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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Doch der Stimme des Muttergefühls antwortete sogleich mein helleres Bewußtsein: „Darum, weil sein großes Herz alle Kinder liebt wie seine eigenen, darum geht er für die Armuth, für die ganze Menschheit in den Tod!“

„Seit jener Stunde hatte ich tausendmal den Schmerz um seinen Tod überstanden, und doch war das Herz noch nicht erstarrt; es hatte noch die Kraft, Schmerzen, unendliche zu erdulden, und sie sollten ihm nicht erspart bleiben.“ – –

Diese Auszüge aus den „Erinnerungsblättern“ gewähren uns Blicke in das Leben der Gattin, Mutter und edeln deutschen Frau, ohne uns ihr ganzes Leben zu erschließen. Dazu würde mehr Raum und Satz gehören, wozu wir vorläufig noch kein Manuscript liefern können. Auch wie sie nun im preußischen Lager als einzelne Frau umherirrte, abgewiesen, bedroht, zuweilen höflich vertröstet, und bitterer enttäuscht und zurückgestoßen, um den gefangenen Gatten nur einmal zu sehen, ihm das Leben zu retten, ihn dem blutenden Herzen und den verwais’ten Kindern wiederzugewinnen – das können wir nicht mehr schildern, nachdem sie es in den „Erinnerungsblättern“ selbst gethan. –

Er ward ihr und den vier lieben Kindern und einer neuen angestrengten Thätigkeit, freilich in einem fremden Lande, wieder gewonnen. Sie fingen vom November 1850 an, sich eine neue Welt der Wirksamkeit in London zu schaffen, kämpfend und ausdauernd mit einem Heroismus, wovon sich nur die eine Vorstellung machen können, die selbst erfahren haben, was es heißt, auf fremdem, auf Londoner Boden, dicken Nebeln, feindlichem Klima gegenüber, in fremder Sprache, unter ganz widerwärtigen socialen Verhältnissen mit sonniger Rheinnatur und wesentlich deutscher Wissenschaft und Kunst Boden unter den Füßen, Anerkennung und Erfolg zu gewinnen. Sie erkämpften sich eine verhältnißmäßig schöne neue Welt, aber freilich nur mit solchen Gaben, solcher tagtäglich erneuerten harten Arbeit. Die gebildetsten englischen Kreise und alle Schichten der Deutschen in London verdanken dem Wirken Kinkels und seiner Frau in dieser oder jener Weise manches Schöne und Edele. Sie haben dem deutschen Namen hier neue Ehre und Anerkennung erworben, besonders als Lehrende. Johanna Kinkel hat durch ihren Clavier- und Gesangsunterricht in London ein neues, wissenschaftliches System, einen edeln, reinen Styl des Vortrages begründet und verbreitet. Ihre „Acht Briefe über das Clavierspiel“ (1852 in Deutschland erschienen) sind ein classisches Meisterwerk. Dies erinnert uns an Johanna Kinkel als Schriftstellerin. In den „Erzählungen“ von ihm und ihr gemeinschaftlich (Cotta, 1851) sind „Lebenslauf eines Johannisfünkchens“, „Der Musikant,“ „Aus dem Tagebuche eines Componisten“, „Ein Reiseabenteuer“, „Musikalische Orthodoxie“ und auch die „Geschichte eines ehrlichen Jungen“ von ihr. Welch ein derber, sonniger, kecker Humor aus der Feder einer Frau! Man studire diesen gedrungenen, leichten, klaren Styl, wie ihn nie eine Frau und sonst nur Lessing schrieb, aber weit entfernt von dieser Keckheit und Frische aus dem Volksleben.

Ihre Oper: „die Assassinen“, 1847 vollendet und 1848 in Instrumentirung begonnen, wurde durch den März und ihre Leidensgeschichte unterbrochen. Sie schrieb in London Manches für englische und deutsche Blätter, und hinterläßt drei größere, noch ungedruckte Werke: eine große humoristische Cantate, bereits von ihrer „Kindergesangsclasse“ aufgeführt, ein musikalisch-kritisches Werk und einen größeren Roman.

Ihr eifrig gesuchter Unterricht im Clavierspiel und Gesang, ihre heitere, belebende Gesellschaft ward oft getrübt und unterbrochen durch die Wirkungen des Klima’s, Husten, Lähmungen, Herzcongestionen, besonders während der entsetzlichsten Contraste zu den heiteren sonnigen Tagen am Rhein, während der Londoner November-Nebel. Im vorigen Sommer saß sie dem edelen, deutschen Künstler Graß zu ihrem Relief-Portrait, und mahnte ihn während eines Spazierganges, sich zu beeilen, da ihr der kommende Herbst, wie gewöhnlich, Gesundheit, Gesicht und Geist trübe. Er nahm ihr diesmal mehr. Am 15. November 2 ¼ Uhr, im obersten Zimmer von einer Herzbeklemmung geängstigt, eilte sie an’s Fenster und stürzte hinab. Der Londoner Nebel war an diesem Tage besonders dick, beängstigend und beizend. So wurde die edele Frau, durch die reichsten Gaben und Verdienste in Deutschland und England ausgezeichnet und verehrt, die deutsche Frau, Gattin und Mutter, an welcher sich eine der erschütterndsten Tragödien dieses Jahrhunderts entwickelte und vollendete, ein Opfer der Fremde, um mit neuem unsterblichem Leben in die Herzen des deutschen Volkes und seiner Geschichte heimzukehren. –

Ihre irdische Hülle wurde mit einem feierlichen, großen Leichenzuge, bestehend aus deutschen und englischen Literaten, Künstlern, Kaufleuten u. s. w., besonders vielen ihrer Schülerinnen, weit hinaus in den Süden von London getragen. Die zarte, liebe, dreizehnjährige Johanna vertrat, als ich wieder in das Haus des verwittweten Mannes trat, die Stelle ihrer Mutter. Der starke, beinahe heroische Mann legte, als er mit mir das Haus verließ, seine Hand auf das zarte Kindesköpfchen, und empfahl ihr inzwischen mit rührender Zuversicht die Sorge für das Hauswesen. Englische Damen hatten ihr eben ein großes Bouquet der reizendsten Blumen geschickt, die sie in Vasen ordnete und die schöner aussahen, als je Blumen. Der November und das Haus waren so trüb und traurig. Und die Blumen und das frische Kindesgesicht und die Zuversicht und Leichtigkeit, womit sie sich in ihre neuen Pflichten zu finden wußte, sahen so lieblich und lebensfrühlingsartig aus, Himmel und Erde mögen sie segnen. Der Schlummernden aber draußen, weit von dem unheilvollen Nebel und Geräusche Londons, rufen wir mit Freiligrath aus seinem ihr nachgesungenen Schmerze zu:

     – – – – –
„Ein Schlachtfeld auch ist das Exil, –
Auf dem bist Du gefallen.
     – – – – –
     – – – – –
Fahrwohl! und daß an muth’gem Klang
Es Deinem Grab nicht fehle,
So überschütt’ es mit Gesang
Die früh’ste Lerchenkehle!
Und Meerhauch, der dem Freien frommt,
Soll flüsternd es umspielen,
Und Jedem, der hier pilgern kommt,
Das heiße Auge kühlen.“




Wanderungen im südlichen Rußland.
Von Dr. Wilhelm Hamm.
1. Mitten in den Heuschrecken.

Es war eine wunderschöne Sternennacht, hoch stand am dunkelblauen Himmel der Mond und sein Licht zitterte auf den leise bewegten Wellen des Bazaluk, der sich durch die Steppe den Pfad bahnt zur Vereinigung mit dem majestätischen Dniepr. Wir standen in der säulengetragenen Veranda des stattlichen Herrenhauses von Gruschewko; schöne Tage lagen hinter, ein schmerzlicher Abschied vor uns. Inmitten der Steppe hatten wir eine Oase gefunden, welche nicht der Natur, sondern dem Geschmack und der Kunst des Menschen ihre Entstehung verdankte; die Laute der heimischen Sprache aus dem Munde holder Frauen und liebenswürdiger Kinder, Lieder, welche am Clavier erklangen, hatten das Bild der langentbehrten Heimath heraufgezaubert. Aber das Viergespann, welches der gütige Gastfreund uns bis zur nächsten Station, Nova Woronzowka, zur Verfügung gestellt, scharrte ungeduldig den schwarzen Grund und schüttelte die langen, verworrenen Mähnen; noch ein Dankwort, ein Händedruck ringsum – Pascholl, Pascholl! und dahin flogen wir auf dem trockenen, breiten Heerweg der Steppe. Das klagende Geheul von Wölfen, welchen man die Jungen genommen hatte, um sie im Stalle zur Winterlust der Hetze aufzuziehen, begleitete unser Gefährt eine Zeit lang, mit ihm verstummte der letzte Laut der Steppe.

Wir kehrten von einem Ausfluge in die Urwald-Niederungen des Dniepr zurück. Der treffliche Wiener Reisewagen des Freundes, der mich begleitete, war wohl versehen mit Allem, was auf einer weiten Tour wünschenswerth sein kann, und wir zogen die Fahrt in der frischen Nachtluft der beim Sonnenbrande des Tages vor. Die nur wenige Werst entfernte Station war bald erreicht, der Starosta warf beim trüben Licht einer schmutzigen Laterne einen Blick in den dargereichten Passirschein, rasch waren die Pferde zur Stelle, das Glöckchen, das wohlbekannte Signal der Post, ward an

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_011.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2022)