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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

sprach entschieden auch das mildeste Urtheil, und es dachte unwillkürlich an ein unbändiges Herz, an wilde Begierden, an ein wildes Leben.

„Meine arme, arme Marie!“ sagte mit dem Tone des innigsten, aber gewaltsam zurückgehaltenen Schmerzes die eingetretene Schwester.

„Antoinette, Du bist es?“ hauchte die Sterbende mit Milde und mit Liebe.

Die Milde und die Liebe zerrissen das Herz der Schwester, zerbrachen alle die mühsam errungene Kraft. Sie fiel vor dem Bette auf die Knie, ergriff die Hand der Sterbenden, und drückte sie leidenschaftlich an ihre Lippen.

„O, meine Marie, meine Marie, und Du liebst mich noch! Du kannst mich noch lieben! Du hast nicht –“

„O, Madame, was haben Sie versprochen,“ ermahnte die Freundin.

Die Schwester nahm sich von Neuem zusammen; sie lächelte ruhiger, mit dem Ausdrucke des innigsten Dankes, der Sterbenden zu. Die Sterbende sah sie verklärter, seliger an.

Im Himmel, sagt die Bibel, ist mehr Freude über einen Sünder, der Buße thut, denn über neunundneunzig Gerechte.

Als wollte es diese Freude des Himmels aussprechen, sah das Auge der Sterbenden vergebend, segnend, glücklich auf die knieende Schwester. Einen Augenblick nachher war es glanzlos, gebrochen. Die Schwester knieete vor einer Leiche.

Man hatte keinen Kampf gesehen, man hatte keinen Laut gehört, nicht einmal einen letzten Seufzer.

Welch’ ein schöner Tod!

Die Freundin drückte das gebrochene Auge zu, und faltete wieder die erkalteten Hände! Sie konnte es diesmal ohne Zittern und ohne Weinen. Aber als es geschehen war, fiel sie in heftigem Schluchzen, in lautem Weinen vor dem Bette nieder. Doch in dem sanften, frommen Mädchen konnte der heftige Ausbruch des Gefühles nicht lange anhalten.

„Lassen Sie uns beten für den Engel,“ sagte sie zu der Schwester. „Es wird auch Sie aufrichten.“

Sie betete, still, wie sie vorhin mit der Todten gebetet halte. Mit ihr betete die Fremde.

Nach einer langen Zeit erhob sich das fromme, besonnene Mädchen.

„Es ist Mancherlei zu besorgen für die Todte,“ sagte sie. „Ich werde es ordnen, wenn Sie es mir überlassen wollen.“

Die Fremde nickte ihr Zustimmung zu.

Bald nachher erhob auch sie sich, küßte noch einmal der Todten die Stirn, die Lippen, die Hände. Sie wurde gefaßter, ruhiger; trocknete ihre Thränen, und konnte mit einem stillen Blicke die Entschlafene betrachten. Dabei fielen ihre Augen auf ein entfaltetes Papier, das auf dem Fußende des Bettes lag. Es war der Brief, den die Freundin der Gestorbenen vorgelesen hatte. Sie warf, wie mechanisch einen Blick hinein. Die Worte, die sie las, erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie nahm den Brief auf, las ihn vom Anfange bis zum Ende, mit wachsender Aufmerksamkeit, zuletzt gespannt.

Auf einmal ging sie mit heftigen, beinahe sich überstürzenden Schritten in dem Stübchen umher. Aber wie verändert war sie plötzlich! Wie furchtbar, wie zum Entsetzen verändert! War das die Schwester, die noch vor wenigen Augenblicken auf das Tiefste erschüttert an dem Sterbebette gestanden und dann vernichtet, aufgelöst zusammengebrochen war? Keine Spur mehr von einer Trauer, einem Schmerze. Ein wilder Blitz leuchtete plötzlich in dem dunklen Auge, die Brust keuchte, wie unter einer schweren Bürde, die Lippen warfen sich auf, wie von einem wilden Entschlusse. „Mein Kind – mein Kind,“ rief sie mehrere Male und ihre Schritte wurden hastiger; sie durchrannte die Stube. Mitten im Laufe hielt sie inne. Ein Kampf schien in ihr zu toben. Wollte ein besserer Entschluß jenen wilden zurückdrängen? „Nein, nein,“ rief sie in voller Aufregung, „fort von ihm, der mein Leben, der das meines Kindes vergiftet!“ Sie nahm das Papier wieder auf, das sie auf einen Tisch geworfen hatte, und durchflog es. Der wilde Entschluß hatte den Sieg davon getragen; ihr Auge schoß dunkle feindliche Blicke. Die Blicke trafen die Leiche, die Schwester, die dahingeschiedene Schwester.

Wie unähnlich waren die beiden Schwestern wieder. Jenes stille, selbst von dem Todeskampfe verschonte, selig schlafende, edle Antlitz! Dieses Gesicht, von heftiger Begierde, wilder Leidenschaft, einem furchtbaren Entschlusse entstellt, verzerrt, zerrissen! Sie trat an die Leiche heran, ergriff die kalte Hand und hauchte einen langen, langen Kuß darauf. „Vergib, vergib,“ rief sie leise. Dann warf sie die Augen in dem Zimmer umher und suchte etwas. Auf dem geöffneten Koffer der verstorbenen blieben sie haften. Sie flog zu ihm; sie langte hinein, ihn zu durchwühlen. Ihr Blick fiel auf das Mahagonikästchen. Sie griff danach und sah die Briefe, mit denen es gefüllt war. Sie nahm einige heraus und besah die Aufschrift. Der wilde, feindliche Blick ihres Auges kehrte wilder, feindlicher zurück. Sie zog die sämmtlichen Briefe hervor, setzte sich damit an einen Tisch und entfaltete und las sie, einen nach dem andern, in der Ordnung, in welcher sie gelegen hatten. Sie vertiefte sich in sie immer mehr; sie vergaß alles Andere. Nichts in der Welt schien mehr für sie da zu sein, als die Papiere, die sie verschlang; nicht ihr Reisegefährte, den sie in dringender Gefahr der Verfolgung verlassen hatte; nicht ihr Kind, das bei ihm allein zurückgeblieben, nicht die Schwester, die vor wenigen Minuten verschieden war. Und sie saß so nahe bei der Leiche. Eilig der Stube sich nähernde Schritte störten sie. Sie warf die Briefe in das Kästchen zurück und stellte dasselbe wieder auf seinen Platz in dem Koffer. Die Freundin der Verstorbenen kehrte zurück; sie war eilig, verlegen, verstört.

„Madame, das ist ein schwerer Tag für Sie. Die Gensd’armen verhaften in diesem Augenblicke Ihren Gemahl, wenn der Herr, mit dem Sie gekommen sind, Ihr Gemahl ist.“

Wiederum blitzte es in den Augen der Fremden auf. War es der Blitz plötzlicher Freude! Dann war es der Blitz einer entsetzlichen Freude. Er hielt kaum eine Sekunde an. Nicht Heuchelei verdrängte ihn; es war ein anderes Gefühl, stärker, weil vielleicht unmittelbarer als jene Freude, das sich auf einmal in ihrem Gesichte aussprach.

„Mein Kind!“ rief sie.

Sie stürzte, alles Andere um sich her wieder vergessend, aus der Stube, sie flog zu dem Zimmer, in dem sie ihren Reisegefährten und ihr Kind zurückgelassen hatte. Nur das Kind war noch da. Es schien erst in dem Augenblicke erwacht zu sein, als sie eintrat. Seine schönen Augen leuchteten ihr mit freundlichem Lächeln, seine runden Aermchen streckten sich ihr mit süßem Verlangen entgegen. Sie schloß es in ihre Arme und küßte es.

„Wo ist der Vater?“ fragte das Kind.

Die Frau trat an das Fenster und sah auf die Straße. Dort wurde ihr Reisegefährte von zwei Gensd’armen fortgeführt. Er sah nach dem Fenster zurück, gewahrte sie und warf ihr einen schnellen, sprechenden Blick zu: „Ich verrathe Dich nicht!“

Sie schien sich auf einmal leicht, sehr leicht zu fühlen. „Er ist verloren,“ murmelte sie, „er geht in den Tod!“ Sie schloß das Kind fester in ihre Arme; sie küßte es heißer, inniger.

„Du sollst glücklich werden, meine süße Agnes.“




II.
Die Verlobten.

Der Monat Mai sandte die schönsten Blüthen des Frühlings mit ihrer Farbenpracht und ihrem Dufte in Feld und Flur und Wiese und Wald, also auch in Deutschlands Fluren und Wälder. Aber er fand keine fröhlichen Herzen, und er konnte die Herzen nicht fröhlich stimmen. Ueberall in dem schönen Lande und auf allen Schichten seines braven, herrlichen Volkes lastete der Druck des fremden Despotismus, vielfach niederdrückend, gar lähmend, freilich nirgend erdrückend, tödtend, meistens vielmehr still stärkend die nur augenblicklich geschwächte Kraft, stählend den nie gebrochenen Muth, anfeuernd den nur äußerlich niedergehaltenen Geist, und so vorbereitend jene großen Thaten, durch die nach wenigen Jahren das Volk die fremde Tyrannei von sich abschüttelte.

Etwa anderthalb Meilen von Holzminden, oberhalb dieses Städtchens an der Weser lag in einer malerischen Gegend das Schloß Harthausen. Es lag auf einer mäßigen Anhöhe, mit der Aussicht in eine weite Strecke des Thales, auf die Krümmungen des schönen Stromes oberhalb, und unterhalb und auf die vorspringenden Parthien des Sollingerwaldes. Es war ein Besitzthum der verwittweten Generalin von Rixleben, deren Mann in preußischen Diensten gestanden hatte, aber schon vor längerer Zeit,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_019.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)