Seite:Die Gartenlaube (1857) 579.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Kräfte mit einheitlichem, unbeschranktem Willen lenkt! Seit der Ruf in den Vereinigten Staaten: Amerika nur für die Amerikaner! erklungen ist, wird Asien um so mehr das Object der europäischen Politik, und Frankreich sieht sich dort um, die Ausgangspunkte für großartige Unternehmungen zu wählen. Seine Mitbewerbung in diesem Welttheile könnte für Rußland leicht gefährlicher werden, als die Englands, welche jetzt so tief erschüttert worden ist.

Man kann der russischen Politik einen großen Scharfblick, der schon bei den ersten Anfängen der Begebenheiten die Entwickelung der Folgen durchdringt, nicht absprechen. Welche Befriedigung auch dem offen zur Schau getragenen Hasse gegen England die schweren Unfälle dieses Reichs gewährt haben mögen, so wünscht man in Petersburg doch nicht, daß diese Verlegenheit zur Erhöhung des ruhm- und thatendurstigen französischen Imperialismus dienen soll. Nicht nur hat sich die Empfindlichkeit gegen England gemildert, es ist auch die Nothwendigkeit einer Aussöhnung mit Oesterreich erkannt und schon seit den letzten Tagen des Augusts, an einer persönlichen Zusammenkunft der beiden Kaiser gearbeitet worden. Diesen Absichten haben Preußen und andere deutsche Regierungen ihre kräftige Unterstützung geliehen, sobald die Sprache Frankreichs einen beleidigenden Uebermuth verrieth. Die Erinnerungen an Tilsit, die verletzenden Aeußerungen über die edle Fürstin, deren Andenken in allen deutschen Herzen ein Ehrentempel errichtet worden ist, hat nicht nur in Preußen, nein in ganz Deutschland die Gefühle widerwärtig berührt. Mit schnöder Verachtung Deutschlands wurde in Paris verkündet, daß die Monarchen von Frankreich und Rußland auf deutschem Boden zusammentreffen würden, um sich über die Zukunft Europas zu verständigen. Der kleine deutsche Michel solle nur artig und still sitzen, er werde nicht die Ruthe bekommen, vielmehr solle ihm etwas Zuckerwerk in die Taschen gesteckt werden. Während man eine so freche Sprache führte, hatte man in Paris noch keine Ahnung davon, daß der Zusammenkunft in Stuttgart eine zweite in Weimar nachfolgen würde, welche der ersteren erbarmungslos alle Spitzen abbricht und sie zu einem bloßen Gepränge herabsetzt. Wie Thiers 1840 ganz gegen seinen Willen einen patriotischen Aufschwung in Deutschland hervorrief, so hat uns jetzt der Kaiser der Franzosen zu der lange und schmerzlich vermißten einträchtigen Gesinnung und zu einer allgemeinen Manifestation des Willens verholfen, die Suprematie Frankreichs nicht zu dulden, ohne darum die Rußlands herzustellen. Letztere Macht ist im Augenblick weniger zu fürchten. Die große Lehre hat man in Petersburg aus dem letzten Kriege mindestens gezogen: daß Rußland, bevor es die schlecht begründeten und nur auf Verblendung und einer energischen Persönlichkeit beruhenden Ansprüche thatsächlich behaupten kann, in der Civilisation und der Erschließung der Quellen des innern Wohlstandes noch beträchtliche Fortschritte machen müsse. Darin besteht die Hauptaufgabe der Regierung des zweiten Alexanders und sichtlich ist er entschlossen, sich der Lösung derselben zu widmen. Europa mindestens ist vor einer russischen Aggression zur Zeit sicher und hat sich vornehmlich vor einer französischen zu bewahren. Frankreich einzudämmen ist Deutschlands natürlicher Beruf und glücklicherweise sind wir uns desselben wieder einmal allseitig bewußt geworden. Wir haben nicht allein unsere Grenze zu hüten, sondern auch die beabsichtigten Einmischungen in unsere Angelegenheiten, namentlich bei unserem Streit mit Dänemark wegen der deutschen Herzogthümer dieses Staates, abzuweisen, und wir sind entschlossen, dies zu thun.

Diese politische Digression war nöthig, um die Vorgänge an der untern Donau und in Constantinopel, so wie die Wandlungen der orientalischen Politik zu verstehen. Revenons maintenant à nos moutons. Es läßt sich nicht bestreiten, daß der Kaimakam der Moldau auf den Ausfall der ersten Divanswahlen einen beträchtlichen Einfluß geübt hat. Da es ihm jedoch an materiellen Mitteln, dies zu bewirken, fast gänzlich fehlte; da er vielmehr eine entgegengesetzte Agitation zu bekämpfen hatte und den feindseligen Blicken der Bevollmächtigten von vier Staaten dabei beständig ausgesetzt war, so beweist sein Erfolg nur, daß die Wähler eben keine eigene Ueberzeugung hatten. Diese Wahlen sind bekanntlich annullirt und unter dem überwiegenden Einflusse von Frankreich und Rußland andere zu Stande gebracht worden, welche das gerade entgegengesetzte Ergebniß lieferten, so daß gegenwärtig von 96 Abgeordneten zum moldauischen Divan 80 für die Union der Fürstenthümer zu stimmen bereit sind. Darin ist aber eben so wenig die unabhängige Stimme des Landes zu erblicken. Die jetzige Majorität ist nicht minder eine gemachte, als die frühere, und damit nichts weiter bewiesen, als daß die öffentliche Meinung in der Moldau einem Strumpfe gleicht, den man eben so gut auf den rechten, wie auf den linken Fuß anziehen kann. Es fehlt dem Lande an politischer Bildung und Einsicht, an Ueberzeugung und selbstbewußter Kraft. Die Zukunft eines solchen Volkes voraus bestimmen zu wollen, ist unmöglich. Frankreich glaubte nach diesem Ausfall der Wahlen am Ziel seiner Wünsche zu sein, zumal England seinen Einspruch gegen die Union demüthig aufgibt. Dieser Ausgang der Sache ist aber plötzlich wieder sehr unsicher geworden. Die Pforte weigert sich, diese Frage in den Divans überhaupt discutiren zu lassen; sehr beachtenswerthe Stimmen aus Preußen versichern, daß eine Umgestaltung der Politik in dieser Frage eingetreten und an die Verwirklichung der Union gar nicht mehr zu denken sei, und sogar Rußland scheint nicht mehr darauf bestehen zu wollen – was freilich zu erwarten bleibt. Alles, was zur dauernden Wohlfahrt dieser Länder erforderlich ist, soll ihnen zugestanden werden, die Personalunion unter einem ausländischen Fürsten und die Lösung des Bandes, welches diese Länder mit der Pforte verknüpft, soll dagegen ausgeschlossen bleiben. Das Berliner Witzblatt, Kladderadatsch, traf den Nagel auf den Kopf, wenn es zu der Nachricht, die Wahlen in der Moldau seien im Sinne der Union ausgefallen, die Bemerkung machte: Sinn läge in dieser Sache gar nicht und ganz Deutschland sei in der Meinung von jeher einig gewesen, daß die Union nur Unsinn sei.

Um zu begreifen, wie so gerade entgegengesetzte Resultate aus dem Wahlact in der Moldau binnen der kürzesten Frist hervorgehen konnten, ist es nöthig, die Elemente genau zu betrachten, aus denen die Wähler bestehen. Am maßgebendsten hierbei sind unstreitig die größeren Grundbesitzer, in deren Händen nicht blos der Boden und dessen Grundholde, sondern auch die bürgerliche Verwaltung und die Rechtspflege liegen, und die Skizze, welche der österreichische Officier, von dessen persönlichen Wahrnehmungen in diesen Ländern wir schon früher einige Mittheilungen brachten, darüber liefert, gewährt ein so naturgetreues Bild, daß wir uns nicht enthalten können, dasselbe unseren Lesern vorzuführen.

Es mag eine Folge des langen Zusammenhanges mit der Pforte sein, daß in den Donaufürstenthümern so wenig als in der Türkei ein Erbadel besteht. Bojar (spr. Bojär), von dem slavischen Worte boj, Kampf, abgeleitet) war wchl in alten Zeiten die Bezeichnung des Kriegerstandes, doch knüpft sich dieser Begriff schon lange nicht mehr an das Wort, das jetzt vielmehr so viel als Herr oder Edelherr bedeutet. Die Bojarenwürde ist, wie ehemals bei den Franken und Angelsachsen, ein Dienstadel, der nur durch den Eintritt in den Staatsdienst – sei es im Militär, der Verwaltung oder Rechtspflege – gewonnen werden kann. Diesen lebenslänglichen Adel kann mithin Jeder erwerben, der Talente, Vermögen oder Gunst besitzt, doch sind die Wege dazu für den größeren Grundbesitzer am meisten gebahnt, und der reiche, in höheren Würden stehende Vater weiß schon seinen Söhnen und Verwandten die Thore zum Tempel der Ehre zu öffnen, so daß die Bojarenwürde in den Familien der großen Grundbesitzer, wenn nicht erblich, doch mindestens continuirlich ist. Obgleich also selbst der Sohn eines Fürsten nur als ein Bürgerlicher geboren wird, so ist doch schon bei seiner Wiege darauf zu rechnen, daß er nicht als ein solcher sterben werde. Die Rangstufen des Adels sind den Dienstwürden entsprechend, müssen aber noch besonders nach einer hohen Taxe erkauft werden. Die unterste Stufe betritt der Concipist, höher steht der Epistat (Vorsteher), dem der Serdar (Lieutenantsrang), Pacharnik (Hauptmannsrang), Aga (Majorsrang), Vornik (Oberstenrang), Vornikmare d. h. Großvornik (Generalsrang) aufsteigend folgt. Die höchste Spitze bildet der Logofetmare, ein Titel, den nur Minister oder mit ihnen in gleichem Range stehende Staatsmänner erhalten. Aus dem griechischen Worte Logothet (Rechnungsführer im byzantinischen Reiche, Kanzler) hat nämlich die walachische Zunge das Theta in F verschliffen.

Wer die Bojarenwürde erlangt hat, gehört der privilegirten Classe an, in deren Händen Macht, Einfluß, Reichthum und Grundbesitz ruhen. Die ganze ländliche Bevölkerung war ihr leibeigen,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_579.jpg&oldid=- (Version vom 25.10.2022)