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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Ruhestätte; die beiden andern Opfer der Hülfsbereitwilligkeit waren in Trimbach begraben. Eine ungeheure Menschenmenge von nah und fern hatte sich eingefunden, diesen Unglücklichen – es waren zwei Schweizer, zwei Engländer und ein Würtemberger, drei von ihnen waren Familienväter – die letzte Ehre zu erweisen. Es mußte auch das härteste Herz bewegen, als die Menge der Leidtragenden das weite Grab umstand, welches die Angehörigen dreier Nationen umschloß; selbst des Geistlichen Stimme erstickte fast unter Weinen und Wehklagen, als er seinen trefflichen Vortrag begann, und besonders, als er in ergreifendem Gebete der Bejammernswerthen gedachte, welche noch im Tunnel eingeschlossen, und deren Schicksal noch ungewiß war. –

Die Namen der elf beim Retten selbst Verunglückten, von denen sieben heute begraben, vier noch Vermißte später im Tunnel liegend gefunden wurden, verdienen aufgezeichnet zu werden; es sind: die Engländer Baker, Burns und Geys; der Würtemberger Rathgeb; die Schweizer Aeschmann aus Zürich, Strub und Müller aus Baselland, Bitterli, Moll, Borner und Huri aus Solothurn. – – –

Zwei Tage lang war trotz der versuchten Luftreinigung ein weiteres Vordringen im Tunnel unmöglich gewesen. Inzwischen waren nun die bereits Freitag Morgens in den benachbarten Städten Olten, Aarau, Luzern und Basel bestellten hölzernen Röhren von 14 Zoll Durchmesser zur Herstellung einer wirksamen Ventilation fertig geworden. Sonntag Abends begann man mit Legen dieser Röhren, und vor der Mündung des Tunnels wurde eine Ventilations-Dampfmaschine aufgestellt, welche durch die gelegten Röhren gesunde Luft in das Tunnelgewölbe pumpte. Die Arbeit, mit äußerster Vorsicht betrieben, ging nach Umständen rasch vorwärts, wozu die Einrichtungen im Tunnel, vorzüglich die Pferdeeisenbahnen, sehr wesentlich beitrugen. Alle möglichen Vorsichtsmaßregeln zur Verpflegung der Mannschaft, Aufrechthaltung der Ordnung und Sicherheit wurden sowohl von Seiten der Behörden, als von den Leitern der Arbeit, unter denen sich besonders Herr Friedmann, engl. Oberangestellter, Sections-Ingenieur Preßel, Architekt Maring in Basel, Ingenieur Kaufmann und Zschokke[WS 1] hervorthaten, getroffen. – Ein Hoffnungsstrahl, der Montags betreffs der Lage der Abgesperrten aufging, erleichterte die Mühseligkeiten der in Angriff genommenen Operation, steigerte aber noch mehr die Ungeduld der Arbeiter, die Gewißheit wollten über das Schicksal ihrer verunglückten Brüder. Man bemerkte nämlich am besagten Tage diesseits des Schuttes in dem im Tunnel entspringenden und durch den Schutt abfließenden Wasser Blut. Gerne hoffend und glaubend, schloß man daraus, die Abgesperrten müssen gegen die giftigen Gase geschützt sein, und haben zur Fristung des Lebens die mit ihnen verschütteten Pferde geschlachtet. – Eine fernere Hoffnung gründete man stetsfort noch auf das Vertrauen, das man in die zwei Engländer setzte, die sich unter den Verschütteten befanden; Einer von den beiden war schon einmal in England mehrere Tage verschüttet und wurde wiederum gerettet. Es ist nämlich oberster Grundsatz der englischen Mineurs, wenn sie abgesperrt – oder in der Sprache der Bergleute zu reden – „versetzt“ werden, sich zurückzuziehen und, ohne selbst an der Rettung zu arbeiten, diese nur von Außen abzuwarten. Der Theil des Tunnels, in dem sich die Verschütteten befanden, ist vom verschütteten Schacht ab auf etwa 1000 Fuß gewölbt, die übrigen 1500 Fuß sind erst im Stollenbetrieb. Haben sich nun die Abgesperrten auf den Rath der unter ihnen befindlichen Engländer zurückgezogen, und einen der Stollen luftdicht verschlossen, so konnten sie ihr Leben wohl erhalten, da sie Rum, Wasser, Brod, Pferde, eine Kiste voll Kerzen und Oel bei sich hatten und durch die verschiedenen Wasserquellen, von denen drei sehr bedeutend sind, immerhin die nöthigste Luft zuströmte. – Inwieweit diese Hoffnungen begründet waren, werden wir in der Folge sehen. Mehrere Särge, die man bereits in den Tunnel gebracht, zeigten wohl deutlich genug, daß nicht Alle so hoffnungsvoll waren. – –

Dienstag den 2. Juni Nachmittags war man mit den Ventilationsröhren bis zum Schuttkegel vorgedrungen. Die vier bis jetzt noch nicht aus dem Tunnel gebrachten verunglückten Retter waren aufgefunden. Man begann sofort mit der Stollenarbeit zur Durchbrechung des Schuttkegels. Die Arbeit war schwierig, und es wurde nöthig, die Arbeiter nach je einer halben Stunde durch andere zu ersetzen. Auch drang man nur langsam vorwärts, da nur acht bis zehn Mann zugleich beschäftigt werden konnten – die Stollen wurden nur auf eine Höhe von 8 Fuß und eine Breite von 4 Fuß getrieben – und glühender Schutt und mächtige Balken die Arbeit sehr erschwerten. –

Tags darauf, am Mittwoch Vormittag, glaubte man am Schuttkegel durchgegraben zu haben, da man auf einen großen leeren Raum stieß und starker Verwesungsgeruch daraus entgegendrang. Es war jedoch dem nicht also; im Innern des Schuttkegels hatten nämlich die herabgestürzten Balken sich so verrammt, daß es eine Höhle von 6 Fuß Tiefe bildete, und es blieb noch eine Strecke von etwa 7 Fuß zu durchbrechen übrig. Um Mittag war dann der Durchbruch des Stollens so weit vorgerückt, daß Leute aus- und einsteigen konnten. Aber gegen die jenseitige innere Tunnelabtheilung war die Luft so verpestet, daß man noch nicht vordringen konnte. Man rief den Verschütteten zu, kein Lebenszeichen erfolgte; das Klopfen auf die Eisenschienen blieb ohne Antwort; die Töne eines Signalhorns – sie riefen Niemanden wach. – Jetzt ging’s langsam und vorsichtig; die Luft fand einen Ausweg den Schacht hinauf, das erleichterte die Arbeiten. Endlich war der Stollen durchgetrieben.

Hinter dem Schuttkegel hatte sich das nicht ganz abgeflossene Wasser angesammelt und nun eine Tiefe von etwa 2 Fuß erreicht. In diesem Wasser lagen sechs Leichen. Die erste Leiche wurde an den Beinen und am Rumpfe von den brennenden Balken erwischt, bedeckt, zerquetscht und verbrannt; Kopf und Stirn sind im Gebälke gen Himmel gerichtet, Fleisch und Haut sind vom Brande, vom Wasser und von der Gährung zerfressen. Die zweite Leiche zeigt ein Auge innerhalb und eins außerhalb des Kopfes, liegt querüber, das Angesicht gen Himmel gerichtet und litt den Tod durch Erstickung. Die drei folgenden Leichen liegen an- und übereinander, davon der Eine unter den Beiden, die Beiden bis in den Tod sich fest im Arme haltend. Von diesen Beiden richtet der Eine den Blick gen Himmel, der Andere zur Erde. Alle drei haben den Kopf nach Trimbach gerichtet. Der Sechste der Unglücklichen hatte das früher durch Ventilation seinen Dienst leistende Luftrohr aufgerissen, also offenbar die Entdeckung gemacht, daß es sich bei der in Folge des Brandes und Einsturzes erzeugten Luft nicht leben lasse, sein Angesicht auf die bewirkte Oeffnung der Luftrohres gelegt; sein Lebensmittel-Säcklein hatte er noch umgehängt – allein das vom Schutt zertrümmerte Luftrohr leistete den erwarteten Dienst für den Unglücklichen nicht mehr! – – Der unausstehliche Modergeruch erfüllte die Arbeiter in diesem großen Grabe mit wahrem Entsetzen. – Lassen wir die Luftreinigung fortsetzen, welche auch den Schuttkegel wieder entzündet und ein diesmal vorsichtiges, mühevolles Löschen erfordert, und gehen wir nach Trimbach.

Schon war da das gemeinsame Grab für die Leichen auf dem Kirchhofe angefangen, als die Aerzte ihren Befund dahin abgaben, daß die scharfe, ätzende Ausdünstung der Verwesung so vieler Leichen mitten im Dorfe zu dieser Jahreszeit bei den benachbarten Einwohnern schwere Krankheiten erzeugen dürfte. Die Gemeindebehörde beschloß daher, von diesem Kirchhofe abzustehen, und außer dem Dorfe den Todesacker, wo früher die Kirche gestanden, zu benutzen. Schnell begannen hier Schaufeln und Pickel den Unglücklichen eine zehn Schuh tiefe Stätte ewigen Friedens zu öffnen.

Schon vorher ließ man die Holzarbeiter aus der mechanischen Werkstätte in Olten kommen, und sie beeilten sich, die erforderlichen Särge herzustellen. – –

So wenig angenehm es auch ist, im Geiste nochmals den Schuttkegel zu durchkriechen und jene grausenerregende Todesstelle zu betreten, so haben wir’s doch tausendmal leichter als die Arbeiter, welche mit unbegrenzter Selbstbeherrschung das Entsetzen überwinden und hingehen, um ihre zum Cadaver gewordenen Brüder zu suchen, zu ergreifen und durch den engen Stollen zu schleppen, um sie herwärts in die Särge zu legen. – Sind wir nun wieder im Innern, so machen wir die überraschende Entdeckung, daß die Steinkohlenvorräthe nicht verbrannt, ja nie in Brand gerathen sind, wodurch die anfängliche, lange festgehaltene Behauptung, die schlechte Luft sei ein Product der Steinkohlenverbrennung, vollständig geschlagen wird. – In geringer Entfernung von den bereits aufgefundenen sechs Leichen lagen fernere elf; in und vor der Tröknungsstube weitere vierzehn, so daß man hier, unmittelbar hinter dem Schuttkegel, zusammen 31 Verunglückte auffand. Diese, soweit sie nicht schon erwähnt, liegen bald auf dem Gesichte, bald auf dem Rücken, bald lehnen sie am Schutt oder an der Tunnelwand an. Verschiedene Einzelnheiten geben Andeutungen über Zeit und Art ihres Todes.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Olivier Zschokke, Vorlage: Zschoke
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_402.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2017)