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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

sind. Ein Stückchen Futtercattun habe ich aus meiner alten Arbeitsjacke ausgeschnitten und klebe die einzelnen Worte und Buchstaben mit Brodpappe darauf. So wird es mir endlich möglich, meinem Gewissen Ruhe zu schaffen und die ganze Sache aufzusetzen, damit, wenn es mir gelingt, was ich im Sinne habe, die Wahrheit an den Tag kommt. Ich bin unschuldig an dem Tode des Kriegsrathes, so wahr mir Gott helfe. Ich habe ihn nur zwei Mal in meinem Leben gesehen; als ich ihn das dritte Mal sah, lebte er nicht mehr, wie ich nicht anders weiß. Als ich ihn das erste Mal sah, hat er mich aus einer großen Gefahr gerettet, in die ich durch meinen Leichtsinn gekommen war. Ich war mit noch zwei Cameraden im Rausch über den Zaun eines Gartens gestiegen und dort hatten wir verschiedenes Obst von den Bäumen geschüttelt und abgebrochen. Daß es ein königlicher Garten war, wußten wir nicht. Ein Wächter kam und wollte uns verhaften, wir ergriffen die Flucht, meine Cameraden entkamen, mich hielt er fest. Ich riß mich los, er war hinter mir her, da trat mir ein groß gewachsener Mann entgegen und sagte: steh’, Bursche! Ich sagte in meiner Angst: um Gotteswillen, lassen Sie mich los, ich habe nichts Schlechtes gethan, es war nur ein Uebermuth – machen Sie mich nicht unglücklich –! Wir sahen uns einen Augenblick an, und er ließ mich vorbei. Seitdem war mehr als ein halbes Jahr vergangen, da traf ich ihn in der Abenddämmerung vor dem Thore. Er erkannte mich gleich, ich ihn auch. Er blieb vor mir stehen und sagte: was treibst Du? Ich erzählte ihm, daß ich ohne Arbeit sei und am liebsten auswanderte, wenn ich die Mittel zur Ueberfahrt und zur Anschaffung guten Handwerkszeuges besäße. Er fragte, ob ich keine Eltern hätte; ich sagte nein, denn ich habe zu keinem Menschen von ihr gesprochen. Er ließ mich eine Weile neben sich hergehen. Dann sagte er: willst Du schwören, zu schweigen über das, was ich Dir sage, und zu thun, was ich Dich heiße, so will ich Dir helfen, soviel ich vermag. Ich gab ihm meine Hand darauf, Alles zu thun, wenn es nichts Schlechtes wäre. Er sagte, es sei nichts Schlechtes und ich könne es thun. Wer er war und wie er heiße, sagte er nicht. Er gab mir einen Schlüssel und sagte mir, mit dem sollte ich zwanzig Minuten nach drei Uhr Nachts das Haus in der B… Straße Nr. … aufschließen, leise zwei Treppen hoch hinaufsteigen, die unverschlossene Thür öffnen und in die rechte Vorderstube eintreten. Hier sollte ich augenblicklich das Fenster öffnen, eben so die Ofenklappe; sodann sollte ich behutsam ein Kohlenbecken, welches vor seinem Bette stehen würde, fortnehmen, ohne Asche zu verstreuen und mich mit diesem Becken eben so geräuschlos entfernen, wie ich gekommen wäre. Ich sollte ihn nicht anreden, noch weniger ihn oder irgend etwas von den Gegenständen in der Wohnung berühren. Das Kohlenbecken sollte ich sofort in das Wasser werfen und niemals wieder in das Haus zurückkehren. Eben so sollte ich auch den Schlüssel, aber an einer anderen Stelle, in’s Wasser werfen. Wenn ich dies Alles gethan haben würde, so sollte ich nach S. gehen, zu einer Person, deren Namen er mir auf einen Zettel aufschrieb, aber versiegelte, weil ich ihn erst am Orte selbst lesen sollte, und dort würde ich das Reisegeld zur Ueberfahrt bekommen.“

„Ich versprach Alles zu thun, denn ich hatte keinen Gedanken, daß es etwas Schlechtes sein könne, und er sprach so, als mußte man Alles thun, wie er sagte. Vielleicht hätte ich es aber doch nicht gethan, wenn ich nicht an sie gedacht hätte. Denn als mir mein verstorbener erster Lehrmeister sagte, daß, wenn ich mich jemals in großer Noth befinden sollte und keinen Menschen hätte, der mir mit Rath und That beistände, so sollte ich nach B. gehen, eine Frau von P. aufsuchen und ihr meinen Taufschein zeigen, da ahnte ich nichts. Als ich aber zu ihr kam und ihr meinen Taufschein gab und sie in Ohnmacht fiel, daß ich gleich glaubte, sie wäre todt, da war mir es, als wäre ich der unglücklichste Mensch unter der Sonne und ich wäre am liebsten gestorben. Denn ich merkte es wohl, aber ich sah, daß sie sich vor mir entsetzte und doch nichts dafür konnte. Als sie wieder zu sich kam, wollte ich gehen, aber sie hieß mich bleiben und sprach: „Du bist in Deinem Recht“. Ich sagte, sie möchte mir verzeihen, ich wollte ihr niemals wieder lästig fallen. Aber sie winkte mir blos mit der Hand und ich mußte gehorchen. Ich sollte ihr von meinem Leben erzählen, aber ich konnte nicht viel reden, es schnürte mir die Kehle zu. Als ich ging, befahl sie mir, nach einiger Zeit wieder zu kommen, und reichte mir zum Abschied die Hand: ich wollte ihre Hand küssen, da fiel sie vor mir nieder auf die Kniee, und legte ihre Stirn auf die Erde, und schluchzte, daß es einen Stein in der Erde erbarmen mußte. Und ich kniete auch nieder und bat sie, was ich konnte, nicht böse auf mich zu sein, und ich weinte mit ihr, und immer, wenn ich sie vom Boden aufheben wollte, wehrte sie mit der Hand und ich wagte nicht, sie zu berühren. Und zuletzt stieß es mir fast das Herz ab, ihren Jammer zu sehen und nicht zu wissen, was ich thun sollte, und ich küßte den Zipfel von ihrem Kleide und ging still davon. Ich hatte mir vorgenommen, nicht wieder zu kommen, aber es zog mich immer wieder hin, und wenn ich vor das Haus kam, so griff es mir doch wieder wie mit Krallen ins Herz, daß ich nicht den Muth hatte, hinauf zu gehen. Aber ich hatte Tag und Nacht keine Ruhe und ging wieder zu ihr, und es war immer wieder schrecklich für mich, zu sehen, wie unglücklich sie war, und wie sie sich zwang, gut gegen mich zu sein. Ich hätte mit Freuden mein Leben für sie hingegeben, aber ich sagte nichts, und sie ahnte nicht, wie mir zu Muthe war. Manchmal sah ich, wie sie ansetzte, mit mir über etwas zu reden, aber da ich merkte, daß es Sachen waren, die ihr Schmerz machten, so bat ich sie immer, mir nichts zu sagen, ich wollte weiter nichts, als daß sie nicht traurig sein sollte. Und wie ich mir Alles so überlegte, so dachte ich, es wäre das Beste, ich ginge weit fort in die Fremde und versuchte mein Glück zu machen. Denn sie lebte sehr kümmerlich und gab fast Alles an die Armen, ich hätte nichts von ihr angenommen, aber sie wollte es, und ich wußte, daß es sie kränken würde, wenn ich es ausschlüge. Wie ich nun an dem Abend den unbekannten Mann getroffen hatte, und Aussicht hatte, auswandern zu können, da trieb es mich, spät Abends noch zu ihr hinzugehen und ihr zu sagen, daß ich Aussicht hätte auszuwandern und mein Glück zu versuchen. Sie war wieder sehr traurig und verlangte zu wissen, woher ich die Mittel zur Reise nehmen wolle: ich sagte, ich wüßte es noch nicht, ich hätte Hoffnung, mit einem wohlhabenden Cameraden die Reise zusammen zu machen. Sie verlangte, daß ich noch nichts beschließen, sondern noch warten sollte. Ich hatte mir aber vorgenommen, nicht länger zu warten, weil ich hoffte, es würde so besser für sie sein. Und so ging ich nach Hause und stand nach zwei Uhr auf, um in die Wohnung des fremden Mannes zu gehen. Mein Wirth schlief so fest, daß er mich nicht weggehen und nicht wieder kommen hörte, so daß er wirklich geglaubt hat, ich wäre die ganze Nacht über zu Hause geblieben. Ich that Alles so, wie es mir der Unbekannte gesagt hatte. Als ich in die kleine Vorderstube eintrat, war ein schwerer Dunst darin, als wenn stark geheizt und die Ofenklappe zu früh zugemacht worden wäre. Mir wurde beinahe schwindlig, und ich machte schnell das Fenster und die Ofenklappe auf. Der Mann lag ruhig in seinem Bett und schlief, wenigstens rührte er sich nicht. Da kam die Versuchung über mich, ich dachte, wer weiß ob ich die Person finde, die mir das Reisegeld geben soll – und ich griff nach der Börse, die auf dem Tischchen lag, und nahm in der Hast, ohne zu zählen, eine Anzahl Geldstücke heraus. Ein silbernes Schachspiel habe ich nicht gesehen und außer dem Gelde nichts genommen, das schwöre ich vor Gott. Ich ging, wie ich gekommen war, vergaß aber das Haus wieder zuzuschließen, denn es war mir unheimlich zu Muthe. Schlüssel und Kohlenbecken warf ich an verschiedenen Stellen in’s Wasser und ging nach Hause, ohne daß mich Jemand gewahr wurde. Wie ich am andern Morgen nachsah, hatte ich den versiegelten Zettel, den mir der Fremde gegeben, verloren, und er war nicht wieder zu finden. Das wenige Geld reichte nicht einmal zur Reise nach Hamburg; einen durchlöcherten fremden Thaler habe ich gehabt, aber ich habe ihn in’s Wasser geworfen, weil ich fürchtete, daß er Verdacht auf mich lenken würde. Ich war so erschrocken, als der Name des Fremden genannt wurde, weil ich keine Ahnung davon hatte, daß es ihr Mann sein könne und ich überhaupt gar nicht wußte, daß ihr Mann lebe. Dieses ist die reine Wahrheit, mögen es alle guten und gerechten Menschen glauben. So wahr mir Gott helfe.“

So war denn endlich der Schlüssel zu diesem verworrenen Räthsel gefunden. War hiermit aber auch das Interesse des Criminalrichters an der Sache erschöpft, so blieb doch für den Psychologen Vieles unerklärt, und insbesondere war damit die geschäftliche Seite der Angelegenheit nicht erledigt. Es fragte sich noch immer: zu wessen Gunsten war die Lebensversicherung genommen? Was hatte den Kriegsrath bewogen, seinem Leben freiwillig ein Ende zu machen?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_354.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)