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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

wohl anders arbeiten müssen, nicht für das Fest, aber für das tägliche Brod. Nicht Allen ist das Fest ein Fest. Wie Mancher auch mochte bis über die Mitternacht hinaus blos gejubelt und geschwärmt haben, ohne an Arbeit oder Arbeitende, an Noth und Elend zu denken!

Kein Mensch in den Straßen, aber alle Häuser wieder in ihrem vollen festlichen Schmucke, wie im vorigen Jahre beim Sängerfeste, Laub-und Blumengewinde sich von Haus zu Haus ziehend. Ueberall das weiße, eidgenössische Kreuz in rothem Felde, Teppiche fast in jedem Fenster, Fahnen und Flaggen aus jedem der alten Giebelfenster, aus jedem Erker, aus jedem Stockwerk in die Straße hinausflatternd, bald klein und bescheiden, wenn der kleine Bürgersmann sie ausgesteckt hatte, bald riesig groß, wenn sie an dem Hause des reichen Patriziers prangten. Und alle in den hellen Farben des Vaterlandes, roth und weiß, die Farben der Eidgenossenschaft, oder blau und weiß, die Farben Zürichs. Mitunter auch ernsteres schwarz und weiß, Berns, oder weiß und schwarz, des alten Appenzells Farbe.

So waren sie alle geschmückt, frisch und bunt und hell, die alten, engen, krummen Straßen Zürichs. Man konnte manchmal unter all dem Schmuck wieder den Himmel nicht sehen, und die Sonne nicht, in der Alles glänzte. Das Herz wurde Einem wieder enge.

Jene Schweizerfrau war diesmal nicht an meiner Seite; aber die deutsche Frau, die seit so manchem Jahre die Heimath nicht mehr hat sehen können, war wieder meine treue Gefährtin, wie immer. Und heute weinte sie nicht.

„Wir werden die Heimath wieder sehen!“ sagte sie, freudig, gewiß.

An die Heimath, die theure, hatte sie gedacht.

Wir traten aus den engen Straßen der Stadt heraus, und kamen an den freien, breiten Quai. Ueberall derselbe Schmuck der Häuser, aber im klarsten Sonnenlichte und in den grünen Wellen der Limmat und den blauen Fluthen des Sees sich wiederspiegelnd. Eine riesige, blauweiße Fahne hing von dem Kaiserthurme des Großmünsters herunter.

Sie kennen, lieber Keil, die beiden, einander gleichen Thürme des Großmünsters. An dem südlichen, in seiner Mitte, aber doch schon in einer Höhe, die das Größte klein erscheinen läßt, befindet sich das Bild Kaisers Karl des Großen. Davon heißt er der Kaiserthurm. Der große Kaiser sitzt dort, aus Stein gehauen, auf seinem Thronsessel, die goldene Krone auf dem ernsten, bärtigen Haupte, das blanke Schwert mit großem goldenen Knopfe vor sich auf den Knieen. Bis fast auf den alten Kaiser herunter hing die ungeheuere Fahne. Nicht schwarz-roth-golden. Eine schwarz-roth-goldene Fahne sah der alte Kaiser nicht, wie weit er auch auf seiner Höhe über Stadt und Land, auf Berg und Thal, auf Strom und See hinausschauen konnte. Er sah sie auch nachher nicht, als ein langer Festzug mit fast unzähligen Fahnen in allen Farben tief unten an ihm vorbeischritt. Auch die Bremer hatten keine deutsche Fahne mitgebracht, doch hing eine schwarz-roth-goldene Kordel an ihrer Fahne herunter. Und auch aus zwei deutschen Flüchtlingswohnungen wehete die deutsche Fahne; der deutsche Kaiser konnte sie nur nicht sehen. Er sah heute griesgrämig aus, der große alte Kaiser.

Vor vier Jahren – gerade vor vier Jahren – sah ich ihn eine Zeit lang oft lächeln, wehmüthig, aber doch freundlich. Er saß steif und gerade da, wie immer, die goldene Reichskrone auf dem Haupte, das tapfere Schwert auf den Knieen. Zwischen seinen Füßen hatte sich damals ein Taubenpaar sein Nest gebaut, und in dem Neste waren Junge, und wenn die beiden Alten ausflogen, um Futter für die Brut zu holen, dann behütete derweil der große deutsche Kaiser mit seinem großen Schlachtenschwerte die jungen Tauben zwischen seinen Füßen. Ich habe manchen Tag und manche Stunde das Bild betrachten müssen.

Vor tausend Jahren behütete er das deutsche Reich, jetzt ein Taubennest. Nach vier Wochen war auch das Taubennest verschwunden, wie lange vorher das deutsche Reich, und der deutsche Kaiser hatte gar nichts mehr zu thun. Ich habe ihn seitdem nicht wieder lächeln sehen, weder freundlich noch wehmüthig. Er blickt ja nach Süden hin, und nur hinter ihm, im Norden und im Osten, liegt sein ehemaliges deutsches Reich und auf seinem steinernen Throne, und selbst von Stein, kann er sich nicht umdrehen.

Wohl ihm! Er kann ja auch nicht hin. Ha, könnte er, wie würde er mit gar Manchem bald ein Ende machen! Wie würde das blanke Schwert nicht mehr auf seinen Knieen ruhen, wohl aber einem großen tapferen Volke vorglänzen im Kampfe mit dem französischen Civilisationskaiser, der ihn, Gott erbarme es, ihn, den großen deutschen Kaiser, seinen Vorfahren nennen darf! Aber er sitzt fest auf seinem steinernen Throne am Kaiserthurme des Domes zu Zürich in der Schweiz. –

Von den Thürmen schlug es sechs Uhr. Die Stadt belebte sich. Vom Lindenhofe verkündeten zweiundzwanzig Kanonenschüsse den Beginn des Festes. Von der Terrasse des Großmünsters ertönte ein feierlicher Choral, festlich gekleidete Menschen durchzogen die Straßen, bunte Gondeln mit hellen rothen oder blauen Zeltdecken fuhren auf dem See hin und her, und zwischen ihnen brausten Dampfboote heran. Sie brachten Gäste, Schützenvereine von beiden Ufern des Sees, Zuschauer. Die Schützen zogen mit Musik und Fahnen vom Landungsplatze in die Stadt ein. Andere Schützenvereine, gleichfalls Musik und Fahnen voran, kamen aus der Nachbarschaft von anderen Seiten herbei. Die Straßen füllten sich immer mehr mit Zuschauern.

Es wurde neun Uhr, die Zeit für Versammeln und Ordnen des großen Zuges, der von der Stadt aus zu der Feststätte sich begeben sollte. Der Lindenhof war der Ort der Versammlung. Er liegt mitten in der Stadt, hoch, unmittelbar am linken Ufer der Limmat. Er ist der älteste Platz der Stadt, und war schon vor tausend Jahren der Gerichtsplatz. Manche für Zürich bedeutende geschichtliche Erinnerung knüpft aus jener wie aus späterer Zeit sich an ihn. Der alte steinerne Gerichtstisch befindet sich noch auf seiner Mitte, und rund um ihn her stehen die uralten Linden.

Aber die Linde und der Vehmetisch an der Mauer zu Dortmund in Westphalen sind doch noch älter.

Um halb zehn Uhr begannen die Züge zum Lindenhofe. Von allen Seiten, aus allen Straßen strömten sie herbei; überall rauschende Musik, flatternde Fahnen, blankgeputzte Stutzen, Vereins- und Comitémitglieder mit bunten Schärpen und Bändern.

Um zehn Uhr rückte der geordnete Zug vom Lindenhofe aus. Voran ein Peloton Scharfschützen, dann ein Zug von fast hundert Mann in weißen Beinkleidern und hellrothen Blousen und Mützen. Es waren die „Zeiger in (eidgenössischer) Amtstracht.“ Dann die Festmusik; dann ein Zug Feldschützen. Darauf die eidgenössische Schützenfahne, zu ihren beiden Seiten die Cantonal-Schützenfahnen von Bern und Zürich. Ihnen folgte die Schützenfahne der Stadt Zürich; hinter dieser kamen die Fahnen der anwesenden auswärtigen Schützen-Vereine. Jeder Verein war bei seiner Fahne. Voran gingen die Bremer, geführt von ihrer weiß und gelben Fahne mit dem Schlüssel darin. Sie waren, wenn sie auch mit ihren blonden deutschen Gesichtern nicht der schwarz-roth-goldnen deutschen Fahne folgten, doch wieder so schmuck und schön und kräftig und gewandt in ihren grünen Blousen, den grauen, mit grüner Feder gezierten Schützenhut auf dem Kopfe, den sicher zielenden Stutzen im Arm. Wie viele Hunderttausende solcher Männer zählt das deutsche Volk, und doch sollte ein französischer, nein, ein corsischer Thronräuber ihm Gesetze vorschreiben?

Den Schützen folgten die Festcomité’s, Abordnungen der Cantonal- und Stadtbehörden, Feldschützen, Musik; zuletzt in hellblauen Blousen die „Warner“. Ein Peloton Scharfschützen schloß das Ganze. Sie zogen durch die halbe Stadt überall zwischen dichten Reihen von Zuschauern, in jeder Straße, in jedem Fenster. Selbst auf den breiten Quais standen die Leute so gedrängt, daß der Zug manchmal nur eine enge Gasse zum Durchkommen behielt.

Sie zogen aus der Stadt zum „Seefelde“. Dort, nicht weit vom Seeufer, etwa zehn Minuten von der eigentlichen Stadt entfernt, ist die Festhütte aufgebaut, und zu deren Ende befinden sich die Schießstände. Die Festhütte beschreibe ich Ihnen nachher.

Gerade vor ihr liegt frei ein zierliches, tempelartiges Gebäude mit hellen, breiten Fenstern auf allen Seiten. Es ist der „Gabentempel“. Durch die hellen Fenster sieht man die darin ausgestellten „Gaben“, Preise für die besten Schützen. Bis heute sind für 104,407 Franken Gaben darin. Alle Welttheile haben dazu beigesteuert. Wo in einem Erdwinkel nur drei oder vier Schweizer beisammen sind, haben sie mit einer Ehrengabe des nationalen und patriotischen Festes gedacht.

Und die Deutschen im Auslande?

Aber wir haben ja auch keine nationale, patriotische Feste.

Aber warum haben wir sie nicht?

An dem Gabentempel machte der Zug Halt. Die Berner mußten jetzt die eidgenössische Fahne aus ihren „Bärentatzen“ lassen; sie mußten sie den Zürichern übergeben. Der Präsident des Berner Schützenvereins

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_459.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2023)