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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

mußte gleich einer Mosaik. Er war ein Kind der schönen Insel Zante – fiore di Levante, wie er stolz hinzufügte – hatte sich schon vom zehnten Jahre an auf griechischen Schiffen, wohl meistentheils Piraten, umhergetrieben, und war endlich auf einer genuesischen Feluca Steuermann geworden. Hier muß ein schreckliches Ereigniß seinem Leben eine neue Wendung gegeben haben – wir vermutheten aus dunkelen Andeutungen, die er mit unnachahmlichen, aber höchst bezeichnenden Gesten begleitete, daß er seinen Capitain, wahrscheinlich seinen Nebenbuhler bei einer dunkeläugigen Schönen, niedergestochen – er entfloh und ward Matrose auf einem Marseiller Kauffahrer, mit welchem er eine Reise nach New-Orleans machte. Von da fuhr er nach der Havanna, war in Valparaiso, zwei Mal in Hongkong, am Cap der guten Hoffnung und in St. Helena gewesen – von letzterer Insel, als dem Grabe Napoleons des Großen, sprach er mit höchster Verehrung und griff dabei stets an die Mütze – wenn wir ihm einreden wollten, daß sich die Gebeine des Kaisers längst nicht mehr daselbst befänden, schüttelte er mit schlauem Lächeln den Kopf, als wolle er sagen: „Geht doch, ihr Schäker, das weiß ich besser; ich bin ja dort gewesen!“ Wie er nach der Sulina gekommen, verhehlte er trotz aller Redseligkeit sorgfältig; ein Camerad von ihm, der später einem anderen Theile unserer Schiffs-Gesellschaft seine Dienste widmete, behauptete, er sei vor Malta von einer englischen Fregatte entronnen und mit einem türkischen Schiffe dann an der Schlangeninsel gescheitert. Welch’ ein Leben, und zwar in der kurzen Spanne von zweiundzwanzig Jahren!

Während meine Reisegefährten sich in den verschiedenen Locanden, Kaffeehäusern, Billardsälen – es gibt von den letzteren schon mindestens ein Dutzend in der neuen Stadt – zerstreuten, wanderte ich langsam am Fanale vorbei längs des Strandes dahin. Im Anfange war der Weg beschwerlich in dem mahlenden Sande, aber sobald der Fuß den Uferstreifen betrat, welchen die schäumenden Wogen beleckten, fand er einen festen, elastischen Pfad, wie man sich ihn nicht besser wünschen mag. Einige der Wracks lagen hier so nahe, daß ein Steinwurf sie hätte erreichen können; Wellen und Menschen hatten ihnen entrissen, was möglich war, meist aber blieb sorglich ein Mast mit festgebundener Raa stehen, ein Kreuz, aufragend aus dem Leichenfelde der Tiefe. An dem Strande lagen wenige Muscheln, und diese nur von den allergewöhnlichsten Arten, Tychogonia, Mactra, Pecten u. s. w., selten darunter, und zwar stets zertrümmert, eine unechte Wendeltreppe; Reste von Krabben, Hummern, Seesternen, Igeln u. dergl. waren nicht zu entdecken. Nichtsdestoweniger ist das Meer hier überaus fischreich, wie schon die Möven bewiesen, deren spitzbeschwingte Schaaren unablässig darüber kreisen, um da und dort mit nie fehlender Sicherheit plötzlich niederzustoßen auf die unvorsichtige Beute. Eine ziemlich weite Strecke war ich schon gewandert und hatte die ganze Landzunge des rechten Sulinastrandes umgangen, als mir auf einmal ein paar hundert Schritte landeinwärts eigenthümliche Hervorragungen im Dünensande auffielen, deren Zweck ich nicht sofort errieth, bis ein schärferes Hinblicken sie als Kreuze, als Gräber erkennen ließ. Der Friedhof der Stadt Sulina lag vor mir.

Die Erinnerung an diese Stätte der Ruhe wird mich niemals verlassen. Die Gräber sind in lockeren Sand gegraben, tief, aber nicht tief genug für die Springfluth, welche höhnisch die bedeckenden Hügel wegspült und ihren Inhalt dem Tage zeigt. Was die Woge nicht nimmt, das ergreift der Sturm – darum gibt es auch gewiß in der ganzen Welt keinen traurigeren, erschreckenderen Ruheplatz der Todten, wie den von Sulina. Verweht, zusammengesunken, geöffnet, halb wieder gefüllt, so liegen die Gräber in der gelben, nackten Oede, wo blos hier und da kümmerliche Salsolen und Salicornien dem salzgetränkten Boden entsprossen. Nur in der Umfriedigung eines Grabes wächst hohes, grünes Schilf, ein merkwürdiger Anblick; während der Weidenbaum, mit welchem treue Liebe ein anderes nach Kräften zu schmücken versucht hat, schon halb verdorrt ist. Fast alle diese Gräber sind noch neu und jung, sehen aber uralt aus, als schliefen darin längst erloschene Geschlechter. Einzelne davon sind mit einer Umzäunung aus starken Bohlen und gleichem Dach versehen, ähnlich einem kleinen Blockhaus, im Innern sind mächtige Steine darauf gewälzt – aber umsonst, die gierige Hyäne der Meerfluth wird sie eines Tages dennoch öffnen, schon hat sie manche davon halb unterwühlt. So hier – schaudernd trittst du zurück, denn zwei gegeneinander gelegte, noch mit Muskelfasern bedeckte Knochenhände ragen wie flehend aus dem Sand hervor – und dort ein nur noch halb vergrabener, schon eingebrochener Sarg, aus welchem lange, schwarze Haare in den Wind flattern.

Wer hier Schädel und Gebeine sammeln wollte, der hätte die schönste Auswahl, sie sind dabei merkwürdig weiß gebleicht und wohl erhalten. Die ganze Pietät der Bevölkerung, die sich etwa hierher verirrt, beschränkt sich darauf, die entblößten Ueberreste aufzunehmen, und in eines der umzäunten und überdachten Gräber zu werfen, welche dadurch zu wahren Beinhäusern geworden sind. Jeder Ruhestätte ist irgend ein Liebeszeichen gesetzt worden, sei es nur eine Schiffsplanke mit einigen Charakteren darauf, sei es ein rohes schwarzes Kreuz, auf welchem der Name des darunter Ruhenden mit Kreide geschrieben. Aber die wenigsten dieser Erinnerungstafeln stehen längere Zeit, fast alle sind morsch abgebrochen, umgesunken – und Niemand stellt wieder auf, was einmal liegt. Wo sind auch die Freunde und Verwandten der hier Begrabenen? Alle Male sind von Holz, nur ein einziges macht eine Ausnahme, welche hier fast befremdenden Eindruck bewirkt – eine weiße Marmortafel, auf der mit Gold die russische Inschrift steht: „Hier ruhet der Hofrath und Stabsarzt Karl Kondratoff.“ Heute wird der Flugsand sie längst verschüttet haben. Das äußerste, tief eingesunkene Kreuz nach dem Meere zu, bezeichnet mit „Knud Knudsen, Mandal, 1852“, war das älteste Grab, das ich fand. Das jüngste war das des Alexandre Giraud, né à Toulon, marin de l’Averne, † 1858, 6. Juin. Es war kaum drei Wochen alt, und wie verwittert schon sahen die Breter aus, welche den Hügel in einem Kasten zusammenhielten! Dicht daneben ruhten zusammen, wie die hölzerne Tafel berichtete, „William Barter, Stoker on Board H. B. M. S. Weser“, nebst Thos. Cook, A. B.“ 26 Jahre alt, ebenfalls von der Weser, „drowned in St. Georgs Branch of Danube 29. Mai 1858. Dort „Vincent Marzin, Capt. du Brick Les 3 frères de Brest“ brüderlich neben „James Murray, Engineer, 35 years old“ – noch viele Briten, Franzosen, Holländer – etwas abseits von ihnen und möglichst nebeneinander Russen, Armenier, Griechen. Aber nur ein einziges Kreuz mit deutscher Aufschrift fand ich: „C. C. Menkema, geboren 1843“ weiter nichts! Ich wandelte lange zwischen diesen Gräbern herum und suchte die vom Salzgischt der sprühenden Wellen halb zerfressenen Inschriften zu entziffern; keine davon sagte mehr, als wer da liege; der Phantasie blieb es überlassen, an jeden Namen eine Biographie zu heften; leicht würde es ihr in dieser Umgebung geworden sein, die allerphantastischste zu ersinnen – und doch wäre dieselbe vielleicht blaß und einförmig gewesen, gegenüber dem Garn, das mancher der Schläfer da unten von seinem Leben hätte spinnen können. – Dicht am Friedhof der Sulina läuft auf hohen Stangen der Telegraphendraht einher, der nach Constantinopel führt.

Schon die Unbeweglichkeit des Schiffes verkündete am frühen Morgen des folgenden Tages, daß noch immer die warnende Flagge des Leuchtthurms wehe, und ein Blick vom Verdeck bestätigte unser Schicksal. Der Ostwind war noch viel heftiger als gestern, und blies uns gerade in die Zähne. Um so mehr verwunderten wir uns daher, als wir ein Schiff mit vollen Segeln vor dem Wind daher gejagt kommen sahen, welches geradezu auf die Barre loshielt, während draußen in der Ferne zahlreiche minder waghalsige Fahrzeuge geduldig vor Anker lagen. Verwehrt kann natürlich keinem Kiel die Einfahrt werden, die blaue Flagge warnt nur, befiehlt nicht – wer sich an ihre Warnung nicht kehren will, der nimmt Alles auf seine Kappe. Das that auch der Capitain der Sloop, die keck jetzt hereinflog, das griechische Kreuz an der Gaffel – schwerlich standen Assuradeure hinter ihr, die sich dergleichen Tollkühnheiten höflichst verbeten – kurz, es gelang ihr trefflich, und in wenigen Minuten schoß sie uns gegenüber zwischen ihresgleichen. Sollte das wackere Dampfboot aber nicht hinauskönnen, wo diese griechische Wasserspinne hereinkam? So fragten auf einmal, muthig geworden, viele Passagiere – aber Capitain Bassi schüttelte lachend den Kopf und meinte, eine Maus schlüpfe leicht hindurch, wo ihr die Katze nicht zu folgen vermöge – und somit waren wir abermals zu einem Tag Aufenthalt in Sulina verurtheilt.

(Schluß folgt.)



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