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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

umsehen müssen, der uns einen frischeren Vorrath von Lectüre bieten kann. Es wäre am Ende gar kein so schlechtes Geschäft damit in den Minen zu machen, wenn man eine Leihbibliothek errichtete.

„Die wenigsten Miner lesen,“ sagte Schütz, „und wenn man den ganzen Tag hart gearbeitet hat, muß Jemand auch einen sehr regen Geist besitzen, noch Freude an einem Buche zu finden. Den Sonntag vertrinken die Meisten.“

„Und wie sehr hätten wir Alle es doch nöthig,“ sagte Köllern, „dann und wann wenigstens etwas zu treiben, was uns einmal auf kurze Zeit diesem nur allein realistischen Leben entziehen könnte! Gold, Gold und immer nur Gold ist hier die Losung, und mir wenigstens thut es wohl, mich einmal wieder, durch ein gutes Buch geführt in ein ganz fremdes und dem unsrigen fern liegendes Leben hineinzudenken. Ich weiß nicht, ob es Anderen da auch so geht wie mir, aber wenn ich Geschichten aus der eigenen Heimath lese, besonders wenn sie treu und natürlich geschrieben sind, so kommt es mir ordentlich vor, als ob ich selber wieder im alten Vaterland säße und nur eben ein Buch gelesen hätte, in dem das californische Treiben recht lebendig geschildert wäre. Freilich darf ich meine eigene Spitzhacke und Schaufel nicht dabei ansehn.“

„Wohl dem,“ seufzte Schütz leise, „der sich in ein Buch so weit vertiefen kann, die eigene Gegenwart darüber zu vergessen!“

„Und können Sie das nicht?“

„Nein, sagte der Miner nach einigem Zögern, „so viel Mühe ich mir auch dahin gegeben. Ich bin es nicht im Stande.“

„Sie grübeln aber auch zu viel, sitzen zu viel allein, bester Freund,“ brach Köllern jetzt gutmüthig das Eis. „Sie sollten sich mehr an uns anschließen und weniger Ihren eigenen Gedanken nachhängen. Hol’s der Böse, in diesen stillen, schweigsamen Bergen muß man ja zuletzt, wenn man sich von jedem Verkehr abschließt, ordentlich melancholisch werden.“

Schütz erwiderte nichts und sah nur still vor sich nieder, endlich sagte er leise und abwehrend: „Ich fühle mich wohl dabei.“

„Wem nicht zu rathen ist, dem ist nicht zu helfen,“ dachte Köllern, und um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, sagte er: „Sie haben sich jetzt einen anderen Arbeitsplatz gesucht?“

„Nein,“ erwiderte Schütz, „ich bin noch nicht ganz mit meinem letzten fertig und werde ihn wahrscheinlich erst am Sonnabend beenden können.“

„Dann haben Sie sich heute wohl nur vor der Hand nach einem neuen Platz umgesehen – das lange Wählen hilft indessen nichts; Glück ist doch die Hauptsache und jeder Platz dadurch beinah gleich gut.“

„Heute,“ erwiderte Schütz, „hab’ ich mein Zelt noch nicht verlassen. Mir lag es heute Morgen wie Blei in allen Gliedern, und ich blieb deshalb auf meiner Matratze.“

„Ihr Zelt nicht verlassen?“ sagte Köllern, ihn überrascht ansehend, „aber Sie sind doch bei meinem Arbeitsplatz vorbeigekommen!“

Er erschrak über die rasch herausgestoßenen Worte, denn Schütz wurde in dem Augenblick, während er ihn starr und entsetzt ansah, leichenblaß, verharrte einen Moment in seiner Stellung und kauerte sich dann, sein Antlitz in den Händen bergend, still und lautlos am Feuer nieder.

Köllern konnte nicht anders glauben, als daß Schütz einen seiner melancholischen Anfälle bekommen habe, und so gern er hier Trost und Hülfe geboten hätte, war er doch viel zu zartfühlend, in einem solchen Augenblick seine Gegenwart aufzudringen. Er stand leise auf und wollte sich, ohne den Unglücklichen weiter zu stören, geräuschlos zurückziehen, als Schütz, der die Bewegung gehört hatte, rasch den Kopf hob, und, die Hand gegen ihn ausstreckend, sagte:

„Bleiben Sie, Herr von Köllern – bitte, bleiben Sie und – haben Sie Nachsicht mit mir; entschuldigen Sie, daß ich – daß ich mich von einem augenblicklichen Gefühl hinreißen ließ.“

„Mein lieber Schütz,“ sagte Köllern herzlich, „geben Sie sich Ihren trüben Gedanken, was auch deren Ursache sein mag, nicht zu sehr hin. Sie machen sich nur unnöthiger Weise das Herz schwer, und glauben Sie dabei, daß ich selber innigen Antheil an Ihnen nehme und – wenn Sie irgend etwas drückt – gern und willig mit Rath und That Ihnen beistehen werde, so weit eben meine eigenen Kräfte reichen.“

„Ich bin es überzeugt,“ sagte Schütz, indem er sich aufrichtete und einen scheuen Blick umherwarf – „und das eben gibt mir auch den Muth, zu Ihnen zu sprechen – Ihnen etwas mitzutheilen, was ich bis jetzt noch keinem Sterblichen vertraut habe. Sie geloben mir Schweigen?“

„Genügt Ihnen mein Wort?“

„Vollkommen. – Außerdem,“ setzte Schütz, der sich in einer eigenen Aufregung befand, zögernd hinzu, „sind Sie heute selber, wie mit scheint, Zeuge oder Mitwissender meines Unglücks geworden.“

„Ich?“ rief Köllern erstaunt.

„Sie haben mich an Ihrem Arbeitsplatz gesehen?“

„Ja – allerdings.“

„Gut – ich gebe Ihnen aber mein Ehrenwort, daß ich dies Zelt den ganzen Tag heute mit keinem Schritt verlassen habe.“

„Aber wie ist das möglich?“ rief Köllern. „So leibhaftig wie Sie hier vor mir stehn, standen Sie dort, im hellen, lichten Sonnenschein vor mir; aus jede Einzelheit Ihrer Kleidung, Ihrer eigenen Züge wollte ich schwören.“

„Ich weiß es,“ sagte Schütz, der sich jetzt vollständig gesammelt hatte, ruhig, „Sie haben sich auch nicht getäuscht – ich stand bei Ihnen – aber nicht ich, nicht mein sterblicher Körper, sondern – mein Doppelgänger.“

„Ihr Doppelgänger?“ rief Köllern erschreckt.

„Ja,“ sagte der Unglückliche, sein Antlitz wieder in den Händen bergend und in sich zusammensinkend – das ist mein Elend. – Ich habe einen Doppelgänger, der mich verfolgt, eine andere Seele, die nicht mein gehört, und doch mit meinem Körper umherwandelt und auf meinen Geist ihre Qualen überträgt. Das, lieber Köllern, trieb mich aus der alten Heimath über’s Meer und hier in dies wilde, abgelegene Land, nur in dem tollen, thörichten Versuch, meiner eigenen Seele zu entfliehen.“

„Und ist das nicht am Ende doch nur eine fixe Idee, lieber Schütz?“ sagte Köllern theilnehmend.

„Haben Sie ihn nicht selber heute gesehn?“

„Aber können Sie nicht vielleicht in Gedanken die kurze Strecke –“

„Ich bin nicht weiter gegangen, als von meiner Matratze zum Feuer und wieder zurück,“ versicherte aber Schütz, während er sich aufrichtete und seine Augen eine wilde, unheimliche Gluth gewannen.

„Aber es ist ja doch kaum möglich –“

„Möglich?“ wiederholte der Unglückliche leise, indem er wieder scheu den Blick umherwarf, als ob er den Gefürchteten jeden Moment neben sich erwartete, „wenn Sie ihn hätten hier mit mir am Feuer sitzen sehn, wenn Sie ihn Morgens, wie ich, schon draußen in der Grube in voller Arbeit gefunden, wenn Sie ihn Nachts hätten stöhnen und seufzen hören, wie ich, Sie würden nicht von Unmöglichkeiten reden. Wissen Sie nicht, daß oft eine Mutter ihre Frucht in zwei Körpern zur Welt bringt, die nur eine Seele zusammen haben und im Leben und Tode nicht wieder von einander lassen mögen und können? So wurde mein Körper mit einer Zwillingsseele geboren, und während mein Geist sich dagegen sträubt, sie anzuerkennen, gehe ich selber dabei zu Grunde.“

„Dann aber ist diese Einsamkeit auch daß furchtbarste Gift für Sie,“ rief von Köllern rasch. „Warum ziehen Sie sich so scheu in sich selbst zurück, diesen Träumen und Bildern nur mehr und mehr Nahrung zu geben? Warum arbeiten Sie selbst allein, den langen Tag? Brechen Sie Ihr Zelt hier ab und kommen Sie mit zu uns hinunter. Es ist etwas gemischte Gesellschaft dort, das geb’ ich zu, aber doch auch Leben und heiterer Sinn, und in anderer Umgebung wird Sie auch Ihr Quälgeist verlassen, wenigstens nicht mehr die Macht über Sie haben, wie hier, wo Sie ihm und seinem Wirken ja gar nicht ausweichen können.“

„Es geht nicht,“ flüsterte Schütz leise zurück, „ich darf nicht zwischen Menschen, denn dort läßt er mir gar keine Ruhe und stöhnt und ächzt die ganze Nacht, daß kein Anderer in meinem Zelte aushalten kann. Glauben Sie mir, ich habe es versucht, ich habe Alles versucht, ihn zu bannen, aber ich sehe ein, es ist umsonst. Ich kann meinem Geschick nicht entgehen.“

„Sie können, wenn Sie wollen,“ drängte Köllern, der nicht einen Augenblick daran zweifelte, daß des Unglücklichen ganzes Leiden allein in seiner überspannten Einbildungskraft liege; „Sie wissen noch gar nicht, was der feste Wille des Menschen für Macht hat.“

„Er mag eine Seele bewältigen können,“ stöhnte Schütz, „aber er ist nicht im Stande gegen zwei anzukämpfen.“

„Und wollen Sie nicht wenigstens noch einmal den Versuch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_595.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)