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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Dazu muß ich mich erst taufen, Sie vergessen, daß wir Juden nicht einmal Privatdocenten werden, nicht einmal verhungern dürfen.“

Es lag eine so tiefe und schmerzliche Ironie in seinen Worten, daß Henriette betroffen schwieg und das Gespräch fallen ließ. Nichtsdestoweniger bekümmerte sie der Gedanke, daß ein so herrliches Talent durch eigene Schuld zu Grunde gehen sollte. Was ihr nicht geglückt, hoffte sie durch die Ueberredungskraft ihres Freundes Schleiermacher zu bewirken. Sie bat denselben, mit Louis ernsthaft zu sprechen und ihm seine bisherigen Abwege zwar schonend, aber eindringlich vorzustellen. Schleiermacher wies jedoch diesmal ihre Bitten mit sonst nicht gewohnter Strenge zurück. Dem thätigen, unermüdlich fleißigen Manne mußte diese träumerische Trägheit des jungen Baruch um so mehr zuwider sein, da er zugleich an ihm eine gewisse selbstgefällige Arroganz bemerkt zu haben glaubte.

„Wie soll man,“[1] sagte er ablehnend, „mehr Interesse an einem Menschen nehmen, als er selbst an sich nimmt? Er fängt gar nichts mit sich an, vertändelt seine Zeit, versäumt seine Studien, ruinirt sich mit Faulheit und sieht dies selbst mit der größten Gelassenheit an, und sagt immer: es wäre ihm nun einmal so, und wenn er sich zu etwas Anderem zwingen wollte, so wäre es ja dann doch nicht besser.“

„Sie urtheilen zu streng,“ antwortete Henriette begütigend. „Ich halte es für unsere Pflicht, den Irrenden auf den richtigen Weg zu führen. Wir müßten uns den größten Vorwurf machen, wenn er unterginge.“

„Ich weiß nicht, ob er untergehen wird; Mancher rettet sich aus diesem Zustande, aber in diesem Zustande ist nicht auf ihn zu wirken und kein Theil an ihm zu nehmen. – Schade ist es um ihn,“ setzte Schleiermacher milder hinzu, „wenn er in dem Gange bleibt, aber helfen kann ihm Niemand, wenn er sich nicht selbst hilft.“

Hätte Henriette oder ihr Freund nur die entfernteste Ahnung von dem eigentlichen Grunde dieser scheinbaren Trägheit des Jünglings gehabt, so würden sie gewiß auch das rechte Mittel gefunden haben; aber wie sollten sie bei dem siebzehnjährigen Baruch eine so glühende Leidenschaft für eine Frau voraussetzen, die mindestens seine Mutter sein konnte! Und doch liebte Louis seine reizende Wirthin mit der ganzen Gluth eines so jungen und empfänglichen Herzens. Alles Uebrige war ihm gleichgültig, wo nicht widerwärtig; er hatte nur Sinn für diese verzehrende Neigung, die um so heftiger wurde, je hoffnungsloser sie ihm selbst erscheinen mußte. Es ist aber eine bekannte Erfahrung, daß gerade auf die jüngsten Männer ältere und gereiftere Frauen eine unwiderstehliche Anziehungskraft auszuüben pflegen. Dazu kam noch die sentimentale Stimmung jener Zeit und die für die Gegenwart fast unbegreifliche Wirkung, welche Goethe mit seinem „Werther“ hervorgebracht; es gab damals eben so viel unglücklich Liebende, die über Selbstmord brüteten, wie jetzt „Unbefriedigte“ und „Zerrissene“.

Auch Louis Baruch wurde von der allgemeinen Krankheit jener Periode nicht verschont; er war schwermüthig und mit der Welt zerfallen, wie Werther, und sehnte sich nach dem Tode, welcher der Jugend so leicht und dem Alter so schwer erscheint. Seine Lage wurde mit jedem Tage drückender und unerträglicher für ihn. Zu jeder Stunde lebte er in der Nähe der geliebten Frau, die ihn mit immer sich gleichbleibender Freundlichkeit behandelte, und dennoch mußte er seine Leidenschaft sorgfältig verbergen, aus Furcht, sich lächerlich zu machen und durch ein vorschnelles Geständniß für immer ihres ihm unentbehrlichen Anblickes beraubt zu werden. Die glühendste Eifersucht bemächtigte sich seines Herzens, wenn er sie umschwärmt von jenen Männern sah, mit denen er sich in keiner Beziehung zu vergleichen wagte. War auch Henriettens Lebenswandel über jeden Verdacht erhaben, so konnte sie sich doch von Huldigungen nicht entziehen, die ihr von allen Seiten dargebracht wurden. Aber wie durfte er hoffen, neben dem geistreichen Wilhelm Humboldt, dem herrlichen Karl Laroche nur beachtet zu werden? Der bloße Gedanke jedoch, daß diese glücklicher sein könnten, brachte ihn zur Verzweiflung. Er hatte keinen Vertrauten seiner Leiden, als sein sorgfältig geführtes Tagebuch, das ebenfalls im Geiste jener Zeit der einzige Zeuge dieser wahnsinnigen Liebe war.

Ein neuer Unfall drohte ihm selbst die letzte Hoffnung zu rauben. Henriettens Mann, der Doctor Herz, begann zu kränkeln. Sein Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag, bis er endlich seinen Leiden erlag. Seine Frau betrauerte aufrichtig den Verlust des edlen Gatten, dessen vollen Werth sie vollkommen zu würdigen wußte. Die noch immer reizende Wittwe hatte Rücksichten zu nehmen, und der junge Baruch befürchtete nicht ohne Grund, daß er nicht länger in ihrem Hause verweilen dürfte; aber er bat so dringend und zeigte ihr eine so treue Anhänglichkeit, daß sie gegen den Rath der Vorsicht in sein ferneres Bleiben willigte. Abgesehen von diesen Gründen mochte es ihr unter den keineswegs günstigen Umstanden, in denen Herz sie zurückgelassen, wünschenswert erscheinen, den wohlhabenden Pensionär zu behalten, da sie aus Pietät ihre Mutter und eine jüngere Schwester, Namens Brenna, noch zu sich genommen hatte, für die sie jetzt ebenfalls zu sorgen hatte. – Nach wie vor blieben ihr die Freunde treu; nur Schleiermacher lebte jetzt von ihr getrennt, da er einem Rufe als Prediger und Lehrer an der Universität zu Halle gefolgt war.

Der liebenswürdigen Wittwe fehlte es nicht an eben so ehrenvollen als vortheilhaften Anträgen von Seiten hochgestellter Männer, aber vorläufig wies sie dieselben zurück, indem sie entschlossen schien, keine zweite Ehe einzugehen. Unter den eifrigsten Bewerbern um ihre Hand befand sich auch der edle Graf Alexander von Dohna-Schlobitten. Weder sein hoher Rang, noch das Vorurtheil, da Henriette aus Rücksicht auf ihre strenggläubige Mutter noch immer Jüdin war und sich nicht taufen lassen wollte, hielten ihn zurück, ihr sein Herz und sein bedeutendes Vermögen anzubieten. Er ließ sich von ihrer wiederholten Weigerung nicht zurückschrecken und setzte mit unermüdlichem Eifer seine Bemühungen fort, in der Hoffnung, endlich durch seine Standhaftigkeit ihre Gegenliebe zu gewinnen. Dem armen Louis waren die Besuche des vornehmen Grafen nicht entgangen, und er zweifelte kaum an dem Erfolge. Sie in den Armen eines andern Mannes zu wissen, das überstieg seine Kraft. Seine Leiden hatten den höchsten Grad erreicht; das Leben war ihn, zur Last geworden, und nur im Tode hoffte er die Erlösung von seinen Qualen zu finden. Er wollte sterben wie Werther.

Zu diesem Zwecke suchte er sich Gift zu verschaffen; unter dem Vorwande, die Ratten und Mäuse in seinem Zimmer vertreiben zu wollen, ließ er sich aus der benachbarten Apotheke durch Henriettens Mädchen, eine Quantität Arsenik ausbitten. Zugleich überschickte er zehn Louisd’or, um eine frühere Rechnung für entnommene Arzneien zu bezahlen, obgleich dieselbe weit weniger betrug. Diese verdächtigen Umstände mußten dem klugen Mädchen um so mehr auffallen, da das verstörte Wesen des jungen Baruch ihr dabei nicht entgangen war. Sie hielt es daher für ihre Pflicht, zunächst Fräulein Brenna aufmerksam zu machen, die sogleich zu ihrer Schwester eilte, um sie von dem unerklärlichen Vorfall zu unterrichten. Henriette erschrak nicht wenig; vorläufig aber beobachtete sie ein tiefes Schweigen, indem sie sich vornahm, Louis genauer zu beobachten und nach dem Grunde dieses Selbstmordversuchs zu forschen. Einen Augenblick durchzuckte sie wohl der Gedanke, daß sie die Ursache sein könnte. Ehe sie aber einen entscheidenden Schritt thun konnte, mußte sie sich erst Gewißheit verschaffen. Auch diese wurde ihr bald zu Theil.

Eines Tages überbrachte ihr Brenna einen Brief von der Hand des jungen Baruch, den das Dienstmädchen beim Aufräumen seines Zimmers gefunden hatte. In glühenden Worten gestand darin der Unglückliche seine Liebe zu ihr; zugleich auch den festen Entschluß, seinem Leben auf gewaltsame Weise ein Ende zu machen. Was sollte sie thun?

Erschüttert las sie dies leidenschaftliche Geständniß; sie mußte ihn um jeden Preis zu retten suchen. Um ihn von jedem gewaltsamen Schritte zurückzuhalten, beschloß sie, ihn für diesen Abend nicht von ihrer Seite zu lassen; sie ersuchte ihn deshalb, sie in das Theater zu begleiten. Hier wohnten Beide der Vorstellung von Schiller’s „Don Carlos“ mit verschiedenartiger Bewegung bei. Unwillkürlich drängte sich ihnen die Aehnlichkeit ihrer eigenen Verhältnisse mit den Vorgängen der Bühnendichtung auf. Zu ergriffen, um darüber zu sprechen, verließen sie das Theater; so gelangten sie stillschweigend in ihre Wohnung. Hier wollte Baruch von seiner Begleiterin Abschied nehmen, um sich auf das ihm eingeräumte Zimmer zu begeben. Sie lud ihn ein, ihr zu folgen und noch eine Tasse Thee mit ihr zu trinken. Diese Aufforderung in später Nacht mußte ihn befremden; sein Herz pochte so stark, daß es ihm die Brust zu zersprengen drohte, sein Kopf schwindelte und nur mühsam behauptete er noch die nöthige Fassung. Sie hatte Mantel und Hut abgeworfen und stand nun vor ihm, beleuchtet

von dem milden Lichte der Lampe, wie eine überirdische Erscheinung.

  1. Wörtliche Aeußerungen von Schleiermacher über den jungen Börne.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_439.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)