Seite:Die Gartenlaube (1857) 048.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

zu den Kindern nieder und spielte mit ihnen. Einige Zeitungen hatte er auf den Tisch gelegt. Einen schon offenen Brief übergab er seiner Gattin.

„Von der Mutter,“ sagte er.

Die Generalin war schon seit drei Wochen nach Berlin verreist, um ihre Nichte Emma von dort zurückzuholen. Emma hatte nicht darum gebeten, aber ihre Briefe hatten schon längst eine seit einiger Zeit sich steigernde Schwermuth ausgesprochen. Nach einer Berathung mit ihrem Sohne und ihrer Schwiegertochter hatte die Generalin daher beschlossen, sie nach Harthausen zurückzunehmen. In dem glücklichen Familienkreise, in der frischen Landluft, hoffte man, werde auch sie wieder frischer und fröhlicher werden. Die Generalin hatte sich entschlossen, selbst sie von Berlin abzuholen, um dort, wo sie längere Zeit gelebt hatte, zugleich alte Freunde und Bekannte zu begrüßen.

Die Majorin las den Brief der Schwiegermutter. Der Inhalt schien sie zu überraschen.

„Mittwoch?“ sagte sie. „Wir haben ja heute Mittwoch. Sie käme also heute?“

„So ist es. Der Brief hat sich verspätet. Weil er von Berlin kommt, wird man Geheimnisse darin vermuthet, und ihn in irgend einem der schwarzen Kabinette, vielleicht in Kassel selbst, angehalten haben. Indeß mag man es. Ich freue mich, Emma wiederzusehen.“

„Auch ich. Aber Hermann, wir werden Anstalten zu ihrem Empfange treffen müssen. Die Mutter freut sich so sehr über solche kleine Aufmerksamkeiten. Um welche Zeit, glaubst Du, werden sie eintreffen?“

„Nach dem Briefe waren sie heute Nacht in Seesen; vor sieben Uhr heute Abend können sie hier nicht ankommen. Uebrigens habe ich schon einige Anordnungen zu ihrem Empfange getroffen. Thor und Terrasse werden geschmückt, ebenso der Flur, die Treppe.“

„Die Zimmer der Mutter und Emma’s werde ich übernehmen.“

„Ich werde die Leute dazu bestellen.“

Der Major ging wieder.

„Die Kinder und Du,“ sagte er im Weggehen, „seid immer im vollen Schmucke der Schönheit und Liebenswürdigkeit.“

Die Majorin schien, so lange ihr Mann da war, sich einigen Zwang angethan zu haben. Nach seiner Entfernung wurde sie unruhig, träumerisch. Sie nahm den Brief wieder auf, den der Major zurückgelassen hatte; sie las ihn wiederholt.

„Warum ist mir denn, als müsse mit dem Briefe das Unglück zu mir getreten sein? Daß das Kind zurückkommt? – Kind? – Ist sie noch ein Kind? War sie es noch vor anderthalb Jahren, als ich kam? War das die Liebe eines Kindesherzens zu dem schönen, edlen, stolzen, tapfern Mann, der so unglücklich gewesen war? Und diese Schwermuth jetzt? Und – welche Blicke, welche ahnende, welche furchtbar ahnende Blicke warf sie auf mich? Was sieht schärfer, als die Liebe, als die Liebe des reinen, unschuldigen, des unverdorbenen Herzens?“

Ihr Blick fiel auf die Kinder, auf den Knaben, aber auch auf das fünfjährige Mädchen. Sie sprang wie entsetzt auf.

Was war es, was sie so entsetzt in die Höhe trieb? Die Kinder spielten doch so fröhlich, so glücklich.

Sie sprang zu dem Mädchen, nahm sein Lockenköpfchen in ihre Hände, und drückte es an ihr Herz, wie an dem Tage, als sie das Kind wiedergefunden hatte. Aber sie drückte es ängstlich an ihr Herz, als wenn es wieder von ihr gerissen werden sollte. Bittere Thränen fielen in die Locken des Kindes.

„Nein, nein, mein Kind! Du bist dennoch mein Engel, und Du wirst es bleiben. Für Dich, für Dein Glück habe ich ja das Alles gethan. Für Dich habe ich die Ruhe, die Ehre, das Glück des edelsten Mannes auf das Spiel gesetzt. Nein, nein, Du kannst nicht mein, nicht sein böser Dämon werden. Du bist unser Engel, Du wirst es bleiben, auch jener gegenüber. Du wirst mein Schutzengel gegen sie werden, mit Deinem Engelsgesicht, mit deinem engelgleichen Herzen; Du bist eben so unschuldig, so rein wie sie!“

Sie ließ das Kind sanft los, und führte es zu dem Knaben zurück. Die Kinder spielten wieder miteinander.

Die Majorin saß noch lange träumend da. Während ihrer Träume hatten ihre Hände unwillkürlich nach den Zeitungen gefaßt, die der Major bei seiner Ankunft auf den Tisch gelegt hatte. Unbewußt warf sie einen Blick in eines der Blätter.

Ein lauter, ein furchtbar lauter Schrei! Sie warf das Blatt fort, wie wenn sie eine giftige Schlange von sich schleudere. Sie sprang auf, und starrte wie wahnsinnig nach dem weggeworfenen Blatte. Die kleine Agnes flog zu ihr. Sie stieß das Kind von sich, denn sie wußte nicht, was sie that. Der kleine Knabe weinte; sie hörte es nicht.

Wieder griff sie nach dem Zeitungsblatte; ihre bebenden Hände vermochten es kaum zu halten. Ihre Augen suchten die Stelle wieder auf, von der sie so entsetzt zurückgeflogen waren; der wilde, wirre Blick fand sie.

„Also doch, doch!“ rief sie. „Heute, heute, gerade heute! Mit ihr, mit dem Briefe tritt das Unglück zu mir. Das Unglück?“

Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten, und mußte sich setzen. Dann las sie laut. Noch hatte sie Alles um sich her vergessen, und wußte noch immer nicht, was sie that.

„Mainz, im September. Vor einigen Tagen ist es einem der gefährlichsten Verbrecher gelungen, durch gewaltsamen Ausbruch aus der hiesigen Citadelle zu entweichen, in welche er, zur lebenswierigen Baugefangenschaft verurtheilt, eingesperrt war. Gregoire Lauterbach, Elsasser von Geburt, früher Offizier in der kaiserlichen Armee, wegen Betrügereien aus dieser ausgestoßen, hatte darauf längere Zeit ein vagabondirendes Leben geführt, und von großartigen Betrügereien und Prellereien, besonders auch von verrätherischen Diensten gelebt, die er den Feinden des Kaisers als Spion leistete. Vom Kriegsgerichte zum Tode verurtheilt, war er durch die unerschöpfliche Huld Seiner Majestät des Kaisers zu lebenslänglicher Festungsstrafe begnadigt worden. – Bis jetzt sind alle Schritte zu seiner Wiederergreifung vergeblich gewesen. Sein Signalement folgt hier unten.“ –

Die Majorin las nicht weiter. Das Blatt entfiel ihrer Hand; sie sank bewußtlos in den Stuhl zurück. Die Arme hingen schlaff an ihrem Körper herunter; ihre Augen starrten bewußtlos vor sich hin; man konnte sie für eine Leiche halten. War sie wirklich ohne Bewußtsein, oder war ihr Geist mit Entwürfen, Plänen, Entschlüssen beschäftigt? Gewiß war, daß die Gegenwart nicht für sie existirte. Sie sah nicht die Thränen ihrer Tochter; sie hörte nicht das Weinen des Knaben. Lange lag sie so.

Langsam erhob sie sich, aber mit festem, entschlossenem Wesen. Ihr Gesicht war noch sehr blaß; aber auch in ihm sprach sich ein fester Entschluß aus.

Sie zog die Klingel. Ihr Mädchen trat ein.

„Ich lasse meinen Mann zu mir bitten.“

„Bei dem gnädigen Herrn ist ein Fremder,“ entgegnete das Mädchen.

Die Majorin stutzte; denn ihr Mann bekam selten Besuch.

„Schon lange?“ fragte sie.

„Seit etwa zehn Minuten.“

„Ein Fremder? Haben Sie ihn gesehen?“ fragte die Majorin etwas unruhig, zögernd.

Die Antwort des Mädchens versetzte sie noch mehr in Unruhe.

„Der Fremde,“ lautete die Antwort, „war groß und ging etwas rasch. Er suchte, ich war gerade im Flur, sein Gesicht vor mir zu verbergen, und fragte ohne Weiteres nach dem Zimmer des gnädigen Herrn.“

„Sie können gehen,“ sagte die Majorin, anscheinend ruhig zu dem Mädchen. „Wenn der Fremde fort ist, melden Sie es mir.“

Das Mädchen entfernte sich.

Die Majorin hatte ihre Ruhe verloren; aber nur ihre Ruhe; ihr Entschluß war ihr geblieben; er war ihr fest geblieben; es schien ein großer zu sein. Ihr Auge blickte stolz, während sie mit großen, hastigen Schritten die Stube maß.

Nach längerer Zeit öffnete sich die Thür. Nicht ihr Mädchen trat ein, aber ihr Mann.

Sein Gesicht hatte den Ausdruck tiefen Ernstes und Nachdenkens. Er sah beinahe mit einer gewissen Sorge und Bekümmerniß auf seine Frau, wie auf die Kinder.

(Schluß folgt.)



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_048.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2020)