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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

dichter bewohnt, als irgend ein Theil des stark bevölkerten Landes, nämlich von Hunderttausenden, Millionen und Myriaden Seegeflügels. Wasserhühner, Tord-Alks oder Corsartaucher mit rasirmesserartigen Schnäbeln, schwarze Rhynchoper, Puffins oder Meer-Papageien, Tauchenten, Meven der verschiedensten Art und Größe, besonders isländische und unzählige andere Arten flügelstarker, traurig befiederter, wie Wolfsschlucht schreiender, kreischender und unmelodisch eintönig klagender Felsenbewohner und Seeräuber schießen und schweben an den Felsengebilden auf und ab und in die hochschlagenden, weißschäumend donnernden Wogen, stets sicher und mit Fang beladen auftauchend, während die Bewohner zerschmetterter Schiffe ohnmächtig umhergetrieben und unter dem gräßlichen Hohngeschrei der befittigten Schwärmer von tausend sich öffnenden Rachen des unersättlichen Meeres erbarmungslos hinuntergeschlungen werden. Jeder Ritz, jedes Klüftchen, jeder, auch der kleinste und schmalste Absatz an diesen Felsenmauern ist bewohnt und colonisirt. Ueberall stecken Eier und brüten deren Mütter und piepen deren Junge, während die lustigen Straßen zwischen dem Meere und diesen unerschütterlichen Ansiedelungen stets von An- und Abschießenden schwärmen und lärmen.

Ich hielt mich eine Zeitlang in deren Nachbarschaft auf, so weit Menschen oder vielmehr die Amphibien derselben, Fischer und Küstenschiffer, sich nähern konnten, und sah zu meinem Staunen, daß nicht blos unzählige Menschen mit keinem Fuß breit festen Landes ausschließlich aus dem Meere fortwährend reichlich ernten, ohne zu säen, sondern auch Hunderte kühner, handfester Kerle ausschließlich von diesem Meeresgeflügel leben, von deren Eiern. Diese sind nicht blos als Curiositäten, sondern auch als Nahrung sehr gesucht, und da sie stets in Massen vorhanden sind, vorausgesetzt, daß man so weit kommt, um zugreifen zu können, haben sich unzählige Leute in Yorkshire ganz geschäftsmäßig als Einsammler eingerichtet.

Die Schilderungen der Leute regten mein höchstes Interesse auf, so daß ich beschloß, sie einmal zu begleiten und wo möglich die Wohnungen und Wochenstuben der Scheermesserschnäbel und Meven-Papageien selbst aufzusuchen. Dies gelang mir freilich nur bis zu einem oberflächlichen Grade, da ich in meinem Versuche, zu meiner Schande und zum Gelächter der Eierkletterer, bald ohnmächtig und halb bewußtlos hinaufgewunden ward. Man wird nämlich an Tauen von den Kanten und Spitzen oben an den senkrechten Felsenmauern hinuntergelassen, die in ungeheurer Tiefe und Breite grimmige Gesichter schneiden, während das Meer aus unendlicher Ausdehnung fortwährend heraufschäumt und mit weißem Gischt der Wuth heraufzuangeln scheint, um den kühnen Menschen zu fangen und zu verschlingen.

Wir waren ihrer Vier, die drei üblichen Eierkletterer von Profession, die stets in Association zu je dreien arbeiten, und ich der Laie. Alle Drei trugen schwere Lasten von Tauen und Rollen und Bastkörbe. Als wir uns an einen Rand oben hinaufgewunden hatten, wickelten sie ihre eigenthümlichen Taucherapparate auf und arrangirten sie für den Dienst. Eine Eisenbarre ward ganz am Rande oben in ein schon früher gemeißeltes Loch getrieben und das Ende des dicksten Taues daran befestigt, das andere Ende gleitete hinunter. Der eine von den Dreien stieg nun in eine Art von hanfenen Hosenträgern mit den Beinen und schnallte deren Ring um seine Taille fest. In diesem Ringe oder Gurt sind zwei Löcher, in welche kleinere Taue befestigt wurden. Die beiden Andern hielten letztere in der Hand, während der Dritte an dem starken Taue hinunterkletterte und aus den Händen der Zurückbleibenden mit den Tauen unterstützt ward. Das große Seil ist seine Hauptstraße oder vielmehr das Mittel, seinen Bewegungen Sicherheit zu geben, während die andern ihn balanciren und im Hinaufklettern unterstützen. So gleitete er hinunter. Mit eigenthümlichem Gefühl von Schwindel und Grauen bog ich mich vorsichtig über, um den Mann so lange als möglich hinunter tauchen zu sehen. Manchmal ward er ganz unsichtbar; er kroch in Felsenspalten hinein. Dann gab er sich wieder an hervorragenden Kanten abprallende Stöße mit den Füßen, so daß er absprang, um bald rechts, bald links wieder zu verschwinden. Einige Male sah ich ihn die offen auf Kanten liegenden grauen, scheckigen Eier wegnehmen und massenweise in den Bastkorb hinter sich werfen. Nach etwa einer Stunde zuckte er an dem dünnen Seile und ward heraufgewunden. Der Korb strotzte von mehr als hundert der seltsamsten Eier. „Das ist ’n glücklicher Platz,“ sagte der Eine, als er eine große Menge Eier von Tord-Alken und Wasserhühnern darunter bemerkte. Ich erfuhr, daß diese die beliebtesten seien, nicht wegen ihres feineren, aromatischeren Inhalts,, sondern blos der Schale wegen. Die Schalen sind nämlich so hart, daß sie am Leichtesten und Bequemsten, also am Wohlfeilsten transportirt werden können. Die Eier anderer Meeresvögel sind zum Theil viel feiner und wohlschmeckender, aber weder bei den Sammlern noch den Händlern so beliebt, als die wegen ihrer außerordentlich harten Schalen am Sichersten versendbaren Eier der Wasserhühner und Tord-Alken. Das Wasserhuhn legt sein einziges Ei, zudem unbedeckt und ohne Nest, auf den nackten, kahlen Felsen, so daß es leicht zu sehen und wegzunehmen ist. Die Meer-Papageien oder Puffins, wie sie der Engländer nennt, und die Tord-Alken verstecken die ihrigen zwischen Ritzen und Klüfte, so daß sie oft schwer aufzufinden und nicht leicht zugänglich sind. Die isländische Meve, Kittiwake von den Engländern genannt, legt ihre zwei gefleckten Eier in ein Nest von trocknem Gras und Schilf. Die Kletterer und Sammler verkaufen ihre Ernten in je zwanzig Stück (das ist ihr Mandel) an Händler und Wiederverkäufer gewöhnlich für 6 Pence, 5 Sgr., letztere für einen Penny das Stück, also mit mehr als 300 Procent Profit. Und doch leben die Kletterer davon und lieben, wie es mir schien, ihre lebensgefährliche, mühsame Arbeit mit „Hangen und Bangen in schwebender Pein“.

Ermuthigt von dem lachend Emporgezogenen und seiner seltsamen, kunterbunten, reichen Ernte, beschloß ich, auch eine kleine Luftfahrt hinunter zu machen, um die Meven und Rasirmesserschnäbel u. s. w. in ihrer Häuslichkeit kennen zu lernen. Ich zog also muthig die hanfenen Hosenträger und Hosen an, ließ die beiden Seile in den Händen der Beiden, die ihren Collegen so glücklich hinuntergelassen und heraufgezogen hatten, faßte das dicke Seil, das an einer andern, weniger gefährlichen Stelle (es war etwa 60 bis 70 Fuß tief ein ziemlich breiter Absatz) angebracht war, und fing an, muthig zu schweben und die Füße gegen die Felsenmauer zu stemmen. Freilich summte und schwirrte es unheimlich um meine Ohren, und die beschwingten, privilegirten Eigenthümer dieser unwirthlichen Klippen und Klüfte krächzten und klagten dämonisch weit und breit umher. Die Scene und Descension hatte für mich etwas unsäglich Erhabenes und Schauerliches. Dies nahm zu, je tiefer ich mich von meinen Haltern und Lenkern entfernte, so daß es immer dünner und leiser klang, was sie mir von Oben zuriefen. Das Meer, das, von Oben gesehen, sich ganz ruhig bläulichgrün in unergründliche Ferne spiegelte, tobte und klatschte und spritzte gleichwohl wüthend unter mir. Tausende, ja viele Tausende von grauem, schwarzem und traurig geflecktem Meeresgeflügel umkreischten mich und schossen mit jedem Schritte, den ich abwärts kletterte, hell aufkreischend gleichsam aus allen Poren der Klippen hervor, die meisten in schnurgeraden Linien, wie aus einer Kanone geschossen. Nur die Meven klagten in herzzerreißendem Jammergeschrei in der Nähe umher in einer Art von cirkelförmigem oder vielmehr schraubenartigem Gewinde. Die Wasserhühner schossen geradlinig hinab in’s Meer und tauchten dort unter. In einer mäßigen Tiefe fand ich plötzlich einige kleine Felsenbänke so dicht mit Eiern besäet, daß ich hinaufzuckte und schrie, man möge mich aufhalten. (Sie haben eine ganze Telegraphenzeichensprache durch Art und Zahl von rechten und linken Zuckungen an den Windeseilen. Ein einziger Ruck heißt wohlweislich, da man in diesem Falle nicht viel Zeit und Ueberlegung hat, „äußerste Gefahr, zieht mich hinauf!“)

Es waren Mevennester in ganzen Dörfern und Städten dicht bei einander, einige mit Jungen, die meisten aber voller Eier. Ich ging, so weit die Seile und Bandagen es erlaubten, einige Schritte auf der Felsenbank hin und her, und sah auf der einen Seite einen ganz schmalen Streifen von Abhang, kaum 5–6 Zoll breit. Auf diesem lagen die Eier der Wasserhühner ganz kahl und unbedeckt, so daß ein Windstoß sie in den Abgrund kollern mochte. Seltsame Häuslichkeit und Wochenstube! Während Baum- und Feldvögel ihre Nester nicht sorgsam, weich und warm genug bekommen können, sucht das Wasserhühnerpaar sich nicht einen einzigen Strohhalm zur Bettung ihrer Nachkommenschaft. Und doch kommt sie und gedeiht und fliegt gleich fort aus dem Eie. Glückliche Proletarier! Die Eier lagen auch alle einzeln. Für jedes war ein besonderes Paar. Das Wasserhuhn begnügt sich stets damit, ein einziges Ei zu legen. Nur wenn es ihm weggenommen wird, bequemt es sich, ein anderes zu bringen. Wenigstens erzählten mir so die „Climbers“, wie sich die kletternden, schwebenden Eiersucher nennen.

Ich war erstaunt über die bunte Schönheit und Verschiedenheit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_304.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)