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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

reinste aller Verbindungen bestehen kann, ohne die Grenzen der geschlechtlichen Sphäre zu berühren. – Aber die Bestimmung der Frauen und ihr eigentlicher Lebensberuf wurzelt in der Liebe zu dem Manne ihrer Wahl und zu ihren Kindern; kein anderes, noch so geistiges Verhältniß liefert ihnen einen Ersatz für dies wahre Glück. Henriette mußte Beides entbehren; der Himmel hatte ihr die Mutterfreuden versagt, und wenn sie auch ihrem Manne mit aufrichtiger Neigung zugethan war, seinen edlen Sinn und seine hohe Bildung achtete, so konnte ihr dieses einseitige Gefühl nicht genügen. Der Abstand der Jahre und die Verschiedenheit der Lebensanschauung mußten sich mit der Zeit immer mehr geltend machen. Herz gehörte vermöge seines Standes und seiner ganzen Erziehung jener älteren aufgeklärten Richtung an, welche in Lessing ihren großen Vertreter fand. Klar in Worten und Gedanken, Feind jeder Ueberschwenglichkeit und Schwärmerei der Sturm- und Drangperiode, wie der schon hier und da auftauchenden Romantik, geißelte er mit scharfem Spott und sarkastischer Schärfe diese neueren Erscheinungen, für die Henriette sich um so lebhafter erklärte, je verwandter sie sich ihnen im Gefühl einer unbefriedigten Sehnsucht fühlte.

Einer solchen Empfindung galt daher wahrscheinlich der Seufzer, mit dem sie jetzt „Werther’s Leiden“ aus der Hand legte, als sie Herz, noch immer an der Thür stehend, bemerkte.

„Warum kommst Du nicht näher?“ fragte sie im ruhigen Tone.

„Ich wollte Dich nicht stören. Du warst vertieft.“

„Ich habe wieder einmal den „Werther“ gelesen.“

„Auch ein Buch, für das ich kein Verständniß habe. Der schwächliche Charakter ist mir in der Seele zuwider. Ich stimme ganz Lessing bei, daß kein Grieche oder Römer sich aus so erbärmlichen Gründen das Leben genommen hätte.“

„Die Griechen kannten keine Liebe im Sinne unserer Zeit, – Doch wir wollen nicht wieder den alten Streit anfangen. Was bringst Du mir?“

„Einen Brief aus Frankfurt. – Lies und sage mir, wie Du über den Vorschlag denkst. – Mir scheint die Sache annehmbar, aber Dir gebührt um so mehr die Entscheidung, da die ganze Angelegenheit zu dem Ressort der Hausfrau gehört.“

Henriette nahm den Brief, welcher von einem Bankier aus Frankfurt am Main herrührte und die Anfrage enthielt, ob der Doctor Herz wohl geneigt wäre, gegen ansehnliche Bezahlung den Sohn desselben bei sich aufzunehmen und ihn während seiner medicinischen Studien in Berlin zu beaufsichtigen.

„Nun?“ fragte der Arzt, nachdem sie gelesen hatte.

„Es gibt da Manches zu bedenken,“ antwortete Henriette. „Wir wollen uns nicht übereilen,“

„Der Vater ist mir als ein respectabler Mann bekannt und das gebotene Geld nicht zu verachten. Die Summe würde Dein Wirthschaftsgeld ansehnlich vermehren und unserem ganzen Hauswesen zu statten kommen. Du weißt, daß wir leider genöthigt sind, einen großen Aufwand zu machen, da wir viel Leute bei uns sehen. Der Zuschuß wäre darum angenehm.“

„Aber der junge Mensch? Wir kennen ihn nicht, wissen nicht, ob er zu unseren Anschauungen, zu dem Kreise paßt, in dem wir leben. Ein Fremder kann die ganze schöne Harmonie stören. Auch dürfte ein so nahes und inniges Zusammenleben besonders für mich mit manchen Inconvenienzen verbunden sein.“

„Der junge Baruch, wie er heißt, ist höchstens sechzehn Jahre alt. Er könnte Dein Sohn sein, und einen solchen hast Du Dir ja oft gewünscht. Du wirst Mutterpflichten an ihm üben; das wird Dich beschäftigen und vielleicht Dir besser thun, als – im „Werther“ lesen.“

„Du hast Recht,“ entgegnete Henriette, keineswegs durch seinen Spott beleidigt. „Ich werde mich bemühen, dem jungen Manne die abwesende Mutter zu ersetzen. In diesem Lichte gesehen, erhält das Anerbieten für mich eine hohe Bedeutung. Ein neues, nie gekanntes Gefühl durchströmt mich jetzt, und je mehr ich dem Gedanken nachhänge, desto inniger befreunde ich mich damit. Kaum kann ich den Augenblick erwarten, wo „unser Sohn“ eintreffen wird.“

„Halt!“ spottete Herz in gutmüthigem Tone. „Deine lebhafte Phantasie geht mit Dir durch und ich kann ihr nicht nachkommen, um sie am Flügel zu ergreifen und sie wieder zur nüchternen Alltäglichkeit zurückzuführen. So seid Ihr Weiber, immer zwischen den Extremen schwebend, die geborenen Romantiker.“

Henriette lächelte selbst über den Eifer, mit dem sie sich in die neue Mutterrolle hineingedacht, nichtsdestoweniger war es ihr ganz Ernst damit. Ihr Gefühl war einmal lebhaft angeregt und unwillkürlich hoffte sie, in dem ihr noch völlig unbekannten Jünglinge einen Sohn zu finden, wie sie ihn sich schon lange gewünscht. Mit reizenden Farben malte sie sich das Bild im Stillen aus, um nicht von Neuem die Spottlust ihres Mannes hervorzurufen, welcher sich sogleich niedersetzte, um dem Bankier Baruch in Frankfurt zu schreiben, daß dessen Sohn ihm und seiner Frau willkommen sei.

Einige Wochen später langte der erwartete Pflegebefohlene wohlbehalten in dem Hause des Doctor Herz an. Mit neugieriger Theilnahme empfing Henriette „ihren Sohn“, wie sie ihn bereits halb im Scherz und halb im Ernst nannte. Ihre Erwartungen wurden allerdings einigermaßen enttäuscht; statt eines schönen Jünglings mit offenen und gewinnenden Zügen, sah sie eine kleine, magere Gestalt in nachlässiger Haltung. Das Gesicht trug nur zu sehr das scharfe, orientalische Gepräge, aber in den dunkeln, glänzenden Augen verrieth sich dem Beobachter kein gewöhnlicher Geist. Dazu kamen noch linkische Manieren, eine gewisse Schüchternheit, hinter der sich jedoch ein stolzes Selbstgefühl zu verbergen schien. Louis Baruch gehörte nicht zu jenen glücklichen Menschen, welche gleich beim ersten Anblick für sich einnehmen, man mußte ihn erst genauer kennen lernen, um ihn lieb zu gewinnen. Henriette war zu verständig, um sich von dem äußeren Eindrucke bestimmen zu lassen; sie nahm sich vor, den Ankömmling genauer zu beobachten, ehe sie über ihn ein entscheidendes Urtheil fällen wollte.

Um so mächtiger war aber die Gewalt, welche ihre Schönheit auf den siebzehnjährigen Jüngling ausübte; er stand vor ihr, geblendet und verwirrt von den Reizen, denen sich nicht so leicht ein Mann ungestraft nähern durfte. Wie vor einer Göttin wäre er am liebsten knieend hingesunken, um sie anzubeten. In dem unbedeutenden Körper lebte eine Feuerseele, und die schwache, eingesunkene Brust verbarg ein großes Herz. Diese plötzlich auflodernde Neigung, die vorläufig unbewußt in Louis schlummerte, sog die reichste Nahrung aus dem näheren Umgange mit ihr; hier lernte er erst ihre sich gleich bleibende Freundlichkeit, ihre Herzensgüte, mit Geist und Bildung wundersam gepaart, näher kennen. – Kein Wunder, daß er darüber zum Träumer wurde und zum Aerger des gelehrten Doctor Herz seine medicinischen Studien, welche dieser überwachen sollte, gänzlich vernachlässigte. Nicht diesem allein, sondern auch den übrigen Freunden des Hauses galt bald Louis als ein kleiner Faulenzer, der nichts lernen wollte und noch dazu bei gewissen Gelegenheiten einen entschiedenen Hochmuth zur Schau trug. Aber Henriette hatte sich einmal mit dem Gedanken vertraut gemacht, die Rolle einer Mutter zu übernehmen, und ihr Mutterauge glaubte da noch Tugenden zu sehen, wo die strengen Männer ihrer Umgebung nur Fehler entdeckten. Je genauer sie „ihren Sohn“ beobachtete, desto mehr wurde sie von dem plötzlichen Aufblitzen eines Geistes überrascht, der sich absichtlich vor Fremden zu verbergen schien. Es gab Momente, wo sie über die scharfe Beobachtungsgabe, den treffenden Humor und das tiefe Gemüth des jungen Baruch erstaunen mußte. Sie allein ahnte den Genius, der in ihm schlummerte, in der unscheinbaren Knospenhülle die Blüthe der Zukunft. Manche Aeußerung von ihm verrieth nicht nur seine geistige Begabung, sondern auch den festen, unbeugsamen Charakter eines Mannes in dem gebrechlich zarten Körper eines Jünglings. Um so mehr hielt sie es für ihre Pflicht, offen gegen ihn zu sein und ihm aufrichtige Vorstellungen über seine vermeintliche Trägheit zu machen.

„Warum studiren Sie nicht fleißiger?“ fragte sie ihn mit mütterlicher Freundlichkeit.

„Um nicht dumm zu werden,“ antwortete er mit dem ihm eigenthümlichen Lächeln.

„Ich räume Ihnen ein, daß die Wissenschaft ihren Ballast hat, aber auch dieser ist nothwendig. Wenn Sie erst am Ziele Ihres Weges und im sicheren Hafen sind, so können Sie getrost die unnöthige Ladung über Bord werfen. Ihr Vater wünscht, daß Sie etwas Tüchtiges lernen, um einmal ein guter Arzt zu werden.“

„Ein guter Arzt ist, wie Ihnen Herr Doctor Herz sagen wird, derjenige, der nichts thut. Ich bin also auf dem besten Wege.“

„Louis!“ drohte sie, unwillkürlich lächelnd. „Ich fürchte, daß meine Freunde Recht haben, die Sie für einen unverbesserlichen Faulenzer halten. Ich habe Ihnen mehr Ehrgeiz zugetraut. Wenn Ihnen die praktische Medicin nicht gefällt, so schlagen Sie die wissenschaftliche Laufbahn ein. Sie können Lehrer an einer Universität, Professor werden.“

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