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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

die mich nicht wenig interessirte, auf die Spur gekommen zu sein. Wir hatten schön Wetter, das heißt, die Brise legte sich hübsch in die Segel und trieb die alte Patience stätig ihrem Ziel entgegen. Wir liefen wohl 6 Knoten – sehr viel für das wurmstichige Fahrzeug, das mich trug; morgen mußten wir in Portsmouth sein. So lag ich denn und sann nach, bis ein Schuß, der am Verdeck fiel, mich plötzlich aufschreckte. Es war der Allarmschuß der Schildwache; außer dieser hatte Niemand an Bord Feuerwaffen zur Hand. Im Nu war ich oben und stieß beinahe an Block, der sich nicht vom Flecke rührte und mit offenem Munde nach der Mastspitze starrte. Nie werde ich den Ausdruck des furchtbaren Entsetzens vergessen, welches sich auf seinem Angesicht spiegelte. Seine Augen schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen, und er holte mit Mühe Athem. Mein Auge folgte dem seinigen, und hoch oben am Vordermast, auf dessen Raa er stand, gewahrte ich Jack Watson – er verschmähte es, die Rückenpaarden als Stütze zu gebrauchen, und stand frei da, die Linke drohend gegen Block ausgestreckt, von dem Abendroth des Horizontes, von dem die Sonne noch nicht ganz verschwunden war, scharf, geisterhaft abstechend.

Ich sah wieder auf das Verdeck nieder. Dieses bot einen wirklich interessanten Anblick! auf allen Punkten des Schiffes zerstreut die Matrosen, alle nach der Erscheinung hinaufstarrend, Einer bleicher und erschrockener als der Andere; – an eine Speiche des Gangspills lehnend Mr. Bentham, dessen Schrecken vielleicht nur durch den des Hochbootsmanns übertroffen wurde; – Mr. Smith der Einzige, der seine Besonnenheit behalten hatte. Als ich hinaus kam, rief er eben nach seinen Pistolen; aber da war Keiner, der seinem Rufe Folge geleistet hätte. Ich trat zu ihm und ersuchte ihn um sein Sprachrohr, das er mir willig reichte. Ich setzte es an den Mund, kehrte die Mündung nach oben und schrie, was ich schreien konnte:

„Watson!!“

Wer sich nicht rührte, war Jack. Ich zog ein Pistol aus der Tasche und richtete es auf ihn.

„Komm ’runter, mein Junge!“ rief ich dann, „komm schnell, sonst müßt’ ich Dich holen,“

Auf dem weiten Raume des Verdecks hörte man nicht einen Laut, Alles wartete gespannt auf den Erfolg meines Anrufs. Dieser schien zu wirken, Jack rührte sich. Ich hätte meine Drohung gewiß unter keiner Bedingung ausgeführt; aber sie war ein Mittel, durch das meine Neugierde vielleicht befriedigt werden konnte, und daß von den Matrosen keiner sich auf die Oberbram-Raaen gewagt hätte, um ihn festzunehmen, darauf hätte ich ohne Zögern 100 Pfund gegen 2 Pence gewettet. Ich wiederholte meinen Ruf. Jack wiegte sich noch einen Augenblick auf seiner Raa, dann glitt er schnell wie ein Gedanke nach den Sahlingen der Bramstenge, ohne daß ich bemerken konnte, wo er sich hielt, ergriff hier das Marssegel-Drehreep und schoß daran hinunter; – ein Satz, und er stand mitten unter den Matrosen, die nach allen Seiten auseinanderstoben. Er sah bleich und hager aus, seine Miene aber zeigte nichts von Furcht oder Niedergeschlagenheit. Festen Schrittes ging er auf Mr. Bentham zu, der bis zum Quarterdeck vor ihm zurückgewichen wäre, wenn ihn die Ankerwinde nicht gehindert hätte, blieb dicht vor ihm stehen, langte wieder nach seinen triefenden Haaren und sagte mit tiefer Stimme:

„An Bord gekommen, Sir.“

Mr. Bentham vermochte kein Wort zu erwidern und glotzte Watson unverwandt an; man sah und hörte seine Zähne klappern. Da trat Mr. Smith rasch vor, und indem er Jack am Rockkragen faßte, rief er den Matrosen zu:

„Kommt her, ’n Paar von Euch! Nehmt mir den Ausreißer da ab.“

Aber Keiner machte Miene, zu gehorchen. Es war in der That ein eigenthümlicher Anblick, wie der Delinquent, die auf seinen Schultern lastende Hand völlig ignorirend, mit ruhigem Lächeln die Seeleute betrachtete, die vor ihm zurückbebten, den sie ergreifen sollten. Aber Mr. Smith verlor die Geduld. Er rief vier der Matrosen beim Namen auf, und diese traten denn scheu und zögernd vor. Der erste Lieutenant feuerte sie fluchend an, sie mußten Hand an Jack legen, der zu ihrem unbegrenzten Erstaunen ihnen nicht unter den Fingern verschwand; unter Mr. Smith’s Aufsicht ward er dann nach einer kleinen Zelle hinuntergeführt, die als Gefängnißraum diente, in Fußeisen und Handschellen gelegt und wohl eingeriegelt. Dann kam Mr. Smith mit seinen vier Mann wieder herauf, näherte sich Mr. Bentham und redete ihn folgendermaßen an:

„Bitte um Instructionen, Sir, Watson ist gut verwahrt. Soll er nach aller Form morgen verhört werden, oder gleich jetzt ein Paar Dutzend bekommen – zum „Kosten“? Das würde die Leute von ihrer eselhaften Furcht curiren.“

„Wa – was, Kosten!“ stotterte Mr. Bentham, der seine Käsefarbe noch immer nicht verloren hatte, und eben an Block’s Schicksal denken mochte. „Ich habe den Teufelsspuk satt. Wer hieß Sie ihn hinunterführen, Sir? – Wie?“

„Ich dächte, Sir –“

„Ni – nichts da. Lassen Sie ’n herauf – vielleicht springt er wieder über Bord. Werft ihn über Bord, wenn er nicht selber springt. Aber ich will ihn – ich mag –“

Ich trat nun gleichfalls hinzu, um Mr. Smith zu unterstützen, und unserem beiderseitigen Zureden gelang es, des würdigen Capitains Aufregung einigermaßen zu beschwichtigen. Mr. Smith begab sich nun sogleich nach der Gefangnenkammer, um Watson in’s Gemüth zu reden; denn es war wichtig, daß er offen gestand, wie er seine Kunststückchen ausgeführt – wurde der Schiffsmannschaft ihre Gespensterfurcht nicht benommen, so desertirte gewiß die Hälfte, so wie wir im Hafen lagen.

Rathlos kam der Lieutenant wieder herauf. Watson hatte auf all’ seine Fragen, auf all’ sein Drohen und Fluchen auch nicht eine Sylbe geantwortet. Mr. Smith war wüthend: auf eine solche Verstocktheit hatte er nicht gerechnet.

Ich entschloß mich, mein Glück gleichfalls zu versuchen, und begab mich mit seiner und des Capitains Zustimmung zu dem Gefangenen hinunter. Ich muß gestehen, ich war gespannt und aufgeregt – mehr, als es sich für einen Lieutenant, einem simpeln Matrosen gegenüber, ziemen mochte.

Ich trat in die Zelle und rief Jack, der mit dem Rücken gegen die Thüre gekehrt saß, beim Namen.

Mr. Smith hatte seine Maßregeln gut getroffen. Er hatte die Luke, die in halber Mannshöhe über dem Fußboden angebracht war, fest verschließen und verrammeln lassen und dem Gefangenen ein Stümpfchen Licht dagelassen, welches den schmalen Raum kärglich erleuchtete. Quer über den Boden ging eine eiserne Stange; an ihr waren zwei runde Spangen angebracht, in welche Jack’s Füße eingeklemmt waren. Seine Hände staken in einem einzigen eisernen Ringe, der ihnen nicht die geringste Bewegung gestattete.

Er wandte schnell den Kopf, als er meine Stimme hörte. „O, Sir!“ flehte er mit unterdrückter Stimme, „aus Barmherzigkeit, öffnen Sie schnell die Luke – ich muß sonst ersticken.“

Es war in der That sehr dumpfig und schwül in der engen Zelle, aber ich wunderte mich, daß eine solche Kleinigkeit einen Mann von Watson’s Constitution belästigen konnte. Indessen erfüllte ich seinen Wunsch, schob den Riegel weg und ließ die frische Luft hineindringen.

„Tausend Dank, Sir!“ seufzte Jack und ließ den Kopf matt auf die Brust herabsinken.

Ich trat dicht vor ihn hin. „Jack!“ Er schwieg. „Es scheint, Du willst mich wie Mr. Smith behandeln. Ist das Deine Absicht, Jack? – Du schweigst? Gut denn. Ich will Dich Deinem Schicksale überlassen. Ich habe Dich oft gegen Block, heute erst gegen den Capitain in Schutz genommen; ich hätte es morgen wieder gethan –“

„Dafür danke ich Ihnen heute, Sir.“

„Willst Du mir Rede stehen?“

„Nein, Sir,“ sagte Jack, in seine frühere Apathie zurücksinkend.

„Nun, dann sind wir fertig miteinander,“ sprach ich, nun wirklich aufgebracht. „Ich war Dir zugethan, weil ich Dich für ’nen braven, aufrichtigen Burschen hielt – aber ich habe mich getäuscht. Du bist undankbar ... Du hast Alles nur zum Narren halten wollen, mich ebenso, wie die Matrosen...“

„Das sind harte Worte, Sir!!“

„ ... und die Geschichte, durch die Du meine Theilnahme erregtest, wird wohl auch nur ein Kunstgriff sein...“

„Nein, o nein, Sir! Ich will ’n schlechter Dieb sein, wenn ich Ihnen ’was vorgepinselt habe. Aber was wollen Sie denn eigentlich von mir? Und Was haben Sie davon, wenn mir Block – daß ihn Gott verdammen möge! – die Fetzen vom Rücken haut, nachdem ich Alles auseinandergesetzt habe, was Sie wissen wollen, Sir?“

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