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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

die Lanne? – wenn wir dorthin kamen, fand sich auch vielleicht ein Ausweg sie zu umgehen, und der Versuch sollte jedenfalls gemacht werden.

Franzel – überhaupt sehr wortkarg, aber ein vortrefflicher Jäger, war mit Allem einverstanden, sah nach der Sonne und nach seiner Uhr, schob sein pappenes Teleskop zusammen, beendete sein Frühstück, stand dann langsam auf, schulterte die Gemse und sagte: „Wollen wir?“ – Ich war ohne Zögern an seiner Seite, und so rasch es der rauhe Boden erlaubte, stiegen wir den Hang hinab, zu Thal.

Franzel hatte die Entfernung keineswegs überschätzt. Erst ging es tief hinab, dann wieder eine Strecke in die Höh, dann wieder nieder, und so abwechselnd, bis wir endlich einen Streifen Wald erreichten, von dem aus wir die Kaltwasserkar, oder wenigstens deren Reißen, vollkommen gut überschauen konnten. – Das Rudel stand auch noch ruhig da – einige Stück hatten sich niedergethan, die Kitzen spielten mit einander, und ein Paar alte Geisen äßten sich an der süßen Gemskresse, die auf solchen Reißen in Masse wächst. Es war lauter Mutterwild und junges Zeug, wegen dessen es der Mühe nicht gelohnt hätte, den weiten Weg zu machen. Von den vermutheten alten Böcken in den Büschen war aber hier unten nichts mehr zu sehen, denn breite Lagen Geröll hatten sich, die Aussicht verdeckend, vorgeschoben, während trotzdem irgend ein alter Bock recht leicht hinter den Büschen am Rand derselben stehen konnte. Die größte Vorsicht blieb deshalb noch immer nöthig.

Von den Bäumen gedeckt, konnten wir allerdings noch ein Stück vorwärts rücken, dann aber lag, wie Franzel ganz recht behauptet hatte, eine breite, vollkommen baum- und strauchlose glatte Lanne zwischen uns und den Laatschen des nächsten Hanges, und das Rudel auf den Reißen mußte uns sehen, wenn wir dieselbe überschritten. Von jenem Rudel waren wir allerdings noch 1500 bis 2000 Schritt entfernt, aber was ist das in jener reinen Luft, die alle Gegenstände fast vor die Augen rückt, und wie scharf äugt eine Gemse! Hier blieb aber wirklich kein Ausweg, wir mußten über diese Lanne, wenn wir nicht einen Umweg von wenigstens zwei Stunden machen wollten, und dann wäre die Jagd für diesen Abend unmöglich geworden – also wie geschah das am Besten?

Mein Vorschlag war, ganz langsam und ohne rasche auffällige Bewegung Einer dicht hinter dem Anderen in die vor uns liegende, grasbewachsene Schlucht hinabzusteigen. Der Weg war vollkommen gefahrlos, und vielleicht ließen uns die Gemsen unbemerkt, wenigstens unbeachtet, den Schutz der nächsten Büsche erreichen. Franzel wußte nichts Besseres, und ohne weiter ein Wort zu sagen, schulterte er die erlegte Gemse wieder und schritt voran, ich dicht an seinem Rücken hinterdrein. Keiner sprach natürlich ein Wort, und nur ängstlich horchten wir, ob wir nicht bei jedem nächsten Schritt das fatale und verrätherische Pfeifen einer der aufmerksam gewordenen Gemsen hören würden – aber nichts regte sich. Schritt nach Schritt stiegen wir die steile Bahn hinab, den Blick auf den Boden geheftet, als ob wir schon damit die scheuen Thiere ruhig halten könnten, und endlich – endlich hatten wir den ersten Laatschenbusch erreicht, hinter dem wir uns Beide schweigend niederkauerten.

Es ist nämlich eine oft beobachtete Thatsache, daß eine Gemse den anpirschenden Jäger bemerkt, ohne den geringsten Warnungsruf hören zu lassen, so lange sie ihn mit ihren Blicken verfolgen, also auch beurtheilen kann, in wie weit ihr die Gefahr näher rückt. Sie läßt ihn dann allerdings nicht mehr aus den Augen und steht zur Flucht bereit, aber sie pfeift auch nicht, bis er sich irgendwo versteckt, oder durch Fels oder Busch ihren Blicken entzogen wird. Dann erst läßt sie den scharfen, nur zu wohl bekannten Pfiff ertönen und flieht – bleibt nach einer Weile wieder stehen und äugt umher, und sieht sie den Feind dann noch nicht, so pfeift sie wieder und flieht die Gegend, so rasch sie kann.

Durch unser Verstecken nun machten wir die Probe, ob wir von dem scheuen Wild bemerkt oder beachtet wären, und als wir etwa zehn Minuten dort still und regungslos gelegen und gerastet hatten, flüsterte Franzel: „Sie haben nichts gemerkt – jetzt kommen wir an.“

Vorsichtig legte er nun seinen Bergsack mit der schweren Gemse ab, diese auf dem Rückwege mit zu nehmen, packte sie aber vorher aus und hing sich den leeren Bergsack auf den Rücken.

„Wozu?“ flüsterte ich leise.

„Den Bock hinein zu thun“, lachte Franzel – „haben ihn schon.“

Diese Zuversicht theilte ich nun allerdings nicht, dennoch hatten wir das bis jetzt schwierigste Hinderniß beseitigt, und mit gutem Wind war in der That die Möglichkeit, daß ich an einen oder den anderen Bock anpirschen konnte. Aber wo standen die Gemsen jetzt, die wir drüben von dem Hang aus auf dem „kleinen Grasflecken“ erkennen konnten? Diese „kleinen Grasflecken“ selber hatten, wie mir jetzt schien, eine ungeahnte Ausdehnung gewonnen, und wo die einzelnen Gemsen darin suchen, ohne einer oder der anderen zu früh in den Wind zu kommen? Für jetzt blieb freilich nichts übrig, als die Deckung der Laatschenbüsche, so weit das anging, zu benutzen; als wir diese aber endlich verlassen mußten und einen breiten, offenen Streifen Geröll erreichten, waren wir durch eine früher gar nicht bemerkte, abhängende Wand gedeckt, so daß uns jetzt keine obenstehenden Gemsen mehr sehen konnten, bis wir wenigstens den oberen Hang erreichten.

Ueber das Steingeröll mußten wir trotzdem sehr vorsichtig schreiten, denn die Steine klapperten unter den eisenbeschlagenen Schuhen. Den Bergstock umgedreht, daß die Eisenspitze das Geröll nicht berührte, schritten wir langsam aufwärts und erreichten endlich, nach einer guten halben Stunde etwa, die ersten Erlenbüsche, zwischen denen wir das Wild wußten.

Der Nachmittag war indessen viel weiter vorgerückt, als wir bisher vermuthet hatten. Die Sonne konnten wir schon lange nicht mehr sehen, und Franzel meinte, wir würden nicht viel Zeit übrig haben, bis wir „aufi“ kämen. Schritt für Schritt konnten wir auch von hier aus nur vorwärts rücken, denn jeder Fußbreit brachte uns höher, und der Wind schlug ab; umgehen durften wir also keine Gemse, wenn wir nicht die ganze Jagd verderben wollten, und vorsichtig nach allen Seiten umheräugend, pirschten wir uns langsam aufwärts.

So sorgfältig nun Franzel dabei vermied, je laut aufzutreten, so machen auf der Pirsche Zwei doch immer mehr Geräusch als Einer, und ich winkte ihm nach einer Weile, da, wo er stand, zurückzubleiben, während ich das Terrain allein absuchen wollte. Ohne ein Wort zu erwidern, nickte er nur leise mit dem Kopf, drückte sich dann unter den nächsten Busch, und rührte und regte sich nicht mehr.

In der peinlichsten und doch wieder für den Jäger wonnigsten Spannung schritt ich indessen weiter. Meinen Bergstock, den ich hier nicht mehr brauchte, hatte ich bei Franzel zurückgelassen, und die gespannte Doppelbüchse – einen Baader’schen Bock – in der Hand, kroch ich mehr, als ich ging, die nächste Anhöhe hinan, hinter der ich jedenfalls irgend eine der von drüben gesehenen Gemsen vermuthen mußte.

Jetzt hatte ich sie erreicht und hob vorsichtig den Kopf – nichts zu sehen. Todtenstill lag der ganze Platz; kein Laut war zu hören, kein Blatt fast. Wo in aller Welt waren die Gemsen geblieben? Sollte ich jetzt links oder rechts abgehen? – Ich that erst das Eine, dann das Andere, aber nach keiner Richtung konnte ich das ersehnte Wild erspähen, und der Boden war dabei so wellenförmig gehoben, daß man von einer der kleinen Anschwellungen aus nur immer eine äußerst kurze Strecke überschauen konnte. Hatten uns die schlauen Thiere doch am Ende gewittert und das Weite gesucht? Auf dem lockeren Geröll der Reißen hätten wir aber ihre Flucht hören müssen. Jedenfalls standen oder saßen sie noch wie früher hier im Busch zerstreut, und ich durfte mich darauf gefaßt machen, in der nächsten Minute vielleicht schon das verhängnißvolle Pfeifen zu hören.

Eine Möglichkeit blieb noch: es konnte ein zweites Rudel gewesen sein, das, hier nur auf dem Grasboden zerstreut umheräßend, sich indessen wieder gesammelt hatte und mit hinaus auf die Reißen gezogen war. Das mußte ich vor allen Dingen untersuchen, und pirschte mich nun rasch nach oben. Der Abend dämmerte stark, und ich hatte keine Viertelstunde Zeit mehr zu versäumen.

Der obere Rand war indessen gar nicht so leicht erreicht, wie ich es vermuthete, wenigstens an der Stelle, an der ich gerade hinauf wollte, denn eine kleine steile Felswand lag dazwischen – aber es ging doch. Oben dehnte sich ein flacher, mit dichten Alpenrosenbüschen bewachsener Hügelkamm aus, und von diesem ab mußte ich die ganzen glänzend weißen Reißen übersehen können. – Richtig, wie ich den Kopf langsam und vorsichtig über die Büsche der Alpenrosen emporhob, lag die ganze, schräg auflaufende Fläche der Reißen vor mir, und dort, etwa vierhundert Schritte entfernt, stand noch das nämliche Rudel, das wir von drüben aus gesehen – fünfzehn Stück – keines mehr und keines weniger, und weiter war nicht eine einzige Gemse auf der weiten, hellglänzenden Fläche zu

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