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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Die Times lebt noch, blüht noch, ist noch im Besitze eines großen Monopoles, das ihr nur langsam aus den Händen gerungen werden kann, des Monopoles der Unverantwortlichkeit und der Unfehlbarkeit. Wie oft auch die Times ihre Farbe gewechselt haben mag, wie oft auch ihre politischen Prognosen Lügen gestraft worden sein mögen, – die Mehrzahl der Engländer schwört doch noch immer bei der Times, man glaubt nur, was in der Times gestanden hat, man fragt noch immer: „Was hat die Times dazu gesagt?“

Allein auch die Times wird hinsinken gleich der Macht der ostindischen Compagnie, auch sie wird ihr Monopol verlieren, nur wird sie ihre Abdicirung nicht in die Hände einer Königin legen. Schon steht der kleine David mit seiner Schleuder bereit, der diesen Goliath der Journalistik fällen wird. Der kleine David mit der Schleuder ist die wohlfeile Presse. Die Penny-Blätter werden den journalistischen Crösus bankerott machen. Freilich wird das nicht morgen geschehen – aber um so gewisser übermorgen.

Was aber auch die Zukunft der Times sein mag, in diesem Augenblicke steht sie noch da in ungeschwächter Kraft. Ihre Macht ist eben so groß, als das Capital an Intelligenz, über welches sie verfügt, außergewöhnlich, als der Mechanismus, den sie in Bewegung setzt, erstaunenswerth ist. Mit vollem Rechte sagt der geistreiche George Sala: „Die Herausgabe der Times ist, was man auch sagen mag, eine große, eine riesige, eine wunderbare Thatsache, – nicht minder wunderbar, weil dreihundertunddreißig Male im Jahre wiederkehrend.“ Die Times ist Londons mächtiger Pulsschlag. Ganz nahe bei der Paulskirche, dieser Kathedrale des Anglikanismus, befindet sich das Office der Times, die Kathedrale des Journalismus. Die Glockenzungen dieser beiden Kathedralen tönen täglich gar mächtig hin über Englands Metropole; aber über die topographische Lage dieser beiden mächtigen Dome muß ich mir einige Bemerkungen erlauben. Während man die Paulskirche schon von Weitem aus dem Häusermeere emporragen sieht, und den Weg zu ihr wohl nicht verfehlen kann, gehört es eben nicht zu den leichten Aufgaben, Printing House Square, die Residenz der Times, zu entdecken, wenn man auch mit einem Plane von London versehen ist, und wenn man auch ganz genau weiß, daß dieser Square sich in der City befindet, in der Pfarrei von St. Anna, Blackfriars. Es ist, als wäre die Times mit Geheimnissen und Räthseln umgeben. So wie man selbst von Leuten, welche der Literatur und der Journalistik angehören, sehr schwer irgend eine Auskunft über den inneren Mechanismus dieses Riesenjournales erhalten kann, eben so schwierig ist es, die Werkstätte desselben aufzufinden, wenn man auch ganz nahe dabei steht. Von dem rechten Themseufer über die Blackfriars-Brücke gekommen, hat man die erste Straße rechts einzuschlagen; soviel konnte man erfahren, – was aber nun weiter kommt, das kann Einem Niemand genau sagen, man muß eben auf Entdeckung ausgehen.

Plötzlich sieht man sich in einen der schmutzigsten Stadttheile versetzt, mit engen, unregelmäßigen, nach allen Richtungen hin sich durchkreuzenden Gassen. Man weiß, daß Printing House Square ganz nahe beim Puddle Dock liegen muß, und nicht weit von der Apothekershalle, kaum einen Pistolenschuß weit von der Paulskirche, ganz nahe von Ludgate Hill, kaum eine Minute von Fleet Street, in der unmittelbaren Nachbarschaft der Blackfriars-Brücke, hart neben Earl-Street und nicht allzuweit vom Chathamplatze – dies Alles weiß man ganz genau – und doch sieht man sich vergebens nach dem „Times-Office“ um, man ist wie im Centrum des cretischen Labyrinthes. Von allen Seiten gehudelt und gepudelt, durch die Handkarren der Gemüsehändler gedrängt, durch zudringliche Orangenverkäuferinnen verfolgt, über spielende, zerlumpte Kinder stolpernd, von vorbeirudernden kräftigen Armen blau geschlagen, durch einen in die enge Straße einbiegenden Bierwagen in einen stinkenden Kerzenladen genöthigt, sucht man vergeblich diese Gelegenheit zu benutzen, um von dem Kerzenverkäufer einige Auskunft zu erlangen. Der Mann der Aufklärung schnauzt Einen kurz und grob an, weil er heute schon zum zweiundvierzigsten Male um den Printing House Square befragt worden ist. In diesem Stadttheile ist keine höfliche Antwort mehr zu erzielen, der lammfrömmste und geduldigste Auskunftertheiler ist durch die immer und immer wiederkehrende eine Frage nach dem „Times-Office“ bereits in einen Tiger verwandelt worden.

Ich kann meinem geneigten Leser nur rathen, wenn er jemals in die Lage kommen sollte, gleich mir, den Printing House Square aufzusuchen, so viel wie möglich immer südwärts einzubiegen, und mit gehöriger Ausdauer, mit ungebrochenem Muthe wird er endlich vielleicht das „Times Office“ erreichen. Es ist in der That wunderbar, daß dieses Riesenunternehmen, dieser Leviathan der Journalistik in solch ein winkeliges, enges, schmutziges Labyrinth von Gassen eingepfercht ist, ja man begreift kaum, wie dieser großartige Organismus dort athmen, wie diese kolossale Maschine dort arbeiten kann. Wenn man nun vollends alle die wunderbaren Mythen gehört hat, mit welchen die Werkstätte der Times umgeben ist, wenn man die Fabel vernommen hat von jener geheimnißvollen Compagnieschaft, die da gebildet sein soll durch den Kaiser Alexander, den Cardinal Wiseman, den Baron Rothschild, den Fürsten Mentschikoff, den Doctor Cumming, die Gebrüder Baring, den Lord Palmerston, den Herrn Disraeli, den Herrn W. J. Fox und die Miß Martineau, wenn man die Sage gehört hat von den Erzbischöfen, welche da Leitartikel schreiben für die Times und täglich nach 9 Uhr Abends in ihren sechsspännigen Equipagen angefahren kommen, um die Correcturen ihrer Artikel zu revidiren, und die Geschichte von dem Editor und von den Subeditoren in ihren verschiedenen Wagen, und von dem City-Correspondenten in seiner breiten gelben Chaise bis herab zu den bescheidenen Broughams der Schriftsetzer, wenn man alle diese Wunder der „Tausend und einen Nacht“ vernommen hat: wie muß man da erst staunen, daß alle diese Wagen sich in diesem Winkelwerk von Gassen ausweichen können und daß die sechsspännigen Equipagen der Bischöfe umwenden können, um ihren Rückweg aus diesem cretischen Labyrinthe zu finden! Doch allen Ernstes: der Weg, auf welchem die Tagespolitik der Times gebildet wird, ist eben so geheimnißvoll und winkelig, als die Lage von Printing House Square. So viel ich auch darnach geforscht, so competente Leute ich auch darnach befragt habe, konnte ich doch nie genügende Auskunft darüber erlangen, welches Räderwerk den Hauptredacteur (Manager), den Herrn Mowbray Morris, in Bewegung setzt und ihm seine Richtung vorschreibt. Wie oft diese Richtung gewechselt wird, das wissen wir Alle, aber welche Interessen diese neue Richtung jederzeit so rasch bestimmen, und in welcher Weise diese Interessen jedesmal unter einen Hut gebracht werden, ob durch ein Comité, ob durch Abstimmung, ob durch ein Triumvirat, ob durch einen bevollmächtigten Dictator, dies konnte mir bisher Niemand mit einiger Bestimmtheit sagen. Die Times ist gleichsam die Polizeipräfectur der öffentlichen Presse, sie hat ihre eigene glatte, geheime, gewandte, dreh- und wendbare, unverantwortliche und überaus mächtige Politik; hinter einem einzelnen ihrer Leitartikel steckt manchmal ein Agglomerat von geheimen Ereignissen, Uebereinkünften, Vorhersagungen und officiellen oder halbofficiellen Einflüsterungen, ja, wie man behauptet, nicht selten der gebietende Einfluß einer mächtigen Summe. „Wird die Zeit jemals kommen,“ sagt George Sala, „wo man seinen Artikel in der Zeitung mit seinem Namen unterzeichnen, wo man vom Publicum seinen Lohn für Ehrlichkeit, seinen Tadel für Zweideutigkeit persönlich in Empfang nehmen wird? Wird sie überhaupt jemals kommen, diese Zeit der Umwälzung, wo jenes mystische „Wir“ sich in das verantwortliche, steuerbezahlende, fühlbare, greifbare, durchprügelbare „Ich“ verwandeln wird?“

Doch überlassen wir diese große Umwandlung einer kommenden Zeit und begnügen wir uns für jetzt damit, die interessante Werkstätte des mächtigsten Zeitungsblattes der Welt in ihrer Thätigkeit zu belauschen.

Der Printing House Square mit Play House Yard[1], das Hauptquartier der Times, ist fast zu allen Stunden des Tages und der Nacht interessant für den denkenden Beobachter, denn der Mechanismus dieses Riesen-Unternehmens ruht fast nie. Die stillste Zeit ist wohl jene kurze Nachmittagsstunde, da die Schriftsetzer fortgegangen und die Subeditoren noch nicht gekommen sind, wenn das letzte Exemplar der ersten Ausgabe der Tagesnummer gedruckt ist und die mächtige Dampfmaschine für kurze Zeit zu keuchen aufgehört hat. Da bemerkt man etwas wie Ruhe. Die Times verdaut, sie hält ihre kurze Siesta.

Mit den Gaslampen, die Nachmittags angezündet werden, hat auch neues Leben, neue Thätigkeit wieder begonnen. Der Editor und die Subeditoren sind schon in voller Arbeit, die geheimnißvollen Leitartikel kommen nach und nach an. Woher sie kommen? ich weiß es nicht, aber sie kommen, und viele Wagen, Cabriolete und Broughams füllen die engen Gassen, und das große Dampfungeheuer schnaubt und keucht wieder mächtig und wird mit unzähligen Papierstreifen gefüttert und ist unersättlich, und die Schriftsetzer können ihre Hände nicht rasch genug rühren, und die Factoren springen von den Subeditoren zu den Schriftsetzern und von diesen zu den Subeditoren, und die Fenster des Times Office erglänzen alle im hellsten Gaslichte.

Am beklagenswerthesten erscheinen mir diejenigen Herren, deren Aufgabe es ist, die zahllosen Correspondenzen zu lesen, welche täglich unter der Adresse: „To the Editor of the Times“ eingehen, und aus der Unmasse derselben die wenigen herauszusuchen, die einer Berücksichtigung werth sind. Durch welchen Schwall von introductorischen Artigkeits-Gemeinplätzen müssen sich diese Unglücklichen nicht durchlesen! Wie müssen sie nicht den Kopf voll haben von diesen Exordien, wie: „Ihr weitverbreitetes Journal“ oder: „Ihre bekannte Unparteilichkeit“ oder: „Ihr allgemein geachtetes Blatt“ oder: „Ihre vielgelesenen Spalten“ etc. etc.! Wie ermüdend muß es für sie nicht sein, die Fluth der eingesandten Beschwerden zu durchwaten, von der Klage über einen zu spät abgegebenen Brief bis zur schlechten Verwaltung Indiens, von den gewissenlos theuren Butterbemmen auf einer Eisenbahnstation bis zu der offenbaren Ungerechtigkeit der Einkommensteuer! Wer sind sie eigentlich, alle diese pseudonymen Correspondenten der Times? Ich würde doch neugierig sein, sie zu sehen, die Herren, wie den „Verax“, oder: „Paterfamilias“, oder: „Ein Mann in den Straßen“, oder: „Indophilus“, oder: „Eine durstige Seele“, oder: „Habitans in Sicco“!

Doch es ist schon sehr spät! Die Times ist nun schon im Besitze ihrer kostbarsten Geheimnisse. Staatsgeheimnisse, literarische Geheimnisse, artistische und dramatische Geheimnisse, die Geheimnisse von allen Feuersbrünsten, Räubereien, Veruntreuungen, Diebstählen, Verführungen, Ehebrüchen, Mordthaten und Gelegenheitsgedichten. Alle diese Geheimnisse behält sie jetzt noch für sich, und Niemandem sind sie zugänglich, als den Auserwählten, den Schriftsetzern und den Druckern. Aber diese Undankbaren kümmern sich wenig um den Coup d’état, der gestern in Paris stattgefunden hat, oder um das türkische Ministerium, das abdanken mußte, oder um die dreißig Köpfe, welche die Montenegriner von ihren respectiven Rümpfen getrennt haben.

Es wird später und später. Der letzte Papierstreifen von dem Berichterstatter des „Hauses der Gemeinen“ ist so eben eingelaufen, der letzte Bericht eines Pfennigzeilenschreibers (Penny-a-liner)[2], die eben in Holborn ausgebrochene Feuersbrunst betreffend, ist in den Briefkasten geworfen worden, die letzte telegraphische Depesche ist schon im Setzkasten, die auserwählten Mitarbeiter der Times, die für morgen ein schauderhaftes Gewitter über das Haupt der Minister heraufbeschworen haben, schlummern bereits sanft auf ihrem weichen Pfühl, als hätten sie nichts gethan, – und nur ein verspäteter Theaterberichterstatter schlüpft noch um die dunkle Straßenecke, um seinen Artikel über das neue Drama im Adelphi- oder Hay-Market-Theater, den er bei einem Glase Brandy and Water in seinem literarischen Club gähnend auf einen Papierstreifen gehudelt hat, noch im letzten Augenblicke in den Briefkasten zu werfen.

Die Times ist nun vollgepfropft und gesättigt wie ein Mann, der gut gegessen hat. Nichts fehlt, die City-Correspondenz, die Marktberichte,

  1. Der Name Play House Yard (Theaterplatz) rührt von dem Umstände her, daß an diesem Platze einst das Globe-Theater stand.
  2. Der Penny-a-liner ist ein Berichterstatter niedrigsten Ranges, er schreibt nur ganz kurz über Unglücksfälle, öffentliche Scandale, Polizeiverhandlungen etc. und bekömmt einen Penny für die Zeile.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_563.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)