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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

befördert werden, liegen am Ufer aufgespeichert und zeigen, daß die Stadt auch als Handelsplatz noch immer ihre frühere Bedeutung nicht gänzlich verloren hat, obwohl den wichtigsten Handelszweig gegenwärtig nur die Fische bilden, welche in der Wolga und dem caspischen Meere gefangen und von hier aus, gesalzen oder getrocknet, nach allen Seiten versandt werden. Der Handel ist sehr einträglich, und wird ungeachtet des pestilenzialischen Gestankes, welcher in der Nähe der Niederlagen herrscht, in denen ich die Fische zu Tausenden aufgespeichert liegen sah, von vielen Kaufleuten betrieben, die zum Theil mit Nichts angefangen und im Laufe weniger Jahre ein bedeutendes Vermögen erworben haben. Früher ging ein Handelsweg zwischen Europa und Indien über Astrachan, und indische Kaufleute hatten hier ihre Factoreien; die früher ziemlich bedeutende Colonie ist aber jetzt wegen Mangel an Frauen bis auf einige Greise ausgestorben.

Astrachan ist im Vergleich zu europäischen Städten keineswegs schön gebaut, besitzt aber manche stattliche Gebäude und mehrere große freie Plätze, unter denen sich namentlich das Square vor dem Hause des Gouverneurs auszeichnet, wo an Festtagen die Capelle des Stabes der caspischen Flotte spielt, und an dessen Unterhaltung jährlich eine Summe von 300 Rubel Silber verwandt wird. Der Totaleindruck ist der einer orientalischen Stadt; die Straßen sind nicht gepflastert, was bei dem feinen Sande, aus dem der Boden besteht, nicht gut möglich ist. Pflastersteine würden überdies nur mit bedeutenden Kosten bis hierher gebracht werden können. Nur an den Häusern läuft ein schmales Trottoir von Ziegeln hin, die mit der schmalen Seite eingelegt sind und ein hübsch gemustertes Mosaik bilden. Im Frühjahr und Herbst, wenn starker Wind wehte, kam es nicht selten vor, daß ich des Morgens die Hausthür mit Sand verweht fand. Die Häuser sind im Allgemeinen niedrig, ein oder zwei Stockwerk hoch, mit flachen Dächern, denen man, um die Einwirkung der Sonnenstrahlen zu mildern, eine Decke von Kalk gibt, und umschließen meist einen viereckigen geräumigen Hof, um welchen an allen vier Seiten Gallerieen laufen, auf denen die Bewohner der großen Hitze wegen einen großen Theil des Tages und im Sommer selbst die Nacht zubringen.

Mitten durch die Stadt führt ein Canal, der die beiden Arme der Wolga verbindet, und der für die Stadt sehr wichtig ist, weil er die vom Flusse entfernten Stadttheile mit Wasser versorgt, und die kleinen Canäle und Gräben aufnimmt, welche das nach den jährlichen Ueberschwemmungen zurückbleibende Wasser ableiten. Der Quai ist im Sommer und Winter ein beliebter Spaziergang, und wenn der Canal zugefroren ist, werden hier Schlittenpartieen veranstaltet, und die liebe armenische und tatarische Jugend rauft und bombardirt sich hier mit Schneebällen, bis irgend ein russischer Polizeibeamter als Friedensstifter zwischen die Parteien tritt. Die Erbauung des Canals hat mehrere Millionen gekostet; er wurde von einem Griechen angelegt, der, wie man mir erzählt, durch Seeräuberei auf dem caspischen Meere ein unermeßliches Vermögen erworben hatte.

Vielleicht in keiner Stadt der Erde finden sich so viele und verschiedene Nationalitäten beisammen, wie in Astrachan. Russen, Tataren, Armenier, Kalmüken, Perser, Indier, Truchmenen, Bucharen, Chiwinzer, Georgier, Lesghier, Griechen und Repräsentanten aller europäischen Nationen treiben in buntem Gewühl durcheinander, und namentlich vor und nach der großen Messe in Nischnei-Nowgorod bieten die Straßen und Landungsplätze das Schauspiel einer großartigen Maskerade. Den wohlhabendsten Theil der Bevölkerung bilden die Armenier, in deren Händen sich fast ausschließlich der Handel und Geldwechsel befindet. Sie entwickeln in ihrer Kleidung eine große Pracht, namentlich die Frauen, halten prächtige Equipagen, geben aber ihren Pferden wenig zu fressen, die daher immer mager aussehen. In ihrer übrigen Lebensweise sind sie einfach, mäßig und nüchtern und nur Süßigkeiten sehr zugethan. Zu ihrer Bedienung wählen die Reicheren gewöhnlich tatarische Knaben, die sie Malai nennen, und deren Unterhalt ihnen nicht viel kosten darf. An eine ordentliche Kleidung ist nicht zu denken, und man sieht nicht selten neben einer reichgekleideten armenischen Dame anstatt des Livreebedienten einen schmutzigen, mit Fetzen behangenen Tatarenknaben einhertraben. Die Armenierinnen sind im Allgemeinen schön, haben aber meist etwas markirte Züge; sie sind sehr häuslich und in der Regel bessere Hausfrauen, als die Russinnen.

Im Sommer strömt des Sonntags die armenische Bevölkerung zur Stadt hinaus in’s Freie, selbst bei der drückendsten Hitze, die nicht selten bis 29° R. im Schatten steigt. In Gesellschaften zu zwanzig bis dreißig Personen suchen sie dann ein schattiges Plätzchen in einem Weingarten aus, hier werden Teppiche auf den Boden gebreitet, auf denen sie sich niederlassen, ihren Tschigir (Rothwein) trinken und Culi Kabaf (gehacktes und am Spieße gebratenes Schöpsenfleisch) verzehren. Wenn sich die Hitze gegen Abend etwas gelegt, und der Wein die Gemüther aufgeregt hat, erscheint gewöhnlich ein kleines Orchester, bei dem ein Tambourin nie fehlen darf, und beginnt eine französische Quadrille aufzuspielen, bei welcher Töpfe und Kessel die Stelle der Trommeln und Pauken vertreten. Die Jugend tanzt und am Abend kehrt die Gesellschaft singend und lärmend in kleinen einspännigen Fuhrwerken in die Stadt zurück. Die jungen Armenierinnen haben die Nationaltracht abgelegt, und kleiden sich nach der französischen Mode, wählen aber gewöhnlich möglichst grelle Farben.

Die eigentlich arbeitende Classe sind in Astrachan die Tataren, welche den größten Theil der Bevölkerung bilden. Sie sind ein kräftiges, arbeitsames, äußerst gutmüthiges Volk, und zeichnen sich namentlich durch ihre Bescheidenheit aus. Es ist unbegreiflich, welche Lasten diese Menschen tragen, und wie sie so schwere Arbeit verrichten können, ohne den Tag über einen Bissen zu essen, wie an den mohammedanischen Festen geschieht. Die Gärtner, Gemüse- und Fruchthändler, Bäcker u. s. w. sind meist Tataren, und am Morgen durchziehen sie mit kleinen zweirädrigen Karren die Stadt, ihre Waare ausrufend. Das tatarische Brot, Tschurek genannt (ein Kuchen aus Weizenmehl mit Mohn bestreut), ist sehr beliebt, und wird auch von den hier wohnenden Europäern gern genossen. Nach orientalischer Sitte erscheinen die tatarischen Frauen nur verschleiert auf den Straßen, die niedern Stände haben diesen Gebrauch schon ziemlich abgelegt, dahingegen die Frauen der Perser nie anders erscheinen, als in weiße Schleier gehüllt, die ihnen ungefähr das Ansehen geben, wie wir uns gewöhnlich ein Gespenst vorstellen. Die Frauen der wohlhabenden Tataren, die bekanntlich nach mohammedanischem Gesetz mehrere Frauen haben dürfen, erscheinen oft zwei in einem Kleide zusammen auf der Straße, so daß die rechts gehende nur den rechten Aermel hat, die andere nur den linken. Den Grund zu dieser Sitte habe ich nie mit Bestimmtheit erfahren können; vielleicht geschieht es, um den kostbaren Stoff, aus dem der Mantel besteht, zu sparen, vielleicht auch aus Eifersucht von Seiten des Mannes, der eine Frau nicht allein und ohne Aufsicht auf der Straße lassen will.

Die in Astrachan lebenden Perser sind meist Kaufleute und fast alle reich. Sie treiben Haudel en gros und en detail mit persischen und indischen Waaren, namentlich mit seidenen Stoffen. Sobald sich ein Perser in Astrachan Vermögen erworben hat, wird er russischer Unterthan, weil er sein Besitzthum in Rußland für sicherer hält, als in Persien, denn die, welche nach ihrer Heimath zurückkehren, müssen ihre erworbenen Reichthümer in der Regel zum größten Theil an die Statthalter abgeben. Die Perser sind meist schön gewachsene Leute, und haben ein sehr ernstes und gemessenes Wesen, desto komischer aber ist es anzusehen, wenn diese stattlichen langbärtigen Gestalten ihre Einkäufe vom Markte selbst nach Hause tragen, und etwa mit einem Paar Hühner unter dem Arme einherstolziren, die sie auch mit eigener Hand schlachten und kochen, denn die Frau hat selbst in der Wirthschaft kein Wort mitzusprechen.

Einen eigenthümlichen Eindruck machen die Kalmüken; kurze, gedrungene Gestalten mit krummen Beinen, stark hervortretenden Backenknochen, schief geschlitzten Augen und struppigem Haar, die in langen Zügen mit ihren Kameelen aus den Steppen hereinkommen. Sie sind die Ueberreste der vier Horden, in welche dieses Volk nach dem Sturze der mongolisch-tatarischen Monarchie zerfiel, und die zum größten Theil wieder nach Osten in ihre ursprüngliche Heimath gewandert sind. Der kleine Theil, welcher sich freiwillig der russischen Botmäßigkeit unterwarf, steht unter eigenen Fürsten, die der russischen Krone einen kleinen Tribut bezahlen. Von Charakter sind sie gutmüthig, aber furchtsam und etwas starrköpfig, bei schwerer Arbeit ungemein ausdauernd und außerordentlich gelehrig, weshalb die in Astrachan lebenden deutschen Handwerker sehr gern Kalmükenknaben als Lehrlinge annehmen. Ihre Kleidung ist morgenländisch und insbesondere die Kopfbedeckung ganz chinesisch. Sie tragen schwarze oder farbige

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_642.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2022)