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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Ein Besuch im großen Schuldgefängniß zu London.

Es ist merkwürdig, daß ich wegen der Expedition nach der Krim auf die „Bank der Königin“ (wie man Queen’s Bench wörtlich übersetzen müßte), in’s große londoner Schuldgefängniß kam, freilich, Gott sei Dank, weder als Schuldner, noch als Gläubiger, sondern nur als neugieriger Besucher und als Freund eines Lordssohnes, der vom Papa jährlich blos 6000 Pfund (über 40,000 Thaler) Taschengeld bekam und sich daher genöthigt gesehen hatte, jedes Jahr noch zwischen 10 und 20,000 Thaler Schulden zu machen. Also wir wanderten eines schönen londoner November-Nachmittags, d. h. durch eben so dicken Nebel um uns, als Schmutz unter uns, durch das übliche Gedränge und betäubende Rasseln und Knattern von Menschen und Wagen vermittelst der Waterloobrücke über die Themse hinüber und hinunter in das jenseitige oder Surrey-London, wo Alles noch viel rauchiger und schmieriger, noch viel arbeits- und fabrikgrauer, noch viel sorgenvoller und emsiger aussieht, als in dem London diesseits der Themse. Hinunter die lange breite Waterloostraße vor Eisenbahnhöfen, zwei Theatern vorbei mit einem „Magdalenenstift" in der Mitte bis zum Obelisken und der Blindenanstalt hinunter, von wo wir neulich schon einmal eine Expedition links ab nach Bedlam machten. Diesmal wenden wir uns rechts nach dem von fünf Straßen gebildeten großen Vieleck, in dessen Mitte sich das größte Hotel Londons, dieses Schuldgefängniß, wie ein Schloß erhebt mit einem großen luftigen Spielplatze, groß genug, um ein Regiment Soldaten darin exerciren zu lassen. Die einfache Antwort auf die einfache Frage, wen wir besuchen wollten, verschaffte uns ohne alle Schwierigkeiten Eintritt durch das große eiserne Thor in den großen luftigen Vorhof. Ueber 1000 anständige Fenster blickten ganz harmlos, als kennten sie keine Sorge hinter ihren Scheiben, auf eine Menge spielende und lärmende Gruppen herab. Sie spielten Cricket und Rocket (mit Bällen und Keulen) und thaten dabei so ausgelassen, als wären sie Gymnasiasten oder Studenten in Freistunden, freilich die dicken Bäuche und Backenbärte, die verschmitzten Gesichter, aus deren Physiognomieen die Ströme und Stürme und Zuckungen und Leidenschaften des modernen Geschäftslebens die ächte Schminke der Jugend und ihrer freudig pulsirenden Psyche weggeleckt und verwaschen und hier und da mit häßlichen Furchen durchwühlt hatten, das ehrliche und tragische Unglück, das fest auf den Stirnen einzelner, einsam hin- und herwandernder Spaziergänger saß, eifrige Zwiegespräche in diesem und jenem Winkel, stilles Brüten und in die Luft starren, um darin Mittel und Moneten ausfindig zu machen, weinende Weiber und Kinder, die immer wieder umkehrten, um noch einmal und noch einmal Abschied zu nehmen, eifrig herbeieilende Boten, deren Evangelien schmerzliche oder wüthende Convulsionen auf den Gesichtern hervorriefen – dies Alles erzählte ausführlich und deutlich genug, daß hier die Freude und die Hoffnung und das Glück nur Gäste waren und sich vor Thorschluß entfernen mußten, wie wir. Uebrigens behielt ich nicht viel Zeit, weitere Studien unter den etwa 1500 Bewohnern dieses Hotels (das nur noch etwa 300 Zimmer zu vermiethen hatte, während früher oft über die Hälfte leer standen) zu machen, da ich bald unserm neuen Freunde, dem Lordssohne vorgestellt ward und dieser uns durch seinen gefangenen Löwengrimm und seine gastronomischen Vorstellungen, Weine verschiedener Art, Geflügel, Pasteten, Eingemachtes, Gebratenes, Geräuchertes, Geschmortes und Gebackenes aller Art ausschließlich in Anspruch nahm.

Um hier gleich von vorn herein einem Vorwurfe zu begegnen, als wollt’ ich mit der Freundschaft eines Lords leuchten, versichere ich, daß darin gar nichts Schmeichelhaftes für mich liegt. Ich weiß es, daß ich, wie drei Viertel der übrigen Menschheit in den Augen meines hochgebornen Freundes wohl kaum als ein überhaupt nur Geborner, geschweige als ein Ebenbürtiger angesehen werde. Der junge Lord wollte überhaupt nur Leute um sich sehen, um nicht gegen die leeren Wände zu toben und nicht allein zu essen und zu trinken. Die „Ebenbürtigen“ waren alle weit fort und liegen theils elendiglich verwundet oder begraben bei Varna, Balaklava und Scutari. So war es mehr ein Zufall, daß ein Engländer, den ich übrigens im Verdacht habe, daß er dem jungen Lord nicht einmal umsonst Freunde zuschleppt, mich einlud, dem gefangenen Löwen die Zeit vertreiben zu helfen. Ich wußte, daß dies keine ehrenvolle Rolle ist, ging aber doch mit, theils um das berühmte Hotel einmal anzusehen, theils einen gefangenen deutschen Bekannten aufzusuchen.

Und dann hat ja der schuldgefangene Sebastopolstürmer auch so etwas Charakteristisches und Romantisches in seiner Lage. Man bedenke nur, daß ihn sein eigener, leiblicher, im Oberhause sitzender Vater in’s Schuldgefängniß sperren ließ, freilich nicht um schnöder Geldforderungen willen (da er zuletzt immer die Extraläpperschulden des Sohnes von 10–20,000 Thalern jährlich bezahlt), sondern als zärtlichster der Väter, der den jungen Löwen nicht dem Kampfe der „westlichen Civilisation“ geopfert wissen wollte. Der junge Lord (ein zweiter Sohn, denen man in der Regel gute Offizierstellen kauft, um sie für den Mangel der erbenden Erstgeburt zu entschädigen) hatte die ingrimmigste Begeisterung für den Krieg gegen Rußland verrathen, und da er, wie ich selbst sah, auch gefangen sich als den rücksichtslosesten, edeln Hitzkopf zeigte, konnte ich mir seinen tragikomischen Fall und die väterliche Barbarei aus Liebe sehr gut erklären. „Der Junge läuft mir in die erste russische Kanone, die er zu sehen bekommt,“ hatte der alte Lord gesagt und sich vergebens bemüht, ihn zum Verkaufe seiner Offizierstelle zu überreden. Im Gegentheil hatte diese Zumuthung das edele, kriegerische Feuer in dem jungen, nobeln Hitzkopfe noch mehr aufgeblasen, sodaß Vater, Mutter und Geschwister ihn schon im Voraus als Todten beweinten. Da half nun nichts, es mußten Mittel gefunden werden, das Leben des zärtlich geliebten, schönen Wildfangs zu retten. Und so fand sich der Orient, der ihm den Tod drohte, umgekehrt, dem Sohne westlicher Civilisation das Leben zu sichern. Der alte Lord war nämlich zu einem reichen Juden gegangen, der geschäftlich als Freund in der Noth reichen Jungen bekannt war.

„Wie viel ist Ihnen mein Sohn schuldig?“ –

„O, ’ne Kleinigkeit, blos 5000 Pfund, der Herr Sohn haben Credit bei mir auf 10,000 Pfund.“

„Das ist Thorheit. Ich bezahle keinen Forthing mehr für ihn. Suchen Sie zunächst nur Ihre 5000 Pfund zu bekommen, denn da er mit nach der Krim geht und in seiner Hitze sich jedenfalls todtschießen läßt, werden Sie Vorsicht nöthig haben.“

„Was soll ich thun gegen so ’n einflußreichen jungen Offizier?“ –

„Sie lassen ihn ohne Weiteres arretiren, wozu Sie ohne Umstände berechtigt sind, da mein Sohn erwiesener Maßen im Begriff ist, das Land zu verlassen. Die Kosten des Verhaftsbefehles und der sonstigen Proceduren werd’ ich tragen.“ –

Und kurz und gut, so ließ der Vater seinen Sohn einsperren und so saß er mit uns an einer wohlgefüllten Tafel und aß und trank und schimpfte und tobte über die Liebe seines Vaters zu ihm und die Liebe Aberdeen’s zu Rußland und über den von Varna her verpfuschten Feldzug und über die entehrenden Beschränkungen, denen er hier, wie jeder andere gemeine Sterbliche unterworfen sei, und dabei goß er ein Glas starken Portwein nach dem andern hinunter, und hieb mit einer wahren Wuth ein Stück Fleisch nach dem andern von einer mächtigen Rindskeule ab, als bestände jede Faser aus einem Russen, und dabei war er im Grunde doch ganz glücklich über die List, mit welcher es ihm vermittelst seines Dieners gelungen war, die halbe Flasche Wein, die jedem Bewohner des Schuldgefängnisses täglich gestattet war, oft auf 10 Flaschen zu erhöhen, und glücklich über uns, daß wir ihm nur zuhörten und ihn der Qual überhoben, allein zu fluchen und dazu zu essen und zu trinken.

Das Gesetz, welches die spirituösen Erquickungen für jeden Bewohner auf das Maximum einer halben Flasche Wein täglich herabsetzt, ist noch neu. Früher war das Schuldgefängniß oft nichts Besseres, als eine Liederlichkeits-, Trink- und Spielherberge. Kartenspiel ist streng verboten, eben so der Besuch von Damen über Nacht. Daß alle diese Gesetze in der Regel, wenigstens in allen Fällen, wo Geld genug dahinter steckt, übertreten werden, versteht sich von selbst. Die Strafe besteht nach jeder erwiesenen Uebertretung in Einsperrung in den „strong room“ (wörtlich:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_006.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)