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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Der tapfere Geistliche, Parabère mit Namen, blieb indeß nicht zurück, denn er hielt es für seine Pflicht, mitten in der Schlacht, in der Nähe der Verwundeten und Sterbenden zu sein, um ihnen sogleich Trost bringen zu können. Wie sollte er indeß zu Fuß die steile Anhöhe hinaufkommen? Während er noch nachdachte, wie er das wohl anfange, wurde eine Kanone rasch vorüber gefahren. Ohne sich lange zu besinnen, setzte er sich auf das Geschütz und forderte die Artilleristen auf, ihren Weg fortzusetzen, ohne sich um ihn zu bekümmern. Auf dieser Kanone gelangte er auf die Höhe hinauf und in den Kugelregen auf die bluthgetränkte Fläche, wo er nur zu viel Gelegenheit fand, sein Amt zu üben: Verwundeten Trost zuzusprechen und Sterbenden die letzte Segnung der Religion zu ertheilen.

Der dritte Griff in meine Mappe entführt uns der Krim und versetzt uns nach Pera, den verwundeten General Thomas zeigend.

General Thomas, der in der Schlacht an der Alma verwundet worden war, wurde mit anderen Verwundeten zur Pflege nach Constantinopel gebracht. Durch die lange Straße von Pera wurde er auf einer Bahre von Matrosen getragen. Alle, die in der Straße sich befanden, blieben stehen, entblößten ihr Haupt oder verbeugten sich, um dem verwundeten Tapfern ihre achtungsvolle Theilnahme zu bezeugen, wie an jedem Posten die Wache heraus trat und präsentirte. Thomas erhob sich dann ein wenig auf seiner Bahre und nickte mit dem Kopfe den Dank, den er durch Worte und Handbewegungen nicht auszudrücken vermochte.




Ein thüringisches Volksfest.

Auf der Heimkehr aus Belgien und Frankreich führte uns der Weg durch die alte Bergstadt Saalfeld, dicht am Fuß des thüringer Waldes gelegen, dessen Berge kaum eine halbe Stunde von der Stadt entfernt, ihre grünen Häupter erheben. Es war am späten Herbstabend, als wir in dem Städtchen anlangten und Erschöpfung von der Reise und Müdigkeit ließen uns trotz des regen Lebens, welches noch im Gasthof herrschte, sogleich den Schlummer suchen.

Der Tag fing an zu grauen als wir durch Hörnerklang und Trommelschall aus dem unruhigen Schlaf, den man stets hat, wenn man an nicht gewohnter Stätte zum ersten Male schläft, aufgeweckt wurden. Der Gedanke, daß dies Feuerlärm sei, brachte uns schnell aus dem Bett und an’s Fenster, von wo aus wir den ganzen Marktplatz übersehen, zu unserm Erstaunen aber nichts bemerken konnten, als eine Musikbande, welche in größter Ruhe und Gemächlichkeit rings um den Marktplatz marschirte, sich dann vor dem alten Rathhaus aufstellte und aus ihren Blechinstrumenten allerlei lustige Weisen und Märsche in die frische Morgenluft hinausschmetterte. Nach einer kleinen Weile wurde die Musik durch Generalmarsch wirbelnde Trommelschläger, die aus den Seitengassen hervorkamen, unterbrochen, und zugleich strömte aus allen Gassen und Gäßchen allerlei Volks, Männer, Frauen, Mädchen, Kinder, die ersteren fast sämmtlich mit Flinten und Büchsen jeden Kalibers bewaffnet, auf dem Marktplatz zusammen. Wenn man nicht dicht vor sich das ehrwürdige, altdeutsche Rathhaus mit seinen hervorspringenden Erkern, gothischen Fenstern und spitzen Thürmchen und die grün-weißen Cocarden an den Helmen einiger sächsisch-meining’schen Feldjäger, welche im Gedränge hier und da sichtbar wurden, gesehen, so hätte man glauben mögen, man wäre in einer amerikanischen Pflanzstadt des Westens, und aus den dunklen Waldbergen, die sich um die Stadt ziehen, wären die Rothhäute hervorgebrochen, lüstern nach dem Feuerwasser und dem Scalp der weißen Männer.

Rasch kleideten wir uns nun an und eilten hinab auf den Marktplatz, auf welchem eben zwei geordnete Züge, voran Musikchöre und junge Männer in schwarzer Kleidung, grün-weißen Schärpen und Säbeln, denen sich wieder mit Flinten Bewaffnete angeschlossen, erschienen. Dieser feierliche Habitus erregte nur noch mehr unsere Neugierde, und wir wendeten uns an einen der Umstehenden, der auf ein langes französisches Infanteriegewehr mit Feuerschloß, gelehnt, gemüthlich seine kurze ulmer Pfeife rauchte, mit der Frage, was denn das Alles bedeute? Den Mann mochte jedenfalls unsere Unwissenheit befremden, denn er zeigte ein sehr verwundertes Gesicht und sprach, nachdem er sich von seinem Erstaunen erholt, indem er mit seiner kurzen Pfeife über die Menge wies: „Dös ist Flurumzug.“ Wir hatten keine Zeit, eine nähere Erklärung zu verlangen, denn Trommelwirbel und rauschende Fanfaren, die einem aus dem Rathhaus herauskommenden Zug, in dessen Mitte sich mächtig wehende Fahnen mit den Farben und Wappen der Stadt und des Landes und weiß gekleidete Mädchen, an der Spitze aber der Bürgermeister und die übrigen Väter der Stadt befanden, begrüßten – schnitten jede Erörterung ab. Nachdem sich der Zug gruppirt, trat eins der weißgekleideten Mädchen, mit jenem bekannten blonden thüringischen Gesichtstypus, hervor und überreicht einem ebenso blonden jungen Mann mit einigen uns unverständlichen Worten eine roth-goldene Fahne, worauf dreimaliger Tusch und Abmarsch der ganzen Versammlung; voran Musik, dann Fahnen mit Ehrenwachen, Magistrat, Weiber, Kinder, mit Flinten und Büchsen bewaffnete Männer, die Schulen mit ihren Lehrern, Bier-, Wurst-, Schnaps-Marketenderinnen, Alles bunt durcheinander. Noch ehe der Zug das Stadtthor erreicht hatte, attachirten wir uns einem gravitätisch hinter dem Zug einher wandelnden Bürger von mehr als behäbigem Aussehen, dem sein colossaler Körperumfang es höchst wahrscheinlich unmöglich machte, eine Muskete zu schleppen und in der Colonne mit zu marschiren mit der festen Absicht, ihn nicht eher wieder loszulassen, als bis wir wüßten, was hier vor sich ginge. Der Mann wischte sich erst mit dem blau und weißgewürfelten Taschentuch den perlenden Schweiß, der ihm trotz des frischen Herbstmorgens auf die Stirn getreten, ab und antwortete dann in einigen Absätzen:

„Ja, sehen Sie, bester Herre, dös ist der Flurumzug, und den halten wir alle zehn Jahre, und da gehen wir um’s Stadtweichbild und sehen nach, ob die Grenzstein’ noch alle auf dem rechten Fleck stehen, und da zieht Alles mit was nur Bein’ hat, und nun passen’s auf, nun werden Sie sehen, was geschehen thut.“

In dem Augenblick, wir waren während des Gesprächs vor das Thor hinaus in die freie Stadtmarkung gelangt, verging uns aber nicht nur das Sehen, sondern auch das Hören, denn aus mehr als ein Paar hundert Flinten krachte eine Salve, die das Echo in den hohen, steilen Sandbergen an der Saale tausendfach zurückdröhnte. Trommel- und Trompetenschall klang dazwischen und eine dichte Menschenmenge versammelte sich um einen Grenzstein, den ersten des Weichbildes, auf welchen der Zug nach seinem Austritt aus der Stadt gestoßen. Rechtzeitig gelangten wir noch durch’s Gedrängte in den Mittelpunkt des Kreises, wo der Magistrat, umgeben von Fahnenträgern, Musikchören und einer Masse Volkes stand und der Stadtschreiber eben eine Urkunde verlas, durch welche dargethan wurde, daß besagter Grenzstein, ein Grenzstein des städtischen Weichbildes sei und sich Jeder dies merken möge zum ewigen Gedächtniß, wobei er schließlich aus der Menge auf gerade Wohl einen funfzehn- bis sechzehnjährigen Buben an den kurzgeschnittenen, semmelblonden Haaren ergriff und ihn kräftig abschüttelnd, eine dreimalige kräuselförmige Bewegung um den Markstein machen ließ und ihn dadurch gewissermaßen zum testis in memoriam perpetuam stempelte. Dem Burschen, der auf so eigenthümliche Stärkung seines Gedächtnisses höchst wahrscheinlich nicht vorbereitet war, traten vor Erstaunen oder auch vor Stolz über die ihm widerfahrene Ehre die Augen, wie einem nürnberger Nußknacker, aus den Höhlen, und mit weitgeöffnetem Munde schaute er bald den Stadtschreiber, bald den Grenzstein und sich selbst an. Noch lange sahen wir ihn in tiefe Gedanken versunken auf dem selben Stückchen Erde, wo mit ihm die merkwürdige Ceremonie vorgenommen, stehen, als sich der Zug schon längst wieder in Bewegung gesetzt. Jetzt löste sich indessen die Ordnung der Prozession auf und Alles gruppirte sich willkürlich, mit Ausnahme einer kleinen Schaar, die den Magistrat umgab. Im Nu waren die Gebirgskämme und die buschigten Ufer der Saale mit zahlreichen Trupps bedeckt, die nach allen Richtungen hin ein lustig knatterndes Gewehrfeuer eröffneten. Aus jedem Busch, hinter jedem Felsenabhang hervor blitzte und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_054.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)