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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

welche sich von den Regeln entfernt, um originell zu werden, oder die, welche innerhalb der Regeln anmuthige und eigenthümliche Gestalten schafft. Uns scheint es eine genialere Kraft zu bedingen, die Gegenwart in gebräuchlichen Rahmen durch neue Bilder zu fesseln, als nach selbstersonnenen Principien, und mit danach geständlich noch unreifen, gährenden Bildungen, die berechtigt, aber auch nicht berechtigt sein können, aufzutreten. Erreichte nun auch Mendelssohn die Stufe der schaffenden Tonkunst nicht, welche wir bis jetzt durch Beethoven als die höchste kennen gelernt haben, so ist er doch diesem wunderbaren Meister im Ganzen – am nächsten gekommen. Wer daher überhaupt ein Herz hat für die Töne, wird die unsres Meisters verstehen, nachempfinden und stets wahre Kunstfreuden dadurch genießen.

Das Privatleben Mendelssohn’s war, wie seine Compositionen, gediegen und geregelt. Wenn er seine Arbeit verlassen hatte, lebte er seiner Familie und einem kleinen Kreise werther Freunde. Feine Gesellschaft, die geistige Unterhaltung bot, liebte er. Für das Wirthshausleben hatte er keinen Sinn. – Gegen seine Kunstgenossen war er gefällig; Kunstjüngern stand er mit Rath und That jederzeit bei. Mit seinen pecuniären Mitteln hielt er Haus, doch war er weit entfernt, damit zu kargen. Wo es noth that, war er zur Hülfe stets bereit, und scheute selbst bedeutende Opfer nicht. Erst nach seinem Tode sind rührende Züge von Unterstützungen bekannt geworden, die er im Stillen gespendet hatte.

–e.




Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
1. Der Friseur.

Die Natur pflegt in allen nordischen Gegenden hinsichtlich der Garderobe der daselbst ortsangehörigen Vierfüßler eine sehr verständige Einrichtung zu treffen, welche vielleicht im Menschen den ersten Gedanken der Mode angeregt hat. Sobald die wenigen Pflanzen ihre kurze Blüthe beendet, ihre kargen Früchte getragen haben und nun die eisige Jahreszeit heranrückt, beginnen die Haare aller Thiere länger und dichter zu werden, um sie gegen die Einwirkungen der furchtbaren Kälte zu schützen. Tritt dann aber nach vielen traurigen Monaten der spärliche Sommer wieder ein, so lichten sich alle Vließe, die überflüssigen Haare fallen wieder aus und der pelzhändlerische Tourist gibt sich weiter keine Mühe um diese wertlosere Sommertracht. Die Wissenschaft hat mit gewohntem Scharfsinn diesen Wechsel in der Garderobe mit den Ausdrücken „Sommer- und Winterhaare“ bezeichnet.

Wie dieser oder jener wohl schon bemerkt haben wird, ist die Natur aber weit entfernt, eine ähnliche Fürsorge für den Menschen zu treffen. Unbekümmert, ob er im Winter friert oder im Sommer vor Hitze verschmachtet, hat sie ihm nur auf dem Kopfe einen Rest dichter thierischer Bedeckung gelassen, – weniger, wie anzunehmen ist, um seine Gedanken warm zu halten, als um ihm für die Momente, welche in jedem Leben häufiger oder seltener vorzukommen pflegen, wo er sich veranlaßt sieht, vor Kummer oder Verzweiflung seine Haare auszuraufen, ein anständiges und seinen Bemühungen entsprechendes Material zu bieten.

Will man aber auf die Anwendung der Theorie von Winter- und Sommerhaaren auf den Menschen durchaus nicht verzichten, so bleibt nichts Anderes übrig, als den Satz, zumal in großen Städten, vollständig umzukehren. Denn die Haare des Menschen pflegen gerade in der schönen Jahreszeit seines Lebens dichter und länger zu sein, mit dem Eintritte der kälteren Tage aber dünn zu werden oder ganz auszufallen, wenn gleich sie mit den Pelzen der Polarzone das gemein haben, im Winter des frühen oder späteren Alters grau oder weiß zu werden.

Schon frühzeitig hat sich deshalb das menschliche Geschlecht genöthigt gesehen, auch über seine Haare nachzudenken und geeignete Maßregeln hinsichtlich derselben zu treffen. Bei der mit der Civilisation zunehmenden Theilung der Arbeit bildete sich sogar bald ein eigener Stand, welcher sich ausschließlich der Wissenschaft des Haares widmete und nach der Sprache jenes Volkes, das ihm die höchste Ausbildung durch die lebhafteste Beschäftigung mit dem Haarwuchse verlieh, „Friseur“ genannt wurde.

Nur sehr einfache Nationen haben unter sich diesen Stand noch nicht entwickelt, weil sie als thatkräftige und kriegerische Individuen das Haupt des Menschen als ein Jagdgebiet auffassen, an das man so selten als möglich die Hand legen müsse, um das sich darin aufhaltende Wildpret nicht unzeitig einzuschüchtern und so den Ertrag der bisweilen anzustellenden Treibjagden zu schmälern. Trägere Völker gehen von der entgegengesetzten Ansicht aus und lassen lieber, wie die Orientalen, den ganzen Wuchs von der Hand kundiger Männer fällen, ehe sie die bei Ihrem Klima höchst wahrscheinliche Zucht einer starken niederen Jagd unbedachtsam begünstigen.

Erst der ganz civilisirte Mensch hält die richtige Mitte ein. Er pflegt sein Haar von früher Jugend an sorgsam, und wenn widrige Schicksale oder allzuhäufige Annehmlichkeiten des Lebens ihn desselben berauben, sucht er einen Künstler auf, dessen Geschicklichkeit in Anfertigung künstlicher Kopfbedeckungen er unbedingt vertrauen darf.

Eine Menge Redensarten unserer Muttersprache zeigen an, daß die gebildete Menschheit einen starken Nachdruck auf den Werth der Haare legt. Nicht ohne Grund nennt man die Absicht, einen ungewöhnlich hohen Grad von Wohlwollen gegen Jemand an den Tag zu legen: „ihn bei den Haaren nehmen“, die Fähigkeit, ein uneigennütziges Opfer zu bringen: „Haare lassen“, ja, mit wahrem Tiefsinn redet der Jüngling, der am Abend vorher durch Rebensaft oder Hopfengebräu die höchste Begeisterung der Poesie in sich angeregt hat, von dem elegischen Leiden des anderen Morgens, als von einem „Wehethun der Haare“. Deshalb dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn der Stand der Haarkünstler sich vor sämmtlichen Handwerksgenossen auszuzeichnen trachtet und einen gewissen höheren Aufschwung nimmt.

Die Seele des Friseurs vertieft sich durch die fortwährende Behandlung menschlicher Köpfe. Seine Hand berührt den Schädel des Staatsmannes und Feldherrn, des Philosophen und frommen Geistlichen; er fühlt sich zum Nachdenken angeregt, wenn er jetzt den Haarputz einer leichtsinnigen Schönen mit Geschmeiden durchflicht und bald darauf die Perrücke eines tugendhaften Greises zurechtstutzt. Wenn er nicht vermöge der Abstammung seines Gewerbes aus Paris zu einiger Leichtfertigkeit Hinneigung zeigte, würden sich unter dem Gewerbe der Haarkräusler ebenso gut große Philosophen entwickeln, wie unter den Gelehrten, die sich mit dem Südpol des Menschen, seinen Füßen, beschäftigen und über der Anfertigung der Stiefeln brüten. Fühlte sich der große Jakob Böhme zu Görlitz durch den Anblick eines blankgescheuerten zinnernen Gefäßes zu wunderbaren theosophischen Träumen angeregt, warum sollte nicht einen hochbegabten Friseur die spiegelblanke Glatze irgend eines alten Herrn zu den wichtigsten Philosophemen veranlassen?

Aber die Friseure pflegen nur Männer von Welt und Ton zu sein; trotz der zahlreichen Aufforderungen zum Nachdenken bringen sie es nie weiter, als bis zu einer gewissen Lebensweisheit; sie entwickeln meistens eine Richtung in sich, die an den großen und doch so kleinen Voltaire erinnert. Wir sprechen freilich zunächst von den Friseuren Berlins, wo Voltaire ihnen in das Handwerk pfuschte und den großen König Haare zu lassen verstand, allein jener besondere Charakter erhält sich an vielen andern Orten. Selbst auf dem classischen Boden Italiens trafen wir einen dieser glücklichen Weisen. Zwar bestand sein Atelier schlechtweg in einem Keller, der Luft und Licht nur durch eine Thür empfing, welche, um beide edlen Elemente niemals fehlen zu lassen, selber fehlte; zwar beschränkte sich sein Frisirmantel auf eine winzige schmutzige Serviette und sein Apparat auf ein ausgebrochenes Kämmchen, wie es zärtliche Mütter zu ihren sicherheitspolizeilichen Maßregeln auf den Köpfen der lieben Kleinen anzuwenden pflegen, nebst einer winzigen stumpfen Scheere; allein er dachte gleich anmuthig von Dingen und Menschen, wie der große Geschäftsmann der Residenz, bei dem der Hof seine Pomade von Dupuytren kauft.

Jeder elegante Friseur nennt seinen Laden und das Handwerkslocal „Maison“, oft sogar „Maison de Paris.“ Zuweilen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_080.jpg&oldid=- (Version vom 7.2.2023)