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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

gesehen, wo die müden Wanderer im Schatten der breitlaubigen Bäume ausruhen oder bei hereinbrechender Nacht sich lagern, mitten im heitern Gespräch oder fröhlichen Gesang wird das Zeichen gegeben – und im nächsten Augenblicke schon liegen die Opfer der Eine mit dem Kopfe auf den Füßen des Andern, in der vorher bereiteten Grube. Mit einem spitzen Pfahle wird ihnen der Leib aufgestoßen, um jedes verrätherische Aufblähen der Erde zu verhüten; die Lughas füllen das Grab mit Sand, jede Spur desselben sorgsam verwischend, und die Rotte zerstreut sich, um später an einem verabredeten fernern Ort wieder zusammenzutreffen, wo sie der Bhawani ihre Dankgebete darbringen und den Raub theilen. Bleibt ihnen längere Zeit hindurch das Glück ungünstig, so zürnt die Göttin, und sie versöhnen dieselbe durch ein Opfer aus ihrer eigenen Mitte, das sich entweder selbst hierzu erbietet oder durch das Loos erwählt wird, sich aber bei der großen Lebensverachtung der Hindus nie gegen dies Schicksal sträubt. Nur bei diesen, selten nöthig erscheinenden Opfern, die an geweihten Stellen dargebracht werden, bedienen sich die Thugs des Schwertes. Nicht vergessen dürfen wir, daß es auch weibliche Thugs gibt, die theils selbst als Buthotes das Würgeramt übernehmen und zu diesem Zwecke durch Erweckung des Mitleids oder auf irgend eine andere Weise sich in das Vertrauen von Frauen einzuschleichen suchen, oder auch, wenn sie noch jung und schön sind, den männlichen Reisenden gegenüber als Suhthas die Rolle der Delilah spielen, während ihre Genossen, in der Nähe verborgen, ihres Zeichens zum Hervorbrechen harren,

Die politische Lage, in der sich Indien seit undenklichen Zeiten befunden, zerstückelt, wie es war, in kleine unabhängige und eifersüchtige Staaten, sowie besonders auch die Sitten und Gewohnheiten der Eingebornen leisteten der Ausbreitung wie der Sicherheit der Thugs allen Vorschub. Die wenigen großen Landstraßen und öffentlichen Transportmittel, welche Indien gegenwärtig besitzt, sind Werke der Engländer aus ganz neuer Zeit, und jetzt noch bestehen die meisten Communicationswege aus Pfaden, wie sie die Wanderer selbst durch Wald, Wüste und Gebirg gezogen haben. Der eingeborne Fußreisende läßt – mit Ausnahme etwa des Ladens, wo er den Reis für seine bescheidene Mahlzeit kauft – durchaus keine Spur hinter sich zurück, denn außer in den Städten, wo er ein Karavanserai aufsucht, bringt er auch die Nächte im Freien zu, und es ist daher nach seinem allenfallsigen Verschwinden ganz unmöglich zu entdecken, bis wannen er gekommen sein mag. Allein der arme Ryot ist meist eben so sicher vor den Thugs, als der mit großem Gefolge reisende Raja, denn sie versparen die ganzen Schätze ihrer Verstellungskunst und abgefeimtesten List mit besonderer Vorliebe auf die Träger, welche je nach den Bedürfnissen des Handels Diamanten, edle Metalle und feine Stoffe von einem Ende Indiens nach dem andern transportiren. Manche Häupter der Secte nehmen überdies eine sehr geachtete Stellung ein, die jeden Verdacht einer Betheiligung an Thaten von ihnen entfernt, deren Gewinn sie theilen. So stand – um nur ein Beispiel zu geben – an der Spitze einer Thugbande, welche vor etwa dreißig Jahren sich den District von Hingoly zum Felde ersehen, einer der reichsten Kaufleute des Landes, Namens Huori-Sing. Dieser bekam heimlich Nachricht, daß ein anderer Kaufmann des Districts eine bedeutende Auswahl seidener und wollener Stoffe von Bombay zurückbringen werde, und wirkte sich nun bei der Zollbehörde einen Erlaubnißschein zur Einführung eben dieser Waaren aus, deren Verzeichniß er genau anzugeben wußte. Mit diesem Documente versehen, ging er, von seinen Leuten gefolgt, dem Transport entgegen, tödtete den Eigenthümer wie seine Diener, und führte dann unter Autorisation des Zollscheines die geraubten Waaren als seine eigenen über die Grenze.

Was indessen noch weit mehr Staunen erwecken muß, als das ausgebreitete Zerstörungssystem, welches die Thugs wie ein Netz über das ganze ungeheuere Land gezogen haben, ist die allen früheren Regierungen zur Schande und Verurtheilung gereichende Thatsache, daß ihre Geschichtsurkunden des Thuggismus beinahe gar nicht erwähnen. Der erste Regent in Indien, der entschieden gegen die Thugs auftrat, war Akbar. Nach ihm überlieferten auch einige eingeborne Fürsten die Sectirer der Bhawani dem Tode, ohne sie jedoch entfernt so nachdrücklich und systematisch zu verfolgen, wie es zur Ausrottung einer so gewaltigen Verbindung nöthig gewesen wäre. Nur wer an Ort und Stelle selbst das undurchdringliche Geheimniß kennen gelernt hat, welches alle Details der innern socialen Organisation der Eingebornen umhüllt, wird begreiflich finden, wie es zugehen konnte, daß bereits fünfzig Jahre ununterbrochener Siege und Eroberungen die englische Herrschaft in Indien ausgebreitet hatten, ehe die Unthaten der Thugs zum ersten Male die Aufmerksamkeit der Regierung erweckten.

Um diese Zeit nämlich verschwanden mehrere eingeborne Soldaten, die sich mit ihren Ersparnissen auf Urlaub in ihre Heimath begeben hatten, und die angestellten Nachforschungen enthüllten endlich die Existenz dieser Mördersecte, ohne jedoch die ganze Ausdehnung des Uebels auch nur entfernt ahnen zu lassen, so daß während der ersten zwanzig Jahre nach ihrer Entdeckung die Thugs noch immer nicht Gegenstand einer speciellen Verfolgung waren. Mittlerweile fielen aber doch immer mehr dieser Anhänger der Bhawani in die Hände der englischen Behörden, und einige unter ihnen erkauften sich durch Geständnisse ihrer eignen Unthaten und Denunciation ihrer Verbündeten das Leben. In die erste Reihe dieser Letzteren gehört der Häuptling Feringhea, dessen Name in den Annalen des Verbrechens unsterblich zu sein verdient. Nachdem er an 719 Morden theilgenommen, sagte er mit einem von Bedauern getrübten Stolz zu dem englischen Richter: „Ah, Sahib, wenn ich nur nicht zwölf Jahre im Gefängniß verloren hätte, so würde ich unter dem Schutze der Bhawani wohl das Tausend voll gemacht haben!“

Diese ungeheuerlichen Geständnisse waren frei von aller Prahlerei, denn die unläugbarsten Thatsachen erwiesen ihre Wahrhaftigkeit. Wie von einer geheimnißvollen Macht genöthigt, öffnete sich unter den Schritten der geständigen Thugs die Erde, um die ihr anvertrauten Leichname auszuspeien. In allen Theilen Indiens, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten grub man nach den Angaben der Gefangenen die mit menschlichen Gebeinen angefüllten Bheels auf, sprechende Zeugen für die Missethaten und die Macht der Anhänger der Bhawani. Lord Bentink, der damals an der Spitze der indischen Regierung stand, erkannte schnell, daß die Wachsamkeit der gewöhnlichen Polizei der Ausrottung eines so weit verbreiteten und tief wurzelnden Uebels durchaus nicht gewachsen sei. Er errichtete daher eine Specialbehörde, aus intelligenten und thätigen Officieren zusammengesetzt, deren alleinige Aufgabe es sein sollte, die mörderische Secte ohne Rast und Schonung durch das ganze indische Gebiet zu verfolgen. Die vielfachen Verzweigungen des Bundes und die größere Anzahl von Theilhabern an jedem Verbrechen erleichterten die Entdeckungen, nachdem man nur einmal in das Geheimniß eingedrungen war. Dies letztere gelang durch eine wohlberechnete Milde, welche dem Dienste der englischen Polizei viele zum Tode verurtheilte Thugs gewann, die in alle Kunstgriffe, Hülfsmittel und Thaten des Ordens eingeweiht waren, und durch deren Enthüllungen geleitet, die Maßregeln einen raschen, Erfolg versprechenden Fortgang nahmen. Nach sechs Jahren schon waren bereits 3266 Thugs den Händen der Justiz überliefert, wozu noch eine unbestimmbare Zahl Solcher zu rechnen ist, die in entlegenern Gegenden theils von militairischen Behörden, theils von Stadt- und Bezirksmagistraten ohne lange Procedur gleich an Ort und Stelle hingerichtet wurden, wobei man sich nicht selten der gegen die jetzigen Meuterer ebenfalls in Anwendung gebrachten Methode bediente, die Verurtheilten in Mörser oder Kanonen zu laden – was zwar höchst barbarisch klingt und aussieht, genauer betrachtet aber für den Betroffenen doch nicht schlimmer ist, als irgend eine andere gewaltsame Todesart. Die geschickten und kräftigen Maßregeln des Lord Bentink wurden auch von den nachfolgenden Generalgouverneuren fortgesetzt, und gegenwärtig kann man den Thuggismus als so ziemlich unterdrückt, wenn auch keineswegs schon als ausgerottet betrachten, denn einzelne Vorkommnisse in allen Theilen des Landes beweisen, daß die Göttin Bhawani noch immer Verehrer besitzt, und in gewissen Gegenden besteht die Secte unter Schutz und Mitbetheiligung der eingebornen Ortsvorstände beinahe noch in unverminderter Stärke.

Oberst Sleeman, der mit so unermüdeter Energie die gegen die Würger Indiens errichtete Specialcommission leitete, hat aus dem Munde eines Mitwirkenden den Bericht über eine charakteristische Scene des Thuggismus aufbewahrt, die wir, ohne sie ihrer orientalischen Form zu entkleiden, zum Schlusse hier mittheilen:

„Ein mongolischer Aga von edlem Ansehen und schöner Gestalt, der sich auf dem Wege aus dem Pendschab nach dem Königreiche

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 576. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_576.jpg&oldid=- (Version vom 25.10.2022)