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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

es hieß, „selb siebent“ überschworen. Gelang es dann dem Letzteren nicht, dreizehn Eideshelfer für sich zu gewinnen, oder konnte der Ankläger gegen diese dreizehn zwanzig aufbringen, dann war der Angeschuldigte verloren und – der Strang ihm gewiß.

Ein etwas anderes Verfahren fand statt, wenn ein angeklagter Wissender vor dem heimlichen Gericht erschienen war. Er konnte durch seinen alleinigen Reinigungseid seine unbedingte Freisprechung erlangen, und diese weit günstigere Stellung der Wissenden war wohl der Hauptgrund, aus welchem, als auch Nichtwestphalen Freischöffen werden konnten, aus ganz Deutschland so viele nach Westphalen eilten und sich zu Wissenden machen ließen. Indessen dauerte dieses Vorrecht nicht sehr lange, denn man sah nicht nur die Unbilligkeit einer solchen Bevorzugung, sondern auch, bei der immer mehr anwachsenden Zahl der Freischöffen, die Gefährlichkeit derselben ein, daher denn auch bei diesen das Ueberbieten mit Eideshelfern Regel wurde. Nur insofern blieb den Wissenden immer noch ein Vortheil, daß sie unbedingt frei waren, wenn sie den zwanzig Eideshelfern des Klägers einundzwanzig entgegenstellen konnten.

Der am häufigsten vorkommende Fall war, daß die Angeschuldigten nicht erschienen.

Fand sich ein Nichtwissender am bestimmten Tage nicht ein, so verwandelte sich, nachdem der Name des Vorgeladenen feierlich ausgerufen worden war, das offene Gericht in die heimliche Acht dadurch, daß ein Schöffe der versammelten Menge befahl, das Feld zu räumen, ähnlich, als wenn heutzutage der Präsident einer Assisenverhandlung die Zuhörer auffordert, die Gallerie und den Saal zu verlassen. Hiernach mußte der Ankläger die Klage noch einmal vortragen und dieselbe durch seinen mit sechs Eideshelfern unterstützten Eid beweisen. Dasselbe galt, wenn ein Wissender sich nicht gestellt hatte. War die Anklage auf diese Weise erwiesen und der Angeklagte der Vehmroge für schuldig befunden, dann wurde er verurtheilt („vervehmt“). In solch einem Urtheil hieß es z. B.: „Den beklagten Mann mache ich unwürdig, echtlos, rechtlos, siegellos, ehrlos und untheilhaftig alles Rechts und verführe ihn und vervehme ihn und setze ihn hin nach Satzung der heimlichen Acht und weihe seinen Hals dem Stricke, seinen Leichnam den Thieren und Vögeln in der Luft, ihn zu verzehren und befehle seine Seele Gott im Himmel in seine Gewalt, wenn er sie zu sich nehmen will, und setze sein Lehen und Gut ledig, sein Weib soll Wittwe, seine Kinder Waisen sein.“

Die einzige Strafe, welche die Vehmrichter über einen Verurtheilten verhingen, war – die Todesstrafe; die einzige Art der Vollziehung – das Hängen. Nie haben sie geköpft, geviertheilt, ertränkt, lebendig begraben oder sonst auf andere Weise vom Leben zum Tode gebracht.

Selten entging ein Vervehmter seinem Schicksal, namentlich als das Schöffenthum sich über ganz Deutschland verbreitet hatte. Derjenige Schöffe nämlich, auf dessen „Rüge“ der Angeschuldigte verurtheilt worden war, erhielt von dem Freigrafen das schriftliche Vervehmungsurtheil und dies diente ihm allen übrigen Schöffen gegenüber als Legitimation zur Aufforderung, ihm bei Auffindung, Ergreifung und Aufknüpfung des Verbrechers behülflich zu sein. Kein Vehmschöffe durfte seine Beihülfe verweigern, weil einem allein die Todesstrafe zu vollziehen nicht erlaubt war, sondern, um möglichen Mißbräuchen vorzubeugen, immer drei Schöffen dabei gegenwärtig und thätig sein mußten.

Wie aber erkannte ein Schöffe den anderen? Sahen sie doch, da sie nie besondere äußere Kennzeichen an sich trugen, eben so aus, wie jeder Andere, der nicht Schöffe war. So wenig man heutzutage Jemand ansehen kann, ob er ein Freimaurer ist, eben so wenig konnte man damals Jemand ansehen, ob er ein Freischöffe sei. Wie aber erstere an gewissen Merkmalen sich zu erkennen pflegen, so hatten auch die Vehmschöffen unter sich gewisse Erkennungszeichen, die sogenannte „heimliche Losung.“ Worin diese bestanden, darüber fehlt es an sicheren Nachweisen. Eine besondere Bedeutung hatten jedenfalls die Worte: Strick, Stein, Gras, Grein, daher man auch an jedem Baum, an welchem ein Vervehmter aufgeknüpft worden war, die Buchstaben St. St. G. G. eingeschnitten fand; was diese Worte aber besagen sollten, ist unbekannt. Der Gruß, den die Vehmschöffen unter sich zu führen pflegten, und an welchem sie sich wohl erkannt haben mögen, lautete:

„eck grüt ju, lewe man
wat fange ji hi an?
alles glücke kehre in
wo de freyenscheppen sin.“

Von der Regel, daß nirgends anders als in Westphalen die Vehmgerichte abgehalten werden durften, gab es einen einzigen Ausnahmsfall, in welchem ein Verbrecher, ohne daß er vor das offene Ding oder vor die heimliche Acht geladen, ohne daß also ein förmliches Vervehmungsurtheil über ihn gesprochen worden war, an einem Baume aufgeknüpft werden konnte. Wurde nämlich Jemand bei oder unmittelbar nach Begehung einer Vehmroge von einem Vehmschöffen ertappt und traf es sich, daß wenigstens noch zwei Schöffen in der Nähe waren und sofort herbeigerufen werden konnten, dann waren diese drei nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, ohne allen Proceß den Verbrecher zu vernehmen und die Strafe an ihm zu vollziehen. Es war dies das sogenannte Verfahren bei „handhafter That.“ Ja die Schöffen maßten sich dieses Recht später selbst dann an, wenn sie selbst gehört oder durch Andere auf glaubwürdige Weise in Erfahrung gebracht, daß sich Jemand zur Begehung eines Verbrechens bekannt, wohl gar damit gebrüstet habe. Ein solches Geständniß hieß „gichtiger Mund.“ In dieser Ausdehnung der Thätigkeit der Freischöffen lag freilich viel Gefährliches; sie führte auch in der That zu den grassesten Mißbräuchen, denn oft machten sich die Vehmschöffen, vielleicht nur um einen Privathaß zu kühlen, der größten Willkür schuldig.

Zwei Jahrhunderte hatten die Vehmgerichte eine segensreiche Wirksamkeit entfaltet, der im deutschen Reich eingerissenen frechen Zügellosigkeit und Rechtsunsicherheit einen gewaltigen Damm entgegengesetzt und kein Verbrechen, das zu ihrer Kenntniß gelangte, ungerochen gelassen. Am Ende des funfzehnten und Anfang des sechszehnten Jahrhunderts aber mußten oft auch Unschuldige vor ihnen zittern und so kam es, daß, als auch Kaiser und Reich, namentlich durch das um das Jahr 1495 in’s Leben gerufene Reichskammergericht auf eine gesicherte Rechtspflege Bedacht nahmen, die Macht der Vehmgerichte gebrochen wurde und sie im sechszehnten Jahrhundert so ziemlich ganz verschwanden.




Originale.

Unter dieser Bezeichnung verstand man früher und versteht man wohl auch noch heute eine Gattung Menschen, die von ihren Nebengeschöpfen in Thun, Treiben und Denken bedeutend abweichen. Der Ausdruck ist nicht richtig, denn streng genommen sind wir Alle, wie wir da sind. Originale, wir mögen uns auch noch so sehr Muhe geben, schlechte Copieen zu sein. Gerade dieses Copiren Anderer ist wiederum etwas Originales, das heißt etwas Besonderes, uns als Individuum[WS 1] Anhaftendes, was freilich eine Menge Anderer mit uns gemein haben, aber immer nicht auf diese Art, wie wir es treiben. Millionen Blätter bewegen sich auf einem Baume und keines ist dem andern völlig glich. Doch immerhin, der Ausdruck ist nun einmal für die Sache gäng und gebe, so mag er denn gelten. Diese Originale nun sind heutzutage auf eine betrübende Weise selten geworden; kaum daß man noch hier und da, in irgend einem Winkel ein Exemplar entdeckt, das aber auch noch lange nicht die alten Prachtausgaben ersetzt, weit weniger noch sie überflügelt. Der Schreiber dieses hat aus seiner Jugend das Bild eines alten Herrn sich aufbewahrt, das für den psychologischen Curiositätensammler schon einigen Werth beanspruchen möchte. Hier ist der Mann.

Ganz oben an den finnischen Grenzmarken lebte in einem Städtchen am Anfang dieses Jahrhunderts ein Mann, den wir mit etwas umgeändertem Namen, denn die Familie blüht noch, Obrist Crollfuß nennen wollen. Obrist war er, hierin ist nichts verändert, und zwar hatte ihn die glorreiche Kaiserin Katharina, die er stets seine Imperatrice nannte, dazu gemacht. Er war klein von Wuchs, sehr behende in Bewegungen und Mienen, und erhielt sich, wie die Bewohner des Städtchens behaupteten, durch allerlei geheime Mittel sein schwarzes lockiges Kopf- und Barthaar bis in das Alter von achtzig Jahren. In eben so glänzendem Zustande befanden sich seine Zähne, und die Lebhaftigkeit und das Feuer seiner Augen könnte einem Jünglinge heutzutage willkommen sein.

Es ist bekannt, daß der Kaiser Alexander dem sächsischen Hofmaler Kügelgen den Auftrag gab, ganz Finnland zu bereisen, um Landschaftsbilder für die Gallerie der Eremitage in Petersburg zu malen. Bei dieser

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  1. Vorlage: Inviduum
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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_239.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)