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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

nicht geradezu enthielt, den Fremden doch noch immer mehr räthselhaft und geheimnißvoll mußte erscheinen lassen.

„Warum,“ rief er, „nimmt der Mensch auf seinen Hof keine Leute hier aus der Gegend? Alle seine Knechte und Mägde sind von drüben, von jenseit der Grenze her.“

Das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit besonders erregen konnte, obwohl es etwas auffallend war.

Aber noch eifriger fuhr er fort: „Und warum spricht er mit seiner Frau in einer fremden Sprache, die kein anderer Mensch versteht? Und warum sprechen sie nur dann so, wenn sie meinen, daß kein anderer Mensch es höre? Und warum reden sie in der fremden Sprache nicht einmal mit ihren kleinen Kindern?“

In den paar Bemerkungen lag so viel Wahrheit, daß ich unwillkürlich stutzte.

„Niemand kennt die Sprache?“ fragte ich.

„Kein Mensch, Herr, und es wohnen in der Gegend Leute, die die Feldzüge mitgemacht haben und in Frankreich, Holland und Belgien gewesen sind und mit Franzosen, Engländern und selbst mit Spaniern verkehrt haben. Aber sie haben kein Wort gehört, das der Sprache gliche, die der Fremde mit seiner Frau redet.“

Ich fragte ihn, ob er mir nicht ein oder ein paar Worte aus dieser fremden Sprache wiederholen könne. Er war dazu nicht im Stande. Daß der Fremde das Deutsche gut und geläufig, wie seine Muttersprache, redete, hatte ich selbst gehört.

„Wie spricht die Frau das Deutsche?“ fragte ich noch.

„Als wenn sie es immer geredet hätte.“

Das waren auffallende Nachrichten. Beide Eheleute sprachen das Deutsche, wie ihre Muttersprache, und redeten dennoch unter sich in einer fremden Sprache. Das ließ schließen, daß diese und nicht jene ihre Muttersprache war. Sie redeten sie aber nicht, wenn ein Dritter dabei war. Sie hatten also Grund, ihre eigene Muttersprache zu verleugnen. Ja, sie redeten sie nicht einmal zu den Kindern. Nur in den Lauten, die sie selbst, die Mutter, als Kind von ihrer Mutter zuerst vernommen und verstanden hat, auch wieder zu ihren Kindern zu reden, drängt es jede Mutter; sie kann in der fremden Sprache das Kind nicht recht herzen und nicht voll lieben, es ist, als wenn etwas Fremdes zwischen ihnen stände. Diese Mutter konnte, mußte das Alles verleugnen, mußte in den süßesten Augenblicken der Mutterliebe ängstlich auf ihrer Hut sein, um keinen Laut hervorzubringen, der in dem Kindergedächtnisse haften bleiben und gegen sie zum Verräther werden konnte. Welcher Grund lag vor, der ein solches Verbergen forderte? Welche eigenthümlichen, rätselhaften Verhältnisse? – Das alte Bäuerlein mußte sich von mir trennen; wir waren an einen Seitenweg gekommen, den er einschlug. Noch einmal mußte ich ihm unverbrüchliches Stillschweigen versprechen.

„Dem Menschen käme es auf einen Mord nicht an, wenn er erführe, daß ich nur mit dem Herrn gesprochen habe. Er durfte nicht einmal sehen, daß ich hier in der Heide in der Nähe des Herrn war; drum verbarg ich mich vorhin. Der Herr mag sagen, was er will, der Mensch trägt einmal das Kainszeichen im Gesichte, und alles Volk hält ihn für den Dieb, und was das Volk sagt, das ist so. Volkesstimme ist Gottesstimme.“ Damit ging er. Ich setzte mich wieder in meinen Wagen und fuhr weiter.

Die Mittheilungen des kleinen, alten Mannes hatten mich in eine sonderbare Unruhe versetzt. War ich wirklich auf der Spur des so viel gesuchten gefährlichen, verwegenen und listigen Diebes? Das Aussehen des Menschen war verdächtig genug. Auch die Mittheilungen des alten Bauers konnten manchen Verdacht erwecken. Am meisten beschäftigte mich die fremde, unbekannte Sprache und das sorgfältige, ängstliche Verbergen derselben.

Ich war mehrere Jahre vorher längere Zeit in der Provinz Litthauen gewesen, und auch dort Criminalrichter. Die litthauische Sprache ist eine ganz eigenthümliche; mit keiner anderen lebenden Sprache ist sie verwandt. Von allen Sprachen, die noch bestehen, ist sie die, die am nächsten aus dem Sanskrit stammt. Nur ein kleiner Volksstamm redet sie. Dieser Volksstamm wohnt in dem Theile Preußens und in einer der verkehrlosesten Provinzen Rußlands. Fremde, die in diese Provinzen kommen, lernen die Sprache selten; außerhalb der Provinzen kennt man sie gar nicht. Sie ist selbst in ihren Namen eigenthümlich. Ich dachte jener Zeit, die ich dort in dem Lande mit der sonderbaren Sprache verlebt, und in meiner Erinnerung tauchten eine Masse Bilder auf, die ich längst schon vergessen glaubte.

Wenn aber die Gedanken des Menschen in die Ferne schweifen, zu dem was ihnen so nahe liegt, dann gewahren die Sinne des Menschen nicht, was ihnen nahe ist.

„Himmeldonnerwetter!“ fluchte der Kutscher auf dem Bocke. Oder vielmehr, er fluchte es nicht mehr auf dem Bocke. Bei der letzten Sylbe seines Fluches lag er schon darunter, und ich neben ihm.

Der Wagen war mit den Rädern der einen Seite auf einen Erdwall gekommen, der den Weg von einem breiten Wassergraben schied. Der Kutscher hatte es nicht bemerkt; er mußte geschlafen haben, obwohl er nachher es ableugnete.

Ich hatte nicht darauf geachtet, weil ich meinen Gedanken in die Ferne gefolgt war, obwohl ich nachher nicht leugnen konnte, daß ich es wohl bemerkt, aber eben aus dem angegebenen Grunde nicht darauf geachtet halte. Der Wall war zu hoch geworden, der Wagen war umgeschlagen.

„Es ist ein Glück, Herr,“ sagte der Kutscher nachher, „daß er in den Weg schlug und nicht in den Wassergraben.“

„Hole der Teufel das Glück!“

Er hatte ein Bein verstaucht, ich einen Arm. An dem Wagen war ein Rad gebrochen. Und um uns her war dunkle, kahle Heide.

(Fortsetzung folgt.)




Sulina.
Reiseskizze von Dr. Wilhelm Hamm.
Reisegesellschaft auf dem Metternich. – Douanenwachen und türkische Subordination. – Bei der Sulinamündung. – Stadt Sulina. – Stadt der Qualen und Verdammniß. – Ein Gang durch die Straße. – Keine Frauen.

Wir reisten mit dem „Fürsten Metternich“, aber nicht mit dem alten berühmten Diplomaten und Besitzer des edelsten Weines, sondern in dem prächtigen Dampfboote der Donau-Compagnie, das seinen Namen trägt. Die Gesellschaft, welche sich in der blendenden, geräumigen Cajüte zusammengefunden hatte, war nicht groß, aber desto besser; aus aller Herren Länder waren Repräsentanten darunter. Dort ein Merchant’s-Clerk aus Manchester, Missionär für Calico und Jaconnet unter den Heiden des Ostens; hier ein fideler Weinreisender aus Marseille, welcher mit unnachahmlicher Suada la belle France und ihre moussirenden Producte pries; dort ein Hamburger Commis, der natürlich „Behrens“ hieß und männiglich im Vertrauen fragte, ob er glaube, daß es in Odessa „gutes Bier“ gäbe; hier ein griechischer Dandy aus Constantinopel, mit Ungeduld die Stunde erwartend, wo er wieder seine lackirten Stiefel auf der Promenade zeigen könne; ein Woll-wollender Speculant aus Basel begann seinen Einzug in die Cajüte gleich mit einem heftigen Zornergusse über den italienischen Steward, der es in irgend etwas gegen den gestrengen Herrn verfehlt hatte; umsonst suchte ein handfester westphälischer Ingenieur den Streit zu beschwichtigen, es bedurfte der Dazwischenkunft des Capitains, um einen Faustkampf zu verhindern; dem Schweizer aber gerieth seine Autoritätsucht nicht zum Besten, denn von nun an fügte es der Zufall, daß bei Tafel stets die Schüssel an ihn zuletzt kam. Da war noch ein Bankier aus Wien, ein feiner Mann, der wohlgefällig seinen ungeheueren Reichthum an Weißzeug umpackte – er führte nicht weniger als hundert Dutzend Hemden mit sich, alle zu eigenem Gebrauch, denn „Wer kann es mir wehren?“ sagte er; ferner ein junger Kaufmann aus Odessa, der von seiner großen Tour in „Europa“ zurückkehrte; eine kleine Sammlung junger Engländerinnen unter dem Schutze einer resoluten Gouvernante aus Neufchatel, im Begriff, sich nach Feodosia zu begeben; endlich ein paar schlanke, sehr gewählt gekleidete Damen aus Prag, junge Mädchen, deren treffliches, Clavierspiel uns manche langweilige Stunde verkürzte, aber leider doch nicht trefflich genug war, ihnen

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