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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

abgegeben hatte. Trotzdem, daß seine Stellung ihn nicht dazu berechtigte, zog er die Beamten und Offiziere, die sich solcher Unterschleife schuldig gemacht hatten, zur Rechenschaft und inspicirte täglich selbst, ob den Soldaten pünktlich geliefert würde, was ihnen zukam. Den ganzen Winter von 1854 zu 1855 blieb er unausgesetzt in dieser Thätigkeit und organisirte die Armee neu für den kommenden neuen Feldzug, obgleich er selbst in Constantinopel fortwährend auf Hindernisse stieß.

Gleichzeitig beschäftigte er sich mit den englischen Offizieren, Oberst Lake, Major Teesdal und Kapitain Thomson, die Höhen um Kars her zu befestigen, die unbedeutenden Vertheidigungswerke der Stadt zu verstärken und dieselben in den Stand zu setzen, eine Belagerung durch den russischen General Murawiew auszuhalten.

Das Kastell von Kars, sagt der schon erwähnte Stabsarzt Dr. Sandwith, der die „Geschichte der Belagerung von Kars“ (Braunschweig, Vieweg) geschrieben hat, ist ein sehr malerisches Bild einer mittelalterlichen Zwingburg. Auf einem steilen Felsen erbaut, der sich jählings am Eingange einer tiefen Schlucht erhebt, beherrscht es die ganze Stadt, und seine alten grauen Mauern scheinen mit den Klippen und Granitblöcken, auf denen es steht, eins zu sein. Am Fuße seiner felsigen Grundfeste stürzt der Kars-Tschai, ein Bergstrom, überwölbt von einer uralten steinernen Brücke, in seinem Kieselbette dahin. Ein seltsamer, kreisförmiger Thurm steht dicht neben dem Kastell, und schöne Ueberreste persischer Architektur erheben sich mitten unter den Lehmhütten der Stadt. Die Straßen sind eng und schmutzig, die Einwohner in ihrer äußern Erscheinung unsauber, und die Hauptbeschäftigung der Weiber scheint die Anfertigung von Feuermaterial aus getrocknetem Kuhmist zu sein, dessen kuchenartige Stücke an den Wänden jedes Hauses aufgeschichtet sind.

Dies war der Mittelpunkt des Schauplatzes, auf welchem das blutige Kriegsdrama aufgeführt werden sollte, und den Lesern ist noch in frischer Erinnerung, mit welchem ungeheuern Verluste am 29. September 1855 der Sturm der Russen abgeschlagen wurde. Der Hunger indeß konnte nicht abgeschlagen werden, die Hülfe, welche die tapfern Vertheidiger erwarteten, erschien nicht, wohl aber rückte der Winter mit aller Strenge heran. Da sah sich Williams genöthigt, mit dem russischen General Murawiew wegen Uebergabe der Festung zu unterhandeln. Am 25. Novbr. erschien er selbst bei seinem Gegner und sagte ihm, noch habe sich die Festung nicht übergeben und sie werde es nicht ohne gewisse Bedingungen. „Wenn Sie diese nicht bewilligen, soll jede Kanone gesprengt, jede Standarte verbrannt, jede Trophäe vernichtet werden, und Sie mögen dann über die ausgehungerte Stadt nach Belieben verfügen.“ – „General,“ antwortete Murawiew, „Sie haben sich einen Namen gemacht in der Geschichte, und die Nachwelt wird staunen über die Ausdauer, den Muth und die Disciplin, welche diese Belagerung bei den Ueberresten Ihrer Armee hervorgerufen hat. Lassen Sie uns eine Kapitulation aufsetzen, welche den Anforderungen des Krieges genügt, ohne der Menschlichkeit Hohn zu sprechen.“

Es wurde eine für die Belagerten ehrenvolle Kapitulation geschlossen und Williams trat seine Rückreise nach der Heimath an, die sich zu einem wahren Triumphzuge gestaltete. Mit Jubel namentlich wurde er in England aufgenommen. Er erhielt überdies definitiv den Rang als General, wurde zum Baronet ernannt mit dem stolzen Namen Williams von Kars, sofort in das Parlament erwählt und durch zahllose Festessen gefeiert. Bei seinen Reden, die er dabei hielt, ist indeß aufgefallen, daß er mit einer wahren Begeisterung nicht blos von seinem Gegner, dem siebenzigjährigen General Murawiew, sondern von Rußland und dessen Zuständen überhaupt spricht. Er scheint, nach der Beendigung seiner Thätigkeit als General, sofort wieder Diplomat geworden zu sein.




Populäre Briefe über Musik.
Von J. C Lobe.
Vierter Brief. Das Lied in musikalischer Hinsicht.

Der Tonkunst, sagte ich am Ende des dritten Briefes, stehen weit reichere Mittel als der Dichtkunst zu Gebote, die mannigfaltigen Regungen des Gemüths hervorzurufen.

Sie wissen, daß eine Menge Erscheinungen der äußeren Welt und der inneren geistigen Natur des Menschen (seiner Gefühle und Vorstellungen) Ähnlichkeit oder Gleichheit (Analogie) mit einander haben. Den Sturm, der die Wellen des Meeres schäumend emportreibt, finden wir analogisch mit den Gemüthsbewegungen des in Wuth versetzten Menschen; eine ruhige Abendlandschaft vergleichen die Dichter wohl mit der friedlichen Stimmung der Seele u. s. w.

Viele analogische Erscheinungen werden aber nicht blos von unserem Geiste erkannt, sondern, wenn ihnen ein Gefühlselement inwohnt, auch von unserem Herzen mitempfunden. Wir fühlen Sympathie für, Antipathie gegen Menschen und Dinge, beides um so stärker, je mehr Wärmestoff unser Gemüth in sich birgt. Zwar gibt es Sterbliche, deren Inneres auf den Gefrierpunkt gesunken zu sein scheint, die für nichts mehr Theilnahme empfinden, die nichts lieben, nichts hassen können, kurz die dem Indifferentismus ganz verfallen sind; für solche blasirte Naturen ist auch alle Kunst nichts. Unter den Lesern und Leserinnen der Gartenlaube gibt es indessen kein einziges solch’ bedauerliches Individuum. Wir alle nehmen Theil an Anderer Leiden und Freuden; ja es gibt Viele unter uns, deren Antipathie beim Anblick eines unserem Nächsten angethanen Unrechtes, deren Sympathie beim Anblick eines unserem Nächsten widerfahrenen Glückes bis zum Siedepunkt gesteigert werden kann. Auf der Analogie, der Sympathie und Antipathie aber ruht die Hauptwirkungsfähigkeit aller Künste. Bei den meisten fällt das unbestreitbar in die Augen, bei Gemälden, z. B. bei dramatischen Vorstellungen u. s. w. Egmont’s Abführung zur Hinrichtung in der dramatischen Nachbildung durch Goethe, oder in der treuen Nachahmung auf der Leinwand des Malers, rührt uns ebenso, unter Umständen vielleicht stärker, als wenn wir dem grauenvollen Schauspiel in der Wirklichkeit zusehen.

Schwerer scheint die Nachahmung von Gefühlen durch Töne, sowohl herzustellen als zu erkennen und nachzuempfinden. Dennoch geschieht es, und sind die Ursachen davon anzugeben. Schon einzelne Laute liefern Fingerzeige dazu. Den Schrei des Entsetzens unterscheiden Sie sicher von dem Schrei des Entzückens, ohne die Menschen zu sehen, von denen jene Laute ausgestoßen werden. Das Gekreisch der Wuth werden Sie in keinem Falle für das Jauchzen der Lust nehmen. Da haben Sie den Urgrund, auf welchem die Nachahmungs- und Wirkungsfähigkeit der Töne beruht. Die Kunst hat darauf weiter gebaut, in jedem musikalischen Element Analogieen mit den Merkmalen der Gemüthserscheinungen entdeckt und zu benutzen verstanden. Nehmen Sie hierüber Notiz von den folgenden Andeutungen.

Erstens. Wenn der Mensch in Affekt geräth, so steigen und fallen seine Worte nach dem innerlich waltenden Gesetz der bezüglichen Regungen. Der unsichtbare Wogenwechsel gibt sich kund durch die hörbaren Wogen der Sprache. Dieses innere Wogenleben kann, wie Sie wissen, die Musik durch das Steigen und Fallen der Töne nachahmen, und die Singstimme vermag es in weit größerem Umfange als das Sprachorgan. Dieses wird in den allerleidenschaftlichsten Fällen kaum die Grenzen einer Oktave nach Oben oder Unten überschreiten dürfen, ohne in’s Gebiet des Skurrilen oder Lächerlichen zu gerathen; jene kann zwei, ja dritthalb Oktaven durchlaufen und durchspringen. Noch viel umfangreichere Tongebiete stehen den meisten Streich-, Tasten- und Blas-Instrumenten zu Gebote. Sie begreifen daher, daß die Hebungen und Senkungen des erregten Gemüths von den Tönen weit auffallender und nachdrücklicher als von der bloßen Sprachäußerung (Wortdeklamation) analogisirt werden können. Sie haben hiermit den Grund, warum die Töne der Musik überhaupt steigen und fallen.

Zweitens. Die inneren Regungen treiben den Menschen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 434. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_434.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)