unbegrenztes Terrain in Englands ersten Magazinen und Tageblättern, – aber für heute haben wir ihn einmal hier; und sein Name verschafft mir den Vortheil, meine Leser in das Innere dieses Gefängnisses einführen zu können.

Nachdem wir durch ein Eisengitter eingelassen worden sind, sehen wir uns urplötzlich in einem ungeheueren Hofraume, oder vielmehr auf dem Hauptplatze eines ganzen Stadttheiles. Auf einer Seite ist dieser Platz von einer riesigen Mauer, auf den anderen von Wohngebäuden umgeben. Die Nordseite dieses großen wunderbar belebten Platzes bilden die von den Schuldgefangenen bewohnten Häuser. Diese Wohngebäude stehen aber offen, sie besitzen keine Thore zum Schließen, und man gelangt, wie allenfalls in Casernen, vom Hofe unmittelbar und ungehemmt in die Stiegenräume. Ueber den thürlosen Hauseingängen sieht man die Nummern der Häuser mit weißen Ziffern auf dunklem Grunde in kleinen schwarzen elliptisch geformten Feldern. Haben wir erst eines dieser Häuser betreten, so wird es uns klar werden, warum man uns die Wohnung meines Freundes mit zwei Nummern bezeichnete, denn jede Thüre im Innern des Hauses hat wieder ihre Nummer, so daß die eine Nummer die des Hauses, die andere die des Zimmers

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_041.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)