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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Er betet.
Erzählung von J. D. H. Temme, Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)

Antonie Rohner hatte sich nicht um die stolze Gräfin gekümmert. Sie lebte ja noch im Glück, in der Freude. Was ging sie der Neid, der Haß an? Sie tanzte, sie sprang, sie scherzte, sie lachte. Sie hatte auch nicht darauf geachtet, als später die stolze, schöne Dame nicht mehr da war. Das war um Mitternacht.

Sie habe Kopfweh, hatte die Gräfin zu einer Dame gesagt, sie müsse in einem stillen Zimmer des Hauses ein halbes Stündchen ausruhen. Dann hatte man sie nicht weiter gesehen.

Aber ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte vor ihrem Verschwinden auch noch etwas Anderes wahrnehmen können.

In der Gesellschaft war ein großer, bildschöner Mann. Er war Rittmeister in der Garde, Wenn er in seiner eleganten, knapp anliegenden, die schönen Formen seines Körpers so wundervoll hervorhebenden Uniform den Saal durchschritt, so blieben auch an ihm unwillkürlich viele Blicke bewundernd hängen. Freilich war es eine andere Bewunderung, als mit welcher die Augen der liebreizenden Antonie Rohner folgten. Und vielleicht mußte man ihn auch darum mit desto größerem Interesse ansehen, da man ihn fast nur an der Seite einer häßlichen, kleinen, halb verwachsenen, nicht mehr jungen Dame sah. Die Dame war seine Frau, ein reiches, häßliches, altes Fräulein, die sich für ihr Geld den schönen Officier geheirathet hatte und nun so unendlich eifersüchtig auf ihn war, daß sie nicht von seiner Seite wich und er nicht von ihrem Arme weichen durfte, daß er keine andere Dame ansehen, daß kein anderes weibliches Wesen nur ihr Auge auf ihn richten durfte. Daher mochte es denn auch rühren, daß selbst der aufmerksamste Beobachter nicht darüber hätte in’s Klare kommen können, ob der schöne Rittmeister – er hieß Baron Richter – und jene schöne, stolze Gräfin – sie hieß Auguste von Göppingen – verstohlene Blicke sich gegenseitig zusendeten, oder ob sie dies nicht thaten. Kurz vor Mitternacht indeß mußte es doch Jemand bemerkt haben.

Der Rittmeister hatte seine Frau zwei Freunden überlassen, die ihr sehr angelegentlich den Hof machten. Keine Frau ist so häßlich, daß sie sich nicht den Hof machen ließe; die häßlichste oft am liebsten. Er selbst schritt in Gedanken durch den Tanzsaal. Es war eine Pause. Er ging langsam auf und ab. So kam er an den Reihen sämmtlicher Damen vorbei, also natürlich auch an der schönen Gräfin Göppingen. Er schien sie jedoch nicht zu bemerken, und sie hatte ihn kaum eines Blickes gewürdigt. Er entfernte sich in seinem langsamen, gedankenvollen Gehen auch bald ganz aus dem Saale, vielleicht zum Buffet oder in ein Rauchzimmer. Und die Gräfin Auguste Göppingen hatte in der That wohl um so weniger nach ihm hingeblickt, als sie damals schon ihre Migräne haben mußte. Denn daß sie diese habe, hatte sie schon vorher zu ihrer Nachbarin gesagt, und sie stand auf, um in dem entfernten, stillen Stübchen auszuruhen. Dennoch war in dem Saale Jemand, der etwas Anderes, der mehr als Andere gesehen haben mußte. Es war ein Regierungsrath, der bei dem Polizeipräsidenten arbeitete. Also ein Beamter, gar ein hochgestellter Beamter der Polizei. Er mußte gewiß mehr gesehen haben, als andere Leute. Dazu kam, daß er früher ein Liebhaber der schönen Gräfin gewesen war; denn die schöne Auguste von Göppingen hatte schon Liebhaber gehabt.

Die Dame selbst schien kaum zu bezweifeln, daß er mehr gesehen haben müsse, als er hätte sehen sollen.

Sie erschrak heftig, als sie aufgestanden war und er sich ihr plötzlich nahete und sie sehr theilnahmvoll fragte:

„Sie sind unwohl, meine Gnädige?“

Aber sie mußte ihm doch antworten, und sie hatte sich auch bald wieder gefaßt, und da sollte sie, wenn auch zuerst sich ärgern, doch nachher sogar neugierig werden.

„Ich habe Migräne,“ antwortete sie kurz.

„Und Sie wollen sich aus diesem Geräusche zurückziehen?“

„So ist meine Absicht.“

„Darf ich Ihnen meinen Arm bieten?“

„Ich danke Ihnen.“

„Ich hätte Ihnen Mancherlei mitzutheilen.“

„Sie würden mich in der That in meinem Zustande wenig empfänglich finden.“

„Ah, die Migräne!“

Der Regierungsrath begleitete die Worte mit einem so höhnischen Lächeln, daß die junge Dame wüthend hätte ausrufen mögen: Frecher, unverschämter Polizeimensch! Indessen that sie es nicht, und als der Andere fortfuhr, wurde sie jetzt neugierig und sagte sich auch wohl zugleich: Er hat doch nichts gesehen.

„Die fatale Migräne,“ sagte der Regierungsrath. „Ich hätte Ihnen sonst in Betreff des Fräulein Rohner Mittheilungen machen können.“

„Ah, des Fräulein Rohner?“

„Und gar interessante.“

„Sie wissen etwas Besonderes?“

„Etwas ganz Besonderes.“

„Lassen Sie hören.“

„Wir sind an der Thür, meine Gnädigste, ich darf Sie nicht weiter begleiten. Sie hatten Recht, Sie bedürfen der Ruhe und – Einsamkeit; aber nachher, wenn Sie befehlen.“

Damit verabschiedete er sich sehr höflich von ihr. Und die schlaue Dame, indem sie den Saal verließ, sah zwar noch etwas zornig, aber doch auch nicht mehr erschrocken aus.

„Er hat nichts gemerkt; er wollte mich nur mit der Person, der Rohner, ärgern,“ sagte sie für sich.

Eine halbe Viertelstunde später war dieser „Person“, dem Fräulein Antonie Rohner, ein kleines Malheur passirt. Wie oft schon hat ein kleines Malheur ein recht großes, tiefes Unglück zur Folge gehabt! Und das kleine Malheur war von so geringfügigen, unbedeutenden Umständen herbeigeführt!

Ein Walzer war zu Ende. Antonie Rohner hatte ihn mit einem jungen Legationssecretair getanzt. Er führte sie auf ihren Platz zurück. Sie hatte ihn bei der alten Generalin gehabt, der sie ihr süßer Engel geworden war und die seitdem Mutterstelle an ihr vertrat. Die alte Dame kam ihr schon entgegen.

„Aber mein Gott, mein süßer Engel, Ihr Tänzer hat Ihnen die Taille zerrissen.“

„O weh, ich sehe es auch.“

„Die Herren werden jetzt täglich ungeschickter, selbst die von der Gesandtschaft.“

„O, nicht Alle, liebe Excellenz.“

„Ah, und zum Beispiel?“

„Die Officiere –“

„Ei, ei, süßer Schelm, der kleine Lieutenant von den blauen Husaren –“

„Er hat mir nichts zerrissen.“

„Noch nicht! – Aber wir müssen den Schaden wieder gut machen. Kommen Sie, mein Engel, wir wollen die Präsidentin aufsuchen.“

Die Präsidentin war schon da.

„Der Schade ist leicht gut zu machen; meine Kammerjungfer ist geschickt.“

Die gütige Wirthin führte das freundliche Mädchen in ein Vorzimmer; dort harrte ähnlicher Unfälle Friederike, die Kammerjungfer der Präsidentin. Die Kundige untersuchte den Schaden.

„Mit bloßem Anheften von Nadeln ist das nicht gethan, gnädige Frau.“

„So führe das Fräulein in mein Ankleidecabinet.“

Die Kammerjungfer führte das Mädchen in einen Corridor, zu dem Ankleidecabinet der Präsidentin. Aber das Cabinet war verschlossen und die Jungfer hatte den Schlüssel vergessen.

„Ich laufe, ihn zu holen, Fräulein. Wollen Sie nicht so lange hier nebenan eintreten? Es ist das Schlafzimmer der Frau Präsidentin. Ich bin im Augenblicke wieder bei Ihnen.“

Sie lief.

Antonie hatte von ihr ein Licht genommen. Die schritt damit auf die Thür des Schlafzimmers der Präsidentin zu. Als sie die Thür anfassen wollte, um sie zu öffnen, stieß ihr Fuß vor der Schwelle auf Etwas. Sie sah hin. Es war etwas Glänzendes. Sie bückte sich nieder. Es war ein reiches, funkelndes Diamantenkreuz.

„Das hat gewiß die Präsidentin verloren. Wer sollte sonst hierhergekommen sein? Ich werde es ihr wiederbringen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_034.jpg&oldid=- (Version vom 27.4.2018)