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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

meiner Beute zählte. Auf welche Weise waren diese mit dem Zuge fortgekommen? Es ließ sich zwar annehmen, daß sie, Kinder des Landes, auf dem verwüsteten Acker oder in der Nähe geboren seien, allein das Plateau, auf dessen Rücken wir uns befanden, war keineswegs einer der Brüteplätze der verderblichen Kerfe. Nach den hier gefangenen Heuschrecken sind die genauen Abbildungen[1] des Acridium tartaricum gezeichnet, welche wir den verehrten Lesern vorlegen; sie werden darnach finden, daß die meisten Bilder dieser Thiere in den illustirten Naturgeschichten nicht ganz richtig, namentlich die zarten Flügelzeichnungen verfehlt wiedergegeben sind. Hinsichtlich der naturhistorischen Beschreibung derselben verweisen wir übrigens auf jedes gute Buch über Entomologie.

Die Jagdbeute, in Ermangelung eines Besseren mit einigen Tropfen Morphiumtinctur, die wir zu ganz anderem Zwecke mit uns führten, getödtet, wurde den Umständen nach wohl verwahrt, und weiter ging die Reise, deren Interesse sich jetzt fast nur auf den einen Gegenstand concentrirte, der sich uns von nun an bei jedem Schritt aufdrängte. Bebaute Felder wurden häufiger, die Spuren der Verwüstungen sichtbarer. Durch die noch nicht abgebrachten Saaten liefen Weiber und Kinder, Sensenblätter, Sicheln, eiserne Töpfe in der einen Hand, gegen welche sie mit Steinen oder metallenem Geräth in der andern schlugen, um den bösen Feind zu verjagen; wo sie gingen, flogen die Heuschrecken, in der heißen, brennenden Sonne schon lebendig geworden, zu Hunderttausenden vor ihnen auf, und umschwirrten sie gleich einem aus dem Boden wachsenden grauen Nebel. Aber ach, es waren nur wenige Menschen in der meilenweiten Ebene zu erblicken, und von einem Feld aufgejagt, ließen sich die Schwärme auf dem anderen nieder. Da und dort sah man Männer, mit der Sense auf der Schulter, aus Leibeskräften rennen; es galt, dem Verderben zuvorzukommen, und durch eiliges Abmähen vom Getreide zu retten, was möglich war. So schnell die Postpferde in unverdrossenem Galopp dahinsprengten, sie wurden überholt von den kleinen Wagen der Bauern, vollgepfropft mit Menschen, daß sich die hölzernen Achsen bogen und die Naben rauchten, welche den bedrohten Aeckern zu Hülfe eilten. Glücklicherweise war die Hauptgetreideernte schon abgebracht und stand in Garben, Grünzeug baut man in den Steppen nicht viel, Futter gar nicht, Leinsaat greifen die Insecten nicht an, so war ihnen denn nur der Hirse verfallen, der noch grün stand, oder vielmehr nicht mehr stand, denn er war überall von der Erde verschwunden. Da er aber meistens zu eigenem Gebrauch gebaut wird, und eine Hauptspeise des Landvolkes liefert, so war der Verlust groß und traurig genug.

„Sie sind nicht gefährlich in diesem Jahr,“ sagte ein alter Bauer, den mein Gefährte unterwegs ansprach, „sie ruhen sich hier blos aus.“

Aber wenige Augenblicke darauf kam ein Reiter des Wegs daher gesprengt; es war der Intendant (Upravliajuschzii) eines großen Gutsbesitzers, des Herrn Nicolai von Engelhardt.

„Schlimme Botschaft,“ rief er meinem ihm bekannten Freund entgegen, „der Zug ist gestern bei uns gewesen, zwei Drittheile unseres Getreides, die noch auf dem Halme standen, sind verloren, was nicht gefressen, ist zerschrotet, niedergeknickt; ich suche Arbeiter, um zu bergen, was noch der Mühe lohnt.“

Immer höher, dunkler stieg die Wolke vor uns empor. Die Luft war erfüllt von heiserem Gekrächz und Geschrei; Tausende von Raubvögeln, Krähen und Raben schwebten über den Feldern oder zogen begierig dem finsteren Nebel entgegen. Das Schwirren rings um uns nahm in erschreckender Weise zu, blickte man aus dem Wagen hinaus, so erschien die ganze Atmosphäre mit Millionen Punkten getüpfelt, es flirrte vor den Augen, daß man sie unwillkürlich schließen mußte.

„Das ist erstaunlich,“ sagte ich, „jetzt sind wir doch mitten in den Heuschrecken?“

„Noch nicht,“ entgegnete mein Freund. „So lange wir noch den blauen Himmel über uns erblicken können, ist es nicht das Rechte, hat es keine Gefahr.“ – Ich lächelte ungläubig.

Der Weg machte eine Biegung und senkte sich thalwärts. Die Spitzen von Baumgruppen – ein seltener Anblick in der Steppe – wuchsen empor und goldig erglänzten aus der Tiefe die Wellen eines mäßigen Flusses, des Inguletz, d. i. kleiner Ingul, der sich unweit Cherson in den Dniepr ergießt. Eine seltsame Aufregung war in die Leute auf dem Bock gekommen, immer lebhafter wurden ihre Gebehrden. Dichter zog sich der graue Flor der Luft zusammen, ein unaufhörliches Anprallen an die des Staubes wegen geschlossenen Wagenfenster bewies, daß wir dem Gros der feindlichen Heere immer näher rückten. Plötzlich rollte der Wagen ziemlich steil bergab. Wie soll ich es nur beschreiben? Rechts erhob sich ein steiler Abhang, auf dessen Scheitel ein ärmliches Bauerngehöft; links wälzte der Fluß seine Wasser durch Dickichte von Binsen, Röhricht und Weiden; hart an seinem jähen Ufer, unbeschützt, führte die Straße hin nach der hölzernen Brücke. Da – „Wot zeleja roï sarani!“ schrie Ilia, „da ist der Heuschreckenschwarm!“ – in einem Augenblick wird es finster rings um uns, die im Galopp hinabstürmenden Tartarenpferde werden von Entsetzen erfaßt, schlagen aus, stämmen, bäumen sich – der Wagen schwankt – mit aller Macht reißt der Postillon an den Zügeln der Tschetwernia (des Viergespanns) – der Diener springt vom Bock und faßt das Handpferd – vor uns aber erhebt sich mit sinnbetäubendem, dumpfem Summen der ungeheure Zug der Heuschrecken, der hier in der Thalniederung zur Rast sich niedergelassen hatte. Und in Wahrheit, die Sonne verschwand vor den Myriaden, die da emporflatterten, es war, wie wenn ein grauer Brodem aus der Erde stiege und sich nach oben immer mehr und mehr verdichtete, gleich dem Kohlenqualm einer ungeheuren Dampfesse, bis eine schwarze Wand vor uns sich erhob, undurchdringbar jedem Strahl des Lichts. So dicht waren die Massen der Heuschrecken, daß bei dem beschleunigten Lauf des Wagens bei weitem nicht alle sich zu erheben vermochten, bis über die Felgen mahlten die Räder in dem lebendigen Gewimmel. Der Eindruck war ein unbeschreiblicher für mich, ich konnte mich des Grauens nicht erwehren, während mein Freund, welchem das Ereigniß kein neues war, verhältnißmäßig ruhig blieb. Ja, das war die gewaltige Naturerscheinung, von welcher Joel, Pethuels Sohn, der Prophet, singt:

„Ein finsterer Tag, ein dunkler Tag, ein wolkiger Tag, ein nebliger Tag, gleich wie sich die Morgenröthe ausbreitet über die Berge; nämlich ein großes und mächtiges Volk, desgleichen vorher nicht gewesen ist, und hinfort nicht sein wird zu ewigen Zeiten für und für (?). Vor ihm her gehet ein verzehrend Feuer und nach ihm eine brennende Flamme; das Land ist vor ihm wie ein Lustgarten, aber nach ihm wie eine wüste Einöde, und Niemand wird ihm entgehen. Sie sind gestaltet, wie Rosse, und rennen, wie die Reiter. Sie sprengen daher oben auf den Bergen, wie die Wagen rasseln, und wie eine Flamme im Stroh, wie ein mächtiges Volk, das zum Streit gerüstet ist. Die Völker werden sich vor ihm entsetzen, aller Angesichter sind so bleich wie die Töpfe. Vor ihm erzittert das Land und bebet der Himmel; Sonne und Mond werden finster, und die Sterne verhalten ihren Schein.“

Was kann jede andere Schilderung nach dieser noch sagen?

Dem Bemühen des Jämschtschik und des Kripasnoi-Sluga (Edelmannsdiener) war es gelungen, die scheuenden Steppenpferde zu bändigen, und den Wagen vor einem Sturz in den Fluß zu behüten; die ganze Scene war rascher vor sich gegangen, als sie erzählt werden kann. Nun konnte man doch mit einiger Beruhigung Beobachtungen anstellen. Schon weit in der Ferne gen Westen flog die ungeheure schwarze Wolke, aber allenthalben wimmelte es noch von Nachzüglern. Die Straße, der Hügelabhang, das Schilf, die Bäume, die Brücke, ja selbst das Wasser war mit ihnen überdeckt. Aus dem Röhricht hervor schossen Hunderte von weißstirnigen Wasserhühnern, Enten, darunter besonders kenntlich die hellgraue Spießente mit dem braunen Kopf, Lachmöven, über ihnen durchkreuzten zahllose Seeschwalben die Luft mit schrillem Schrei; von jenseits flatterten Falken, Bussarde, Sperber, Krähen und vor Allen ganze Flüge von Stahren herab auf die überreiche willkommene Beute, und ihr Heißhunger vergaß alle Scheu vor unserem Gefährt, wie vor den Bauersleuten auf der Höhe, welche mit Leibeskräften ihre klingenden Geräthe rührten. Aber was auch die Schaaren der gefiederten Freibeuter zu Wasser und zu Land vernichteten von den Ueberbleibseln des großen Zugs, es blieben immer noch Millionen übrig, deren dünne Schwärme aber freilich nichts mehr bedeuten wollten. Was ich früher von den Heuschreckenzügen gelesen, hatte ich, ehrlich gesagt, zum guten Theil für Uebertreibung gehalten, aber die Autopsie belehrte mich eines Anderen. Eine entsetzlichere Landplage, eine furchtbarere Geißel läßt sich kaum denken, als das unzählbare Heer dieser gefräßigen Kerbthiere.

(Schluß folgt.)
  1. Siehe nächste Nummer.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_014.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)