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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

No. 11. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.


Was ist das Herz?


Was ist das Herz? – es ist ein Blumengarten,
Worinnen Rosenlauben blüh’n
Wo Engel still die schönen Blüthen warten,
Und Frühlingswolken durch den Himmel zieh’n;
Wo unser Vater weilt mit seinem Frieden –
O wäre Jedem solch ein Herz beschieden.

Was ist das Herz? – es ist ein Gotteshaus,
Worin ein Altar aufgerichtet stehet,
Und wo, entfloh’n dem wüsten Weltgebraus,
Die Seele still zu beten gehet.
Es ist dies Herz ein Ort zu Gottes Ruhm,
O Vater schütze stets dies stille Heiligthum.

Was ist das Herz? – es ist ein Winterfeld,
Weithin von Schnee und hartem Eis bedecket,
Ach eine ganze schöne, doch erstarrte Welt,
Die nimmer ja ein Erdenfrühling wecket;
Nur von dem Himmel muß ein Frühling sprechen,
Soll dieses Eis in diesem Herzen brechen.

Was ist das Herz? – es ist die todte Wüste
Mit keinem Thale, keinen goldnen Höh’n,
Ach eine endlos öde Küste,
Und nirgend ist ein grünes Blatt zu seh’n;
Es ist das kranke Herz nicht, nein das arme,
O bitten wir, daß Gott sich sein erbarme.

Was ist das Herz? – es ist die dunkle Höhle,
Wo Schlangen ringeln, die mit gift’gem Zahn
Der ruchlos flüchtenden gequälten Seele
Sich fort und fort und unaufhaltsam nah’n;
Es ist das Herz in seinen höchsten Nöthen,
O möchte Gott ihm diese Schlangen tödten.

Doch Sterbliche, euch Allen ist gegeben,
In jedes Willen hat es Gott gestellt,
Zu schaffen sich nach freier Wahl das Leben,
Ob dunkel, ob von Gott erhellt –
Ja, Jeder baut sich selbst des Herzens Zelle,
Ein Paradies der Eine, der Andre eine Hölle.
  F. Stolle.




Der Diebstahl aus Liebe.
Eine Assisengeschichte von Feodor Wehl.

Zu B. am Rheine lebte vor einigen Jahren eine Majorin von Gl…n mit ihrer Tochter, einer jungen Dame von ausgezeichneter Schönheit und vielem Geist. Die Mutter, die ihren Gatten früh verloren und schon von Natur energischen und resoluten Wesens war, hatte diese Eigenschaften in ihrer langen Wittwenschaft noch weiter auszubilden mehr als hinreichend Gelegenheit gefunden. Die Erziehung der Tochter, das Verwalten eines bedeutenden Vermögens, einige Erbschaftsprozesse und die Jahre lange Beaufsichtigung und Leitung weitläuftiger Besitzungen erforderten, wie sich von selbst versteht, nicht nur eine große Umsicht, Wachsamkeit und Weltklugheit, sondern auch geradezu Muth, Entschlossenheit und Thatkraft, Dinge, die alle noch in gesteigertem Grade nöthig wurden, als die Tochter zur Jungfrau herangewachsen, nun doch in die Welt und unter Leute gebracht werden mußte, um wo möglich eine sogenannte angemessene und gute Parthie zu machen.

Von dieser Zeit ab waren nun nicht nur die Güter aus der Entfernung in gehöriger Obacht zu behalten, die Gelder gut zu verwerthen und an glücklichen Spekulationen zu betheiligen, sondern es kam nun auch noch die Nothwendigkeit dazu, ein dem Rang und Ansehen der Familie entsprechendes Haus zu machen, Gesellschaften zu geben, Bewerber um die Hand der Tochter zu ermuthigen oder abzuweisen, und die Letztere selbst dabei so gut im Auge und am Lenkseil zu behalten, daß eine zu mißbilligende oder den Verhältnissen nicht zusagende Wahl ihres Herzens unmöglich wurde.

Unter solchen Umständen hatte die Majorin von Gl…n nun schon in Berlin, Dresden, Wien und andern Orten gelebt, alle diese Plätze aber, wie es hieß, wieder aufgegeben, weil sie befürchtete, im Innern ihrer Tochter Spuren einer Neigung entdeckt zu haben, die sie überzeugt gewesen schien, nicht billigen zu dürfen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_141.jpg&oldid=- (Version vom 25.10.2020)