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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Um Gotteswillen, Rudolph, was hast Du gemacht? Diesmal?“

„Du weißt es?“

„Ich weiß Alles –“

„Und darum ein solches Gesicht?“

„Du hast ein Verbrechen begangen?“

„Höre, Alter, ein Verbrechen ist erst dann da, wenn der Strafrichter seine Strafe dafür dictirt.“

„War nicht der Polizeibeamte schon hier?“

„Ist nicht auch mein Vater da?“ „Dein Vater? Eben Dein Vater! Er ist der redlichste, ehrenhafteste Mann von der Welt.“

„Eben darum, sage ich! Er kann mich nicht verlassen, seinen einzigen Sohn nicht in’s Zuchthaus schicken, seinen eigenen Namen nicht brandmarken.“

„Aber Du wirst ihn unter die Erde bringen, Mensch.“

„Pah, er ist ein eiserner Charakter.“

„Leider, leider, und, Rudolph, wenn Du ihn falsch beurtheiltest! Gerade diesen eisernen Charakter!“

„Du bist noch da, Du mußt helfen.“

„Werde ich es können?“

„Du mußt es können.“

Er hatte das Alles kurz, befehlend, in höhnischem, frivolem Tone gesprochen. Er wollte gehen.

„Noch Eins, Rudolph,“ hielt fast flehend der Alte ihn an.

„Nun?“

„Du sagst Deiner Schwester nichts.“

„Nein!“

„Dann geh mit Gott. Ich werde versuchen, was ich kann. Möge Gott mir beistehen.“ Der junge Mann hatte die Thür schon in der Hand. Er drehete sich wieder um.

„Höre, Alter,“ sagte er mit seinem vollen Hohne, „wenn es Dein Ernst ist, bei meinem Vater etwas für mich ausrichten zu wollen, so laß Gott und seinen Beistand, aus dem Spiele. Du weißt –“

Damit ging er.

„Ja, ich weiß,“ sah der alte Mann ihm nach, schwer seufzend, und trauriger und schmerzvoller, als vorhin dem Polizeibeamten. „Ja, ich weiß! Unglückliches Haus, aus dem sie Gott verbannen wollen! – Doch,“ rief er auf einmal auffahrend, „sie ja nicht, der arme glückliche, fröhliche Engel!“

Draußen vor der Thür war eine singende Stimme laut geworden. Es war eine frische, fröhliche Mädchenstimme, die ein fröhliches Liedchen vor sich hinträllerte. Man glaubte zugleich ihren leichten Schritt zu hören, der lustig und fröhlich nach der Melodie hüpfte.

Die Thür flog auf. Die fröhliche, hüpfende Gestalt stand da, Alles Lust, Alles Leben, lachend die blühenden Wangen, die rosigen Lippen, die weißen Zähne, die blauen Augen, das ganze, schlanke, prächtige Mädchen von siebzehn Jahren. Sie blieb auf der Schwelle stehen.

„Ist der Vater noch immer nicht zurück, alter Bernhard?“ fragte sie freundlich.

„Wie Du siehst,“ sagte der alte Mann, und seine Augen wollten dem schönen, freundlichen, lustigen Kinde freundlich zulächeln, und konnten es doch nicht vor Thränen, die heftig daraus hervorzustürzen drohten, und die er mit Gewalt zurückdrängen mußte.

„Das arme Kind,“ murmelte er für sich. „Es wäre ihr Tod, wenn sie es erführe.“

Das Mädchen sah sein Sträuben und Kämpfen und Murmeln.

„Was hast Du, alter Bernhard?“

„Nichts, nichts. Wer was willst Du so dringend bei dem Vater, Toni? Du fragst schon zweimal nach ihm.“

„Was ich bei ihm will? Höre, alter Bernhard, ich habe etwas auf dem Herzen. Ich habe eine Bitte an den Vater. Du mußt mir helfen.“

„Auch Dir?“

„Auch? Wem noch mehr?“

„Nichts, nichts. Sprich, was Du auf dem Herzen hast.“

„Höre“ –

Doch bevor wir das junge, fröhliche Mädchen ihre Bitte vorbringen lassen, müssen wir dem Leser erzählen, wer sie, wer der junge Mann und wer der alte Bernhard war.

Der junge Mann war der Sohn des Raths Rohner, das junge Mädchen die Tochter des Raths. Sie waren seine einzigen Kinder. Er führte seine Haushaltung mit ihnen und mit dem alten Bernhard. Seine Frau war schon vor zwölf Jahren gestorben, als seine Tochter Antonie erst ein Kind von fünf Jahren war.

Der alte Bernhard hieß mit vollem Namen Bernhard Naumann. Er war ein Schulfreund des Raths Rohner, er war aber armer Leute Kind, und hatte Schreiber werden sollen. So waren er und sein Freund Rohner, obschon die Beiden auf der Schule eng verbunden waren, früh auseinander gekommen. Der Rath war schon Rath und seit einigen Monaten Wittwer, als sie sich nach langer Trennung wiedertrafen.

Er machte eines Tages einen seiner gewöhnlichen Spaziergänge am Ufer des Flusses, der an der Stadt floß. Als er in eine einsame Gegend des Flusses kam, sah er einen Menschen, der unter verzweiflungsvollen Gebehrden Anstalten machte, sich in das Wasser zu stürzen.

„Ein Narr der allerersten Sorte,“ sagte der Rath.

Aber er eilte doch auf den Menschen zu, als dieser gerade seinen letzten Sprung machen wollte.

„He, Narr, was ist denn das?“

Der Mensch sah ihn verwundert an.

„Rohner! – Du? – Du hast mich gerettet!“

„Bernhard! Du bist der Narr?“

„Freund, wie soll ich Dir danken? Du bist das Werkzeug Gottes –“

Der Rath runzelte die Stirn.

„Laß das und erzähle.“

„Ich war in Verzweiflung und nicht mehr bei Sinnen. Da ging ich hierher an den Fluß, um mir das Leben zu nehmen. Ich mußte sterben, so meinte ich. Und nun auf einmal sehe ich das Thörichte, das Verbrecherische meines Vorhabens ein. Du bist ein rettender Engel, den Gott mir geschickt hat.“

„Bleib mir mit solchen Narrenspossen fort,“ sagte finsterer der Rath, „und erzähle vernünftig.“

Der Gerettete erzählte nun, wie ihn immer und immer das Unglück verfolgt habe; wie er nichts als ein armer, elender Schreiber geworden sei, der des Tages nur seine wenigen Groschen habe verdienen können; wie er dennoch ein armes Mädchen, das er geliebt, geheirathet habe; wie darauf Hunger und Kummer, Sorge und Noth erst recht bei ihm eingezogen sei; wie die Kinder ihm gestorben, und zuletzt auch die Frau dahingewelkt sei. Gestern habe er sie begraben, heute habe er ihr folgen wollen.

„Ein Narr bist Du,“ wiederholte ihm der Rath. „Aber komm mit mir. Hoffentlich wirst Du wieder ein ordentlicher Mensch.“

Der Schreiber Bernhard Naumann mußte mit ihm gehen und bei ihm in seinem Hause bleiben.

Er schrieb hier für ihn, und verwahrte ihm seine Kinder, und wurde zuletzt für Alle im Hause der alte Bernhard, der Jedem im Hause Alles war, für Jeden Alles that, und Jedem unentbehrlich war. Dabei war er der Einzige im Hause, der – betete. Er war seit seiner wunderbaren Rettung durch den Rath fromm geworden.

Der Rath behielt ihn dennoch bei sich. Manche Leute konnten es nicht begreifen. Aber es war doch so. Freilich sprach der alte Bernhard nie von seiner Frömmigkeit, und ein braver, gutmüthiger, wohlwollender Mann war er geblieben.

Doch noch Ein Herz in dem Hause des Raths Rohner konnte beten. Es machte aber auch kein Aufheben davon, und es betete unter Lachen und Singen und Springen, so recht kindlich fröhlich und selig. Das war Antonie, die Tochter des Raths, der Augapfel des alten Bernhard.

„Höre,“ sagte sie zu dem alten Manne, als er sie fragte, was sie auf dem Herzen habe. „Aber versprich mir, daß Du den Vater recht sehr für mich bitten willst.“

„So sage es doch nur erst.“

„Versprichst Du?“

„Gewiß, gewiß.“

„So höre. Wir sind zu morgen zum Balle bei dem Regierungspräsidenten eingeladen!“

„Das ist es? Zum Balle?“

„Das ist es. Zum Balle.“

Er fragte mit dem Gesichte eines Leichenbitters, der brave Mensch, dem in diesem Augenblicke das Herz so doppelt schwer war.

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