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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Steinerhöhung, in der der Pfahl befestigt war, ausgestreckt fand. Ich rief Rederer und wir richteten sie auf. Sie athmete, war also nicht todt, sondern nur in dem Zustand der Erschlaffung und Abgespanntheit, welcher dem Tode des Erfrierens vorhergeht. Rederer hielt sie in seinen Armen aufrecht, ich öffnete ihr den Mund und steckte ihr die Oeffnung meiner Feldflasche hinein. Sie schluckte mechanisch, und nach einigen Zügen aus der Flasche öffnete sie die halbgeschlossenen Augen und sah uns verwundert an. Sie war noch unfähig zu sprechen, und gab nur einige unverständliche Laute von sich. Wie wir später von ihr erfuhren, war sie aus dem Rauriser Thal gekommen und wollte über das Hohe Thor nach Heiligenblut, um eine Verwandte zu besuchen. Der Nebel und das Schneewetter hatten sie überrascht; sie war glücklich bis zu der Scharte des Hohen Thors gekommen, war aber dort ganz erschöpft und in einem Zustand der Apathie neben dem Christusbild hingesunken. Wären wir nicht zufällig des Weges gekommen, oder wären, ohne sie zu bemerken, wieder gegangen, so würde sie eingeschlafen und erfroren sein. Ganz an derselben Stelle hatte dies Schicksal im Frühjahr ein junges Mädchen aus der Fusch getroffen. Ihr Begleiter, ein kräftiger, junger Bauernbursche, hatte sich noch eine Stunde weit hinabgeschleppt und war sodann desselben Todes gestorben. Rederer zog seinen dicken Lodenrock aus, und wir hüllten das Mädchen in denselben ein, um sie einigermaßen zu erwärmen. Sie trank noch einmal aus der Flasche und war nach einigen Minuten so weit gestärkt, daß es ihr möglich wurde, von uns Beiden gestützt, die steile Höhe hinabzusteigen. Die Heftigkeit des Wetters hatte während dieser Zeit etwas nachgelassen. Der Wind hatte sich gedreht und zerriß die Nebelmassen, welche das Möllthal einhüllten. So schnell, wie es mit dem Mädchen möglich war, eilten wir abwärts, in der Richtung nach Heiligenblut zu. Nach einer Stunde wurde, des Mädchens wegen, nochmals Halt gemacht und einige Minuten stehend ausgeruht. Sie war jetzt gänzlich wieder zu sich gekommen und bereits im Stande, mit einer geringen Unterstützung allein zu gehen. Ihre Rettung glaubte sie dem wunderthätigen Bilde zu verdanken, in dessen Nähe sie hingesunken war. Noch zwei Stunden Hinabsteigens, und wir sahen die Kirche und das Widdum von Heiligenblut, von hohen, grünen Lärchbäumen umschattet, gerade unter uns liegen.




Hermann Schulze-Delitzsch.

Das allgemeine Streben der Zeit, der Noth Linderung zu bringen, äußert sich insofern auf verschiedene Weise, als man bald nach dem Wohlthätigkeitsprincip, bald nach dem Grundsatz der Selbsthülfe handelt. Welche sittliche Wirkungen das eine und das andere System haben muß, wird jeder Menschenkenner sich selbst sagen. Das Wohlthätigkeitsprincip beruht auf einem Almosengeben und entmuthigt und entsittlicht, das Princip der Selbsthülfe wendet sich an das Ehrgefühl und hebt und stärkt.

Bei keinem der bedrängten Stände würde das Wohlthätigkeitsprincip, wenn es allgemein zur Anwendung käme, furchtbarere Verheerungen anstiften, als bei dem des kleinen Gewerbes. Leider ist unter seinen Mitgliedern, dieser breitesten Basis der Bürgerschaft, eine klare Einsicht in die Lage, in der sie sich befinden und über die sie fast alle klagen, nicht allgemein verbreitet. Die meisten suchen die Hülfe da, wo sie nicht zu finden ist, und fordern Polizeischutz und Zunftzwang. Daß sie leiden, ist gewiß genug, und diese Thatsache genügt den Männern des Wohlthätigkeitsprincips, die kleinen Handwerker im Lichte von verschämten Armen zu sehen. Es war einmal nahe daran, daß diese Auffassung die Oberhand gewann, und dann würde ein großer und achtbarer Stand tiefer gesunken sein, auf eine Stufe hinab, von der wieder loszukommen den Wenigsten gelingt. Da trat Hermann Schulze auf und ihm ist es fast ausschließlich zu verdanken, daß von dem falschen Wege in eine Bahn eingelenkt worden ist, auf der im Laufe weniger Jahre die größten und segensreichsten Fortschritte gemacht worden sind. Er ist der eigentliche Gründer jener Vorschußvereine und andern freien Genossenschaften, welche dem Kleingewerbe seinen vollen Antheil an allen Hülfsmitteln der industriellen und Handelsbewegung unserer Tage verschafft haben.

Hermann Schulze wurde am 29. August 1808 geboren. Sein Vater, der als preußischer Justizrath noch heute lebt, bekleidete damals in Delitzsch, einem Landstädtchen der Provinz Sachsen unfern von Leipzig, das Amt eines Bürgermeisters. In Delitzsch erhielt Schulze die erste Erziehung und ward dann nach Leipzig auf die Nicolaischule geschickt. Seine Universitätsstudien machte er theils in dieser Stadt, theils in Halle. Zweiundzwanzig Jahre alt, bestand er als Candidat der Rechte die erste Prüfung, nach der man ihn in Naumburg beim dortigen Oberlandesgericht als Auscultator beschäftigte. Seine Stellung ließ ihm Muße, sich mit der Geschichte, der Philosophie und der deutschen Literatur zu beschäftigen. In den Gerichtsferien wanderte er durch die Gebirge unsers Vaterlandes und besuchte auch den scandinavischen Norden. Die dichterische Frucht dieser Reisen ist sein 1838 erschienenes „Wanderbuch“ (Leipzig bei Brockhaus), eine Gedichtsammlung, die in unserer an Lyrikern fast überreichen Zeit Aufmerksamkeit und Theilnahme erregt hat.

In demselben Jahre, in dem er als Dichter vor die Welt trat, wurde er zum Assessor ernannt und bald darauf zum Kammergericht in Berlin versetzt. Die Hauptstadt behielt ihn indeß nicht lange. Er stand in Delitzsch im besten Andenken, und als 1841 dort das Amt des Patrimonialrichters erledigt wurde, wünschte man ihn zu haben. Indem er dem ehrenvollen Rufe folgte, stellte er dem Staate zwei Bedingungen, welche beide angenommen wurden: daß man ihn in den Listen nach seinem Dienstalter fortführe, und daß er jeder Zeit in den Staatsdienst zurücktreten könne.

Die collegialische Besetzung der Gerichte, die man neuerdings zur Regel zu machen liebt, hat ihre empfehlenswerthen Seiten, aber in einer wichtigen Beziehung ist der Einzelrichter doch bevorzugt. Er lernt die Welt nicht aus den Acten, sondern in den Menschen kennen, und wird seinerseits dem ganzen Gerichtsbezirke bekannt. Ist er der rechte Mann dazu, so wird sein Verhältniß zu der Bevölkerung ein patriarchalisches. Man vertraut ihm, man folgt ihm, wenn er kostspielige Processe durch einen verständigen Vergleich zu beenden räth, und bei ihm sucht man in vielen Verlegenheiten und Nöthen des alltäglichen Lebens Auskunft und Beistand. Ein solcher Einzelrichter wurde Schulze. Als gesuchter und verehrter Beirath von Bürgern und Bauern hatte er Gelegenheit, ganz andere Blicke in die Lebensverhältnisse zu thun, als der „grüne Tisch“ sie ihm jemals gestattet hätte. Jemehr er sah, wie viel unverschuldete Noth auf das Dasein Vieler drückt, um so eifriger wurde er in der Erfüllung seiner Pflicht, zu helfen, wo er immer konnte. Die Liebe, die er durch sein Wirken säete, hat sich später auf eine rührende Weise geäußert. Als er von der siegreichen Reaction vor Gericht gestellt wurde, um für seine Thätigkeit als Volksabgeordneter bestraft zu werden, da war unter den Zeugen aus seinem alten Gerichtsbezirk, die ihn belasten sollten, nicht einer, der ihm nicht das ehrendste Zeugniß ausgestellt hätte.

Schulze war sieben Jahre als Patrimonialrichter im Amt gewesen, als die Bewegung von 1848 kam. Für Delitzsch verstand es sich von selbst, daß man nur ihn als Abgeordneten nach Berlin schicken könne. In der Nationalversammlung schloß er sich den Centren an, die zwar eine Neugestaltung, aber keinen radicalen Bruch mit der Vergangenheit wollten. Er war seinen Parteigenossen nicht weiter bekannt, als durch sein Wanderbuch und durch verschiedene Aufsätze schöngeistigen und kunstgeschichtlichen Inhalts, die er nach einer Reise in Italien und Sicilien verschiedenen Zeitschriften übergeben hatte. Im nähern Umgange überzeugten sie sich, nach welcher Richtung seine Bestrebungen gingen, und ernannten ihn zum Vorsitzenden des Ausschusses, der zur Untersuchung des Nothstandes der Handwerker und Arbeiter niedergesetzt wurde.

Das Material, das diesem Ausschusse zuströmte, war ein massenhaftes. Aus allen Gegenden Preußens liefen etwa 1600 Bittschriften ein, die ohne Ausnahme die Lage des Kleingewerbes in düstern und nur zu wahren Farben schilderten. Etwas Anderes, als wie traurig es jetzt aussehe, ließ sich aus diesen Schriftstücken indessen nicht entnehmen. Die Hülfe, welche ihre Verfasser und Unterzeichner forderten, widersprach allen Grundbedingungen modernen Verkehrslebens. Die freie Concurrenz sollte beseitigt und jedes Handwerk mit einer neuen Zunftschranke umzogen werden, damit wieder jene verderblichen Verbietungs- und Bannrechte entständen, die dem Handwerk seinen goldenen Boden unter den Füßen fortgezogen

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